Autor Thema: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme  (Gelesen 56127 mal)

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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #165 am: 10. September 2019, 10:13:40 »
Durch Zeitablauf wird sich das Problem nicht von alleine lösen.

https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/ueberraschende-studie-von-jugendforschern-nachwendegeneration-spuert-noch-immer-kluft-zwischen-ost-und-west/24997236.html

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Zitat
Überraschende Studie von Jugendforschern
Nachwendegeneration spürt noch immer Kluft zwischen Ost und West

Mehr Geld, mehr Jobs: Junge Menschen aus Ostdeutschland schätzen ihre Chancen im Westen weiter höher ein als daheim. Dabei würden sie gerne im Osten bleiben. Von Carla Neuhaus

Als die Mauer fiel, waren sie noch nicht geboren. Die heute 15- bis 24-Jährigen sind im wiedervereinigten Deutschland aufgewachsen – aber spüren noch immer die wirtschaftliche Kluft zwischen Ost und West. In Ostdeutschland schätzen 42 Prozent der jungen Menschen ihre Zukunftsperspektiven als ungünstig ein, während das im Westen gerade einmal auf 19 Prozent zutrifft. Das zeigt eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach (IfD) und der Hertie School of Governance im Auftrag von McDonalds.

Für die Untersuchung haben Experten um den Berliner Jugendforscher Klaus Hurrelmann rund 1600 der 15- bis 24-Jährigen befragt. Neben den allgemeinen Sorgen und Ängsten der jungen Generation haben sie dabei erstmals auch untersucht, wie sich die gesellschaftlichen und beruflichen Erfahrungen der jungen Menschen im Osten und Westen unterscheiden. Dass die Diskrepanz so groß ausfällt, hätten die Jugendforscher allerdings selbst nicht erwartet. „Die Unterschiede sind frappierend“, schreiben sie. „Ein solches Urteil aus dem Mund einer jungen Generation gibt zu denken.“

Der Untersuchung zufolge sprechen aus der Sicht der Nachwuchskräfte nahezu alle Faktoren, die die Arbeitswelt betreffen, für Westdeutschland. Fast 70 Prozent glauben zum Beispiel, dort mehr verdienen zu können. 63 Prozent gehen davon aus, dass das Angebot an Arbeitsplätzen im Westen höher ist als im Osten. Und 54 Prozent vermuten die interessanten Unternehmen eher in West- als in Ostdeutschland. Umgekehrt spricht dagegen aus Sicht der Jugendlichen kaum etwas für Ostdeutschland. Lediglich beim bezahlbaren Wohnraum und bei der Kinderbetreuung sieht die junge Generation den Osten derzeit vorne.

Dabei nehmen die Nachwuchskräfte aus Ostdeutschland die Kluft sehr viel stärker wahr als ihre Altersgenossen aus Westdeutschland. Während im Westen nur 44 Prozent glauben, dass sich die Lebensverhältnisse noch unterscheiden, sagt das im Osten mehr als die Hälfte der 15- bis 24-Jährigen.

Ein Drittel verlässt den Osten für den Job

Ganz offensichtlich ist es Wirtschaft und Politik bisher nicht gelungen, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland geforderten gleichartigen Lebensverhältnisse in allen Regionen herzustellen“, schreiben die Autoren. So kommt es, dass viele junge Menschen den Osten verlassen. Während in Westdeutschland gerade einmal 19 Prozent für den Job, die Ausbildung oder das Studium in eine andere Region umziehen, trifft das im Osten auf ein Drittel der Nachwuchskräfte zu. Auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung verlassen junge Menschen also den Osten, um im Westen ihr Glück zu suchen.

Dabei zeigt die Studie auch: Sie tun das in der Regel nur, weil sie in ihrer Heimat keine gute Perspektive für sich sehen. Denn viele junge Menschen würden durchaus gerne im Osten bleiben, wenn ihre Zukunftschancen dort ähnlich gut wären wie im Westen. Bundesweit sind die 15- bis 24-Jährigen nämlich tendenziell heimatverbunden. Auch im Osten sagen knapp 60 Prozent, sie würden gerne in ihrer Heimatregion wohnen bleiben, wenn es die äußeren Umstände erlauben würden.

Die Abwanderung hat Folgen für die Wirtschaft

Jugendforscher Hurrelmann hält das für eine bedenkliche Entwicklung, die sich selbst verstärkt. Denn je mehr junge Menschen Ostdeutschland verlassen, desto mehr büßt die Region an Attraktivität ein. Auf diesen Teufelskreis hat kürzlich auch das Ifo-Institut hingewiesen, das 136 Ökonomen zur Lage in Ost und West befragt hat. Fast 70 Prozent von ihnen glauben demnach, dass sich der Osten auf absehbare Zeit wirtschaftlich nicht annähern wird. Begründet haben sie das eben damit: Weil zu viele junge Menschen abwandern, fehlen den Firmen die Fachkräfte - mit der Folge, dass sich erst gar nicht so viele Unternehmen im Osten Deutschlands ansiedeln.

Und das ist nur eine Folge dieser Entwicklung. D+azu kommt, dass sich das Gefühl, in einer wirtschaftlich schwächeren Gegend zu leben, auch in den politischen Haltungen und in den Ängsten der jungen Generation widerspiegelt. So machen sich die unter 25-Jährigen in Ostdeutschland zum Beispiel überdurchschnittlich Sorgen, dass der Islam in Deutschland an Einfluss gewinnt oder dass Deutschland in einen Krieg hineingezogen werden könnte. Auch fürchten sie eine Zunahme von Gewalt und Kriminalität. In Westdeutschland sind dagegen die Sorgen um den Klimawandel, einen möglichen Wirtschaftsabschwung oder die Zunahme nationalistischer Strömungen stärker ausgeprägt.

Doch auch wenn für junge Menschen in Ost- und Westdeutschland unterschiedliche Themen im Vordergrund stehen: So eint sie doch das Misstrauen gegenüber der Bundesregierung. Bundesweit meinen inzwischen fast 60 Prozent, dass die Politik die Interessen ihrer Generation nicht mehr ausreichend vertritt. Im Vergleich zu der Befragung vor zwei Jahren ist das ein deutlicher Anstieg: Damals lag der Anteil der politisch Unzufriedenen noch bei knapp unter 50 Prozent.
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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #166 am: 10. September 2019, 10:16:14 »
Eigentlich klar, wenn man es ständig gesagt bekommt und selber nachrechnen kann.
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Offline A.R.Schkrampe

Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #167 am: 10. September 2019, 10:37:09 »
Es ist nicht zu erwarten, daß sich das Problem überhaupt jemals lösen lassen wird.
Allein deswegen nicht, weil die Großkonzerne und die gesamte Finanzindustrie -also die Firmen, die nach Tarif und oftmals darüber hinaus zahlen- im Westen sitzen
- und nicht zu erwarten ist, daß sich daran jemals etwas ändert.

Behörden und Beamte können aufgrund politischer Anordnungen verlegt, bzw. versetzt werden, Privatunternehmen nicht.

Um mit einer typischen Lebenslüge des Ostens aufzuräumen:
daran ist nicht die böse Treuhand schuld  - sondern 45 Jahre Sozialismus.
Ab 1945 haben die Russen Groß- und Finanzkonzerne zerschlagen und -nicht selten mitsamt der Belegschaft- in den Westen vertrieben, nach 1949 hat die SED immer weiter runter verstaatlicht, bis nach der letzten Aktion 1972, als GmbH-en verboten wurden, nur Miniklitschen mit maximal 10 Beschäftigten übrig blieben.
 
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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #168 am: 11. September 2019, 10:38:54 »
Es ist nun zwar nicht so, daß die DDR Zeit ihrer Existenz ein reines Agrarland geblieben wäre, aber wenn man heute in den Osten kommt, könnte man das durchaus glauben. Ich kann da @A.R.Schkrampe insofern nur zum Teil Recht geben, als die Treuhand an der grassierenden Deindustrialisierung nicht ganz unbeteiligt war.

Aber auch im Westen gibt es die interessanteren Jobs nicht nur bei BMW, Porsche und Volkswagen (die ja auch im Osten sind), sondern im Mittelstand, im Dienstleistungsgewerbe und bei Freiberuflern. Und da muß man sagen, daß die Umgangsformen zwischen Chef und Belegschaft im Westen meist andere, weil über Jahrzehnte gewachsen sind, wogegen man sich im Osten häufig für gar nichts schämen muß. Schließlich schicken einem die Jobcenter immer wieder neue Leute ins Haus ...

"Keine Zukunftschancen" heißt also mitunter auch, daß man in solchen Unternehmen nicht arbeiten will und Schwierigkeiten hat, Alternativen zu finden.
 
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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #169 am: 11. September 2019, 18:18:13 »
https://www.berliner-zeitung.de/kultur/soziologe-steffen-mau--es-hat-sich-im-osten-eine-schiefstellung-entwickelt--33128294?utm_source=pocket-newtab

Soziologe Steffen Mau "Es hat sich im Osten eine Schiefstellung entwickelt"

Gutes Interview.
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Die DDR hat etwas einmaliges geschafft: Sie hat eine (Re-)Industrialisierung nach dem Krieg trotz erdrückender Reparationen an die SU geschafft. Ganze "Konzerne" haben nur für den Bruder gearbeitet und trotzdem ist der Lebensstandard bis in die 70iger Jahre hinein gestiegen, in Teilen so wie im Westen zur gleichen Zeit. Gerade in den gut 20 Jahren war man richtig innovativ, nur dann ging es abwärts. Wo westdeutsche Unternehmen gerade auch durch die Krisen zur Innovation gezwungen wurden und kleine/mittlere Unternehmen eh flexibler waren, verpasste man in der Planwirtschaft die kontinuierliche Weiterentwicklung. Investitionen in neue Ideen wurden abgelehnt, technologische Zukäufe im Ausland (IT) waren streng limitiert. Die "Erlösung" wurde zu spät begonnen (Hochtechnologieprogramm ab den späten 70igern, welches die Grundlage für das heutige saxony valley gelegt hat).

Die Treuhand hat dann lediglich vollendet, was in vielen Betrieben seit Mitte der 80iger klar war. Vielfach war eine erfolgsversprechende Produktion nicht mehr möglich, widersprüchliche Planziele und unzureichende Mittelzuweisungen waren allseits bekannt. Das dies auf dem "freien Markt" zu Problemen führt war klar, schon die DDR hat bewusst Teile ihrer Produktion über Versandkataloge im Westen "gedumpt", nur um harte Devisen zu bekommen. Intern hat man das mit Alu-Chips ausgeglichen. Das wirklich perverse war, dass es nicht etwa an Vorschlägen, Erfindungen und klugen Köpfen gemangelt hat, sondern an Entfaltungsmöglichkeiten derselben.
 
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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #170 am: 13. September 2019, 23:38:09 »
https://www.tagesspiegel.de/politik/gemeinderat-in-sachsen-gruenen-politiker-bildet-mit-afd-gemeinsame-fraktion/25011982.html

Zitat
Die Grünen in Sachsen sind über die Kooperation eines ihrer Kommunalpolitiker mit der AfD empört. Der parteilose Grünen-Gemeinderat Uwe Börner aus der Gemeinde Gohrisch (Sächsische Schweiz) hatte mit zwei Gemeinderäten von CDU und AfD eine Fraktion gebildet, wie die „Sächsische Zeitung“ berichtete.
...
 
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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #171 am: 26. September 2019, 22:47:17 »
https://www.deutschlandfunk.de/altbundespraesident-joachim-gauck-demokraten-muessen-agieren.1295.de.html?dram:article_id=459622

Spoiler
...
Wentzien: Und aus dem Jahr 2017 stammt ein Wort von Ihnen – und zwar zum Ende der Amtszeit am 18. Januar in Berlin gesprochen: Die entscheidende Trennlinie in unserer Demokratie verläuft nicht zwischen Alteingesessenen und Neubürgern, auch nicht zwischen Christen, Muslimen, Juden und Atheisten, die entscheidende Trennlinie verläuft zwischen Demokraten und Nicht-Demokraten. Es zählt nicht die Herkunft, es zählt die Haltung. Ist die Linie 2019 noch die Linie, die Sie 2017 beschrieben haben?

Gauck: Aber selbstverständlich, die werde ich niemals verlassen, weil sie aus zwei Richtungen mir geboten erscheint: aus der Richtung meiner Lebenserfahrung und aus dem aufklärerischen Denken her. Die Aufklärung macht keinen Unterschied zwischen der Herkunft von Menschen, sondern sie hat uns gelehrt, dass allen Menschen die gleiche Würde zukommt und somit die gleichen Rechte. Eine Parzellierung von Menschenrechten oder eine Zuteilung oder eine Definition der Menschenrechte, als sei das eine westliche Kreation zu Ungunsten anderer, das ist eine törichte Auffassung, die ich niemals teilen werde. Und wenn wir jetzt so ein bisschen Retrotendenzen in der Politik haben, dass einigen Leuten die offene Gesellschaft zu problematisch erscheint, und sie Ängste entwickeln gegenüber Andersartigen, gegenüber Vielfalt und Differenz, dann wird man mit den Ängstlichen reden, man wird die rationalen Gründe von den eingebildeten zu trennen haben, man wird sie immer noch ernstnehmen, aber man wird den Ängsten nicht einfach nur folgen. Das, was sich bewährt hat beim Aufbau der Demokratie und des Rechtsstaats, diese Einstellung, dass allen Menschen gebührt, was allen Menschen zusteht, die werden wir natürlich aufrechterhalten und mit Zähnen und Klauen verteidigen.

„Es gibt eine verunsicherte Gruppe von Menschen“


Wentzien: Sind das nur Retrotendenzen?

Gauck: Ich habe mich ein bisschen mit dieser Thematik befasst, weil ich in einem neuen Buch, was ich gerade gemacht habe über Toleranz, dem nachgegangen bin, warum wird diese Zeit so intolerant? Und dann bin ich darauf gekommen, dass bei einigen richtig Bösartigkeit und Hass gegenüber der Demokratie existiert, aber das ist nicht die Mehrheit. Solche Kräfte gibt es eigentlich in jeder Zeit, solche destruktiven Kräfte. Aber es gibt eine verunsicherte Gruppe von Menschen, und ich habe ein bisschen dazugelernt in den letzten Jahren und bin auf Studien gestoßen, die da besagen, dass in jeder Nation ein bestimmter Prozentsatz von Menschen also ursprünglich konservativ sind. Die Forscher aus dem angelsächsischen Raum nennen das: Menschen, die ausgestattet sind mit einer autoritären Disposition. Das dürfen wir jetzt nicht gleich negativ verstehen, sondern sie meinen so eine Art Grundeinstellung Furcht vor dem Wandel, Beharren auf tradierten Werten, risikoscheu und Suche nach klarer Orientierung, nach Recht und Ordnung.

Wentzien: Sicherheit …

Gauck: Sicherheit ist ihr Programm, nicht Freiheit. Und diese Gruppe von Menschen gebe es überall, und das sei nun nicht von vorneherein ein Übel, denn diese Gruppe kann man auch verlassen oder man kann auch demokratische Ziele mit dieser Haltung verbinden. Aber aus dieser Gruppe heraus kommt man sehr leicht in eine Ablehnung der liberalen Moderne. Und deshalb müssen wir heute sehr genau unterscheiden, mit was für Leuten sprechen wir, sind es Menschen, die protestieren gegen den schnellen Wandel, gegen die Globalisierung, Europäisierung oder Menschen, denen diese ganze technische Entwicklung – Computer, Künstliche Intelligenz – Angst macht. Und diese Fülle von Ängsten und Sorgen bringt nun viele Menschen dazu, überall in der Welt im Grunde danach zu suchen, was ihnen die vertraute Sicherheit gibt. Oft ist es ein Widerspruch nicht gegen die Demokratie, sondern gegen die Fremdheit des Neuen, gegen den Wandel. Und wir als Demokraten tun gut daran, nicht jeden, der an den progressiven Zielen der liberalen Demokratie zweifelt, schon gleich zu einem Verfassungsfeind zu erklären.

Sprecher: Von Angst und Toleranz.

Wentzien: Sie haben 2014 Fritz Stern zitiert, den amerikanisch-jüdischen Historiker aus Breslau, als Sie in Leipzig gesprochen haben und dort an den Jahrestag der Demonstrationen, der entscheidenden Demonstrationen erinnert haben, und Sie zitieren Fritz Stern mit den Worten, das Ideal einer liberalen Ordnung mit allen Errungenschaften der Aufklärung begeistere nicht mehr so viele Menschen wie früher.

Gauck: Ja, und das kann man nun beklagen, aber man darf es nicht bei der Klage stehen lassen.

Wentzien: Nein.

Gauck: Ich sehe das auch. Und ich bin zu meiner Überraschung auf einen anderen Propheten gestoßen, also der noch prophetischer war, und das ist Ralf Dahrendorf, der verstorbene große liberale Denker, der schon vorausgedacht hat, was wir jetzt erleben: dass es eine gewisse Skepsis gegenüber der liberalen Moderne geben wird. Und dann, was wird dann kommen, so fragt er sich? Na ja, dann werden die Leute wieder Autoritäten gut finden. Und plötzlich erleben wir, dass merkwürdige Typen mit einem autoritären Gestus wieder bei einigen Leuten Interesse finden.

„Bestimmte Freiheitswerte werden im Westen anders bewertet als im Osten“

Wentzien: Wir sind in Sachsen und wir sind in Brandenburg und wir sehen nach und vor den Landtagswahlen dort eine ganz starke Mobilisierung: Wir haben nach Jahren erstmals wieder ernsthafte Debatten in den dortigen Wahlkämpfen erlebt, es gab eine hohe Wahlbeteiligung und es gab immense Zuwächse für die drei Buchstaben AfD, in Brandenburg zweistellige Zuwächse, in Brandenburg wurde die AfD zweitstärkste Partei, in Sachsen wird die AfD von 27,5 Prozent gewählt, ihre Stärken liegen im ländlichen Raum, auch in Großstädten ist sie präsent, und auch bei den Unter-30-Jährigen ganz knapp stärkste Kraft. Marianne Birtler meint, die AfD macht aus Sorgen Angst und aus Angst Wählerstimmen. Hat sie Recht?

Gauck: Selbstverständlich sind diese Bewegungen verbunden mit den Angstströmungen, über die ich schon gesprochen habe, und wir leben nun mal in einer Zeit, wo nicht nur in Sachsen, sondern in ganz Europa diese Ängste herrschen, dass Menschen nicht mehr die Form von Leben leben können, die ihnen vertraut ist. Es ist die Furcht vor dem Neuen, die Furcht eigentlich vor einer Moderne, die sie überfordert. Und deshalb gibt es zwei Gründe für diese Entwicklung im Osten Deutschlands: Der Osten Deutschlands ist, wie die anderen postkommunistischen Länder, immer noch eine Region des Wandels, eine Transformationsgesellschaft. Und da gibt es mehr Leute, die fremdeln mit der parlamentarischen Demokratie, mit Diskurs und Debatte, die keine Kompromisse mögen, sondern mehr Eindeutigkeit und ähnliche Dinge. Das sind Dinge, die wachsen sich raus. Je länger die offene Gesellschaft existiert und Leute in demokratische Schulen gegangen sind, demokratische Medien erlebt haben, desto weniger wird diese Haltung noch präsent sein. Aber sie existiert noch, und das kann man nachweisen: unterschiedliches Wahlverhalten, unterschiedliche Zustimmung zu bestimmten Freiheitswerten, die im Westen anders bewertet werden als im Osten. So, das ist das eine.

Und mit dem verbunden ist das Phänomen, über das wir schon gesprochen haben, dass eben durchgängig und auch in den besten Gesellschaften, die die Welt kennt, in Skandinavien oder in der Schweiz, eine große Gruppe von Bevölkerung existiert, denen dieser Wandel zu intensiv, zu schnell ist. Das heißt, auch saturierte Menschen können in Ängste verfallen, nicht nur Menschen in einer Transformationsgesellschaft. Und deshalb verbinden sich zwei Elemente des Protestes und der Abwanderung in eine Protestwählerschaft hier in diesen ostdeutschen Gebieten. Und dadurch fällt es besonders auf.

Wentzien: Die Wahlnachbefragungen haben genau diese beiden Gewichte skizziert, die Sie jetzt gerade noch mal geschildert haben. Und: Die Menschen, die die AfD gewählt haben, sind überzeugt von zum Teil rassistischen und demokratiefeindlichen Zielen und ihnen macht das nichts aus, dass dieser politische Formationsverein sich da auch uneindeutig artikuliert.

Gauck: Ja, das wollen wir mal nicht leugnen, dass es so ist, und wollen da nicht in Angststarre verfallen, sondern uns Strategien überlegen, ob man und wie man daran etwas ändern kann. Erst mal ist es so, dass wir davon ausgehen müssen, dass sehr viele Menschen nicht fortwährend in politischen Debatten sind, sondern viele unpolitische Menschen wählen, und sie wählen aus Gefühlen heraus, und Angst ist ein sehr starkes Gefühl. Manchmal suchen sich diese Protestwähler, um die Herrschenden zu erschrecken, eine linke Bewegung, deshalb hat die Linkspartei in den ersten Jahren eine Menge an Wählerstimmen abgesahnt, und manchmal – und das sehen wir besonders stark in Frankreich etwa – geht dieser Protest gegen das etablierte System dann in Richtung rechts. Und das erleben wir jetzt, wenn die AfD einen Großteil der sagen wir mal nicht-ideologischen Rechten, sondern der Protestwähler abfasst. Und nun kommt das andere: Je undefinierter Menschen sind, je weniger stark in ihnen ein eigenes Wertebewusstsein oder eine eigene Identität gewachsen ist, desto mehr befürchten sie, überformt und überfremdet zu werden. Und darum ist dieser Grad der Zustimmung zu einer Protestbewegung dort größer als in den anderen europäischen und auch westdeutschen Ländern.

„Die Furcht vor der Freiheit war immer da“

Wentzien: Und würden Sie sagen, es war immer da und bricht jetzt raus?

Gauck: Die Unvertrautheit oder die Furcht vor der Freiheit war immer da. Es ist so ein Gefühl, das ganz merkwürdig ist. Wir sehnen uns als Menschen gleichzeitig nach Freiheit, wenn wir frei sein wollen von Unterdrückung, und wir fürchten uns gerne oder leicht davor, wenn die Freiheit bedeutet: Jetzt musst du aber Bürgermeister sein, oder du bist jetzt der Bestimmer, du musst jetzt sagen, wofür die Steuern verwendet werden, du musst sagen wollen, wie soll unsere Armee aufgestellt sein, wie soll unsere Landwirtschaft sein. Und dann sagen viele, ja, da bin ich ja völlig überfordert. Und aus diesem Überforderungsgefühl entsteht dann wieder Angst.

„Wir müssen ertragen, dass Menschen mit anderen politischen Konzepten mitspielen“


Wentzien: Eine Jungsozialistin in Sachsen sagte einem unserer Landesreporter, es gebe aus ihrer Sicht demokratisch gewählte Parteien und demokratische Parteien. Sieht sie das richtig?

Gauck: Na ja, ich sage es mal mit einem anderen Beispiel: Den Rechtsstaat nicht zu achten und gleichzeitig die Gerechtigkeit zu lieben, das ist ein problematischer Gestus. Er ist menschlich verständlich, aber es sollte nicht ein grundsätzlicher Widerspruch sein, zu erklären, dass wir zwar Parteien haben, die wir ablehnen, weil sie uns nicht demokratisch genug sind, aber mit einer demokratischen Legitimation in freien, gleichen und geheimen Wahlen gehört es sich nicht, gewählte Abgeordnete so zu behandeln, als wären sie nicht gewählte Abgeordnete. Und deshalb hat die junge Frau irgendwo Recht, und gleichzeitig ist in ihrer Auffassung ein Gefahrenpotenzial enthalten, das sich so auswachsen kann, dass wir nur das als legitim erachten, was unserer Meinung entspricht. Wir müssen ertragen, dass Menschen mit anderen politischen Konzepten, die uns vielleicht total unsympathisch sind, noch Player sind, noch mitspielen bei der Gestaltung des Ganzen. Und da wird es natürlich haarig. Und deshalb ist oftmals das, was wir ertragen müssen, schwer zu ertragen. Also ich kann bestimmte Typen, die im Deutschen Bundestag sitzen, menschlich wirklich schwer ertragen, und politisch auch. Das ist für mich eine Zumutung. Aber sie sind gewählt.

„Irgendwann ist eine Grenze der politischen Toleranz erreicht“


Wentzien: Was sagen Sie eigentlich der AfD, die Ihre Geschichte kapert, Ihre persönliche Revolutionsgeschichte, nach dem Motto, vollende die Wende, als wäre eine zweite Revolution nötig und als hätte die große Mehrheit der Menschen in den ostdeutschen Ländern eben nicht AfD gewählt?

Gauck: Wissen Sie, ich kenne das schon mit einer anderen Maskierung. Also die Linke, links von der SPD, hat gerne so getan, als wäre die eigentliche Revolution noch vor uns, ja. In Unkenntnis der Tatsache, dass wir noch nie einen größeren Fortschritt erlebt haben als den der offenen Gesellschaft, propagieren sie antikapitalistische, sozialistische Ziele und tun so, als hätten sie ein großes Zukunftsprogramm. Nix da ist jemals auf der Welt gestaltet worden, aber sie tun so, als wäre das eine reale Variante. Deshalb erschreckt mich dies erneut, aber mit einem anderen Gesicht. Und es ist noch finsterer als die linke Maske, weil die braune Maske oder die nationalistische Maske, ich will noch gar nicht von braun reden, nur von Nationalismus – und wohin der Nationalismus uns geführt hat, in diese braune Diktatur mit diesem allertiefsten, tiefstmöglichen Fall von Politikgeschichte, mit dieser unglaublichen Anzahl von Morden und von Ungerechtigkeit –, … Ich meine, wie kann man so etwas jemals vergessen und wie kann man eine Person achten, die dann sagt, dass dieser Teil der Geschichte nicht mehr sei als ein Vogelschiss? Da ist irgendwann nicht nur eine Geschmacksgrenze erreicht, sondern auch eine Grenze der politischen Akzeptanz.

„Wir müssen diese Parlamentarier mit Gegenargumenten stellen“

Wentzien: Also Sie akzeptieren Gauland, der das gesagt hat, den Fraktionschef von der AfD, als Parlamentarier, und Sie gehen mit ihm in Streit ob dieser Aussagen, wenn Sie ihm begegnen?

Gauck: Ja aber selbstverständlich würde ich das tun, ob ich ihm begegne oder nicht. Das ist für mich unerträglich. Und deshalb sind ein Teil dieser Parlamentarier, die mit Recht in unserem Parlament sitzen, weil sie demokratisch gewählt sind, von uns auch massiv zu stellen mit Gegenargumenten. Und der Kampf mit solchen vordemokratischen oder antidemokratischen oder demokratiekritischen Auffassungen ist eine beständige Aufgabe aller Demokraten, ob sie von links, von konservativ oder aus der liberalen Mitte kommen. Ich nenne das kämpferische Toleranz, ja.
„Das ist ja wirklich wie in der Weimarer Republik“

Wentzien: Kämpferische. Sie haben gesagt, und das war, so deute ich es, auch die Motivlage für dieses Buch „Toleranz“: „Ich habe mir nicht vorstellen können, dass es jemals notwendig sein würde, über Toleranz in unserem Land zu schreiben.“ Waren Sie da blauäugig unterwegs?

Gauck: Vielleicht. Also ich bin ein Typ, der eher positiv denken mag und neige zu einem gewissen Optimismus, und von daher mochte ich mir nicht vorstellen, dass wir in Umgangsformen zurückgehen wie in einer Stammesgesellschaft. Also ich habe immer gedacht, dass die Zivilisation alle Teile der Bevölkerung erreicht hat. Und nun weiß man, dass das natürlich übertrieben ist, man kennt ja die Geschichte, man weiß etwas von der Ambivalenz aufklärerischer Gesellschaften und man weiß, dass das Böse nie ausgerottet ist. Aber nach einer langen und eingeübten Demokratiegeschichte in der alten Bundesrepublik diese Form von Hass, Häme und Hetze gerade im Netz wieder aufleben zu sehen, das ist ja wirklich wie in der Weimarer Republik, es fehlt nur noch, dass sich die Kombattanten bewaffnen und dann nach dem Leben trachten. Also so weit sind wir ja Gott sei Dank nicht. Aber wissen Sie, dieses Ausmaß an Geringschätzung des anderen, Verachtung des anderen und Abschreiben eines anderen, das hat mich doch erschreckt.

„Wir dürfen nicht einfach abwarten“

Wentzien: Haben Sie Sorge um Deutschland?

Gauck: Na ja, also ein bisschen besorgt bin ich schon. Wir können es auch versauen. Und deshalb dürfen wir nicht einfach abwarten. Demokraten müssen agieren und sie müssen auf die Veränderungen reagieren und sie müssen die Ängste bemerken und dann dagegen stellen, womit wir unsere Ängste besiegen können. Und wissen Sie, das sind keine Zaubermittel, sondern dieses Land hat in seiner Geschichte aus einem unglaublich tiefen Fall und aus einer unglaublichen moralischen Verkommenheit heraus eine Form des Lebens gefunden, die andere veranlasst, hier wohnen zu wollen, und die uns selber das Gefühl macht, wir sind bei uns angekommen, bei Recht und bei Freiheit. Wir haben nicht alle Probleme gelöst, nein und nimmermehr, nein. Also aber wir sind doch glaubhaft geworden. Und diese Erfolgsgeschichte bei der Errichtung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und einem menschenfreundlichen Lebensraum, das hat doch Menschen stark gemacht. Und anders als in der Weimarer Zeit zwischen den Kriegen sind jetzt mehr Menschen, die erlebt haben, was an Positivem geht, und diese Menschen sind auch in Ostdeutschland in der Mehrheit.

Wentzien: Das klingt nach einem „Steht auf!“

Gauck: Na ja, also jedenfalls heißt das Kommando: „Schlaft nicht ein!“, ja. Also aufstehen, das ist jetzt bisschen vergriffen und hat nicht so richtig funktioniert, weil eine bestimmte Bewegung meinte, jetzt ginge es los.

Wentzien: Oh, ich erinnere mich, genau.

Gauck: Aber da wollen wir mal dagegensetzen, nicht einschlafen und jeweils den Bewegungsmodus in Gang setzen, der angesagt ist. Manchmal ist es ein ruhiges Schrittmaß und manchmal muss man sich bisschen beeilen. Aber man darf nicht verschlafen, zu rechten Zeit Ängsten zu begegnen. Und Irrtümer sind nicht dazu da, gepflegt zu werden, sondern bekämpft zu werden.

Wentzien: Danke schön!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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« Letzte Änderung: 26. September 2019, 22:53:53 von dtx »
 
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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #174 am: 7. Oktober 2019, 10:52:55 »
https://taz.de/Politik-und-Psychotherapie/!5627041/?fbclid=IwAR2MLNdlxPZFeDy4mWni6kEcUzt0KsZ0fpbKLxI2KjgjMevPYdo0xxqzqRQ

Interessanter Artikel über die Probleme der Psychotherapie in Zeiten des Rechtspopulismus. Wobei ich das Problem weiträumiger sehen würde, Psychotherapie und Extremismus. Ein Stalinist in der Therapiegruppe dürfte nicht einfacher sein.

Spoiler
Zitat
Politik und Psychotherapie
Rechts im Stuhlkreis

Unser Autor arbeitet als Psychiater in Brandenburg und trifft öfter auf Patienten mit rechter Gesinnung. Wie soll er als Therapeut damit umgehen?

Frau Hüther ist seit einigen Tagen bei uns in Behandlung. Sie ist Anfang 50, leidet an einer Depression und an einer Persönlichkeitsstörung, wegen der sie seit mehreren Jahren arbeitsunfähig und berentet ist. Sie ist bereits zum dritten Mal bei uns. In den Gruppengesprächen klagt sie über die Arbeitsbelastung an ihrem letzten Arbeitsplatz, über die „betrieblichen Umstrukturierungen“ und dass sie es irgendwann nicht mehr geschafft habe. Traurig blickt sie dann auf den Boden.

Mir ist Frau Hüther sympathisch. Sie ist ein leutseliger Mensch, kann die anderen sehr genau spüren, vermag es, mit jedem hier in der Klinik Anknüpfungspunkte für eine Plauderei zu finden. Sie begibt sich gerne unter Menschen, mit einer Sehnsucht, die ich auch von mir selbst kenne, als wären die anderen eine wohlige Decke, mit der sie sich umhüllen kann.

Doch jetzt, da sie traurig auf den Boden blickt, hat sie keine Decke. Sie kommt mir sehr einsam vor. In die Ecke gedrängt, zu einem wehrlosen Opfer ihrer Lebensgeschichte gemacht. Ich denke an ihren strengen und gewalttätigen Vater, dem sie immer alles recht machen will und dem sie nie recht genug ist.

Und dann bricht ihre Stimme um, wird laut und wütend. Frau Hüther spricht über den „entfesselten Kapitalismus“ und darüber, dass es doch heute nur noch um Profit gehe. Sie macht sich Sorgen um ihre zwei Kinder, in was für einer Welt sie aufwachsen würden. Man müsse etwas dagegen tun, wir alle, und dabei blickt sie in die Runde. Je länger sie spricht, desto mehr redet sie sich in Rage. Mir gelingt es nicht, die Lücke zwischen ihren Worten zu finden, um sie aus ihrem Monolog herauszureißen.

Wo ist die Grenze?

Ich habe über sechs Jahre Medizin studiert und befinde mich seit drei Jahren in meiner klinischen Ausbildung zum Psychiater und Psychotherapeuten. In meiner Ausbildung habe ich gelernt, politische Diskussionen aus der Psychotherapie herauszuhalten. Wir behandeln Menschen unabhängig von kultureller Herkunft, Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung und eben auch politischer Gesinnung.

Und wir behandeln Menschen in Lebenskrisen – nicht das gesellschaftliche System. Deshalb haben auch Diskussionen hierüber in der Psychotherapie streng genommen nichts zu suchen. Doch in der Praxis ist das gar nicht so einfach – in Wahrheit wirken politische Ansichten immer wieder latent in die Therapie hinein. Aber wo ist die Grenze, die ich ziehen muss?

So ertappe ich mich dabei, dass ich den Gedanken Frau Hüthers folge und insgeheim zustimme: Alles, was sie sagt, passt für mich aus meiner linken Perspektive zusammen und ich fühle mich mit ihr diesseits meiner therapeutischen Rolle verbunden – bis sie auf einmal sagt: „Und dass unsere deutsche Geschichte nur wegen dieser zwölf Jahre so schlecht sein soll und wir deswegen nicht stolz auf sie sein dürfen, das ist doch eine Schweinerei!“

Nach diesem Satz, den sie viele Monate vor Gaulands „Vogelschiss-Zitat“ in unserer Gruppentherapie ausspricht, muss ich sie unterbrechen. Während ein paar Mitpatient*innen nickend ihre Zustimmung zu Frau Hüther signalisieren, schreite ich ein: „So, Frau Hüther, ich glaube, wir sollten jetzt hier nicht über politische Ansichten debattieren. So was gehört nicht hierhin. Bleiben Sie bitte bei sich.“

Während ich innerlich noch überlege, wo „so was“ denn eigentlich hingehört und Frau Hüther mich erbost anblickt, stelle ich eine typische Therapeutenfrage an die Gruppe: „Kennen denn andere hier auch solche Situationen, in denen sie sich durch die Erwartungen anderer überfordert fühlen und sie immer denken, sie müssten es allen recht machen?“

Politische Gesinnung, die die Gespräche bestimmt

Zu meiner Erleichterung nimmt das Gespräch eine andere Richtung. Es fällt mir schwer, die weitere Gruppenstunde zu leiten. Innerlich bin ich aufgebracht und lege mir Argumente gegen die Verharmlosung der Nazizeit zurecht.

In den Brandenburger Kliniken, in denen ich bislang tätig war, haben wir es immer wieder mit Patient*innen zu tun, deren Gesinnung im Verlaufe der Therapie die Gespräche bestimmt. Frau Hüther ist nur ein Beispiel, an dem sich zeigen lässt, wie schwer es uns fällt, damit umzugehen. Um sie als Person nicht identifizierbar zu machen und das Arztgeheimnis zu wahren, habe ich ihren Namen und wenige Details geändert.

Einige Tage später schaue ich aus dem Fenster meines Büros. Draußen im Hinterhof diskutieren Patient*innen miteinander. Frau Hüther redet auf die anderen ein, ich kann nicht genau verstehen, was sie sagt. Die meisten nicken, manche runzeln die Stirn. Wenn ich jemanden bei uns aufnehme, sage ich gerne: „Unser therapeutisches Team macht nur einen Teil der Arbeit. Den fast wichtigeren Teil machen Sie miteinander, in den Pausengesprächen, wenn Sie sich über Ihre Krisen austauschen. Da sind wir ganz raus.“

Dass wir da ganz raus sind, ist banal, denn natürlich geht es uns nichts an, worüber sich unsere Patient*innen in ihren privaten Pausengesprächen unterhalten. Andererseits sind genau diese ungezwungenen Pausengespräche Teil dessen, was man in der Psychiatrie als „Milieutherapie“ bezeichnet.

Damit ist nicht die Herkunft der Pa­tient*innen gemeint, sondern das Setting einer Einrichtung und die alltäglichen Aktivitäten, etwa das gemeinsame Kaffeetrinken oder die Zigarettenpausen, in denen kein ausdrückliches therapeutisches Ziel verfolgt wird. Dieser institutionelle Alltag vermittelt Stabilität und sozialen Austausch und trägt so zur Genesung der eigenen Lebenskrise bei, zugleich bauen die weiteren Therapien immer auf diesem Alltag auf.

Als Therapeut bin ich da raus

Im Gespräch im Hinterhof, so viel kann ich verstehen, geht es um die „Flüchtlingskrise“; dieses Wort schnappe ich neben den Worten „Merkel“ und „AfD“ von meinem Büro aus auf. Wenig später erfahre ich von einer Kollegin, dass Frau Hüther Mitglied der AfD ist. Mein Bauch zieht sich zusammen. Ich fühle, was ich ja eigentlich wusste: Nicht nur in der Selbsthilfe zwischen den Betroffenen, sondern auch in den politischen Gesprächen zwischen den Therapien bin ich als Therapeut ganz raus, das geht mich nichts an. „Pause ist ja Pause – was da geredet wird, können wir nicht vorschreiben“, sage ich mir und habe zugleich das Gefühl, dass uns gerade etwas entgleitet.

Denn natürlich geht es uns etwas an, wenn jemand agitiert und sich eine Stimmung in unserer Klinik ausbreitet, die die Therapie der anderen Patient*innen erschwert. Beklemmung überkommt mich, Wut auf Frau Hüther und die Situation. Gedanken steigen in mir auf – „Warum ist die überhaupt da?“, „Warum braucht die unsere Hilfe?“ oder: „So krank kann sie ja nicht sein, wenn sie hier herumschwadroniert!“ Dabei weiß ich, dass sie wie jeder andere Mensch Anspruch auf therapeutische Hilfe in Not hat.

Zwei Tage später trägt Frau Hüther ein T-Shirt von Thor Steinar. Thor Steinar ist eine rechtsextreme Kleidungsmarke, die sich mit ihren Zeichen und Slogans geschickt an der Grenze zu verfassungsrechtlich verbotener Symbolik bewegt. Thor-Steinar-Kleidung sehen wir hier gelegentlich, ein Patient erklärte mir einmal, die Stücke seien „einfach gut verarbeitet“. Das klingt harmlos, dabei stehen auf den T-Shirts und Pullis Sprüche wie „Ich bin einer von denen, die schon länger hier leben“, „Für die Sippe, für die Heimat“, „Mein Land, meine Regeln“, meist versehen mit Reichsadler, Wehrmachtszeichen oder Thors Hammer.

Auf dem T-Shirt von Frau Hüther posiert ein muskelbepackter Mann mit langem Bart und Hammer in der Hand. Darunter steht: „Dein Gott wurde ans Kreuz genagelt, mein Gott hat einen Hammer!“

Ich spreche das bei einer unserer Teamsitzungen an. Das Team besteht neben Ärzt*innen aus Psycholog*innen, Sozial­arbei­ter*innen, Pfle­ger*innen, Ergo- und Physiotherapeut*innen. Die Marke ist im Team nicht allen bekannt, das T-Shirt von Frau Hüther ihnen zum Teil gar nicht aufgefallen. Reagiere ich überempfindlich auf die Patientin, suche nach Punkten, die mich an ihr und ihrer politischen Gesinnung stören? Vermische ich die Thematik künstlich mit unserem therapeutischen Auftrag?

Die Debatte im Team

Darüber sprechen wir, und alle stimmen schließlich darin überein, dass ich die Patientin auffordern soll, Kleidung dieser Marke nicht in unserer Klinik zu tragen. In ähnlichen Situationen gab es damit bislang keine Probleme. Meist reagierten die Patienten mit Äußerungen wie „Keine Angst, ich mach hier keinen Krawall“ oder „Dass Thor Steinar rechtsradikal ist, ist ein totales Missverständnis – aber klar, dass Sie mir das dann verbieten müssen.“ Sie ließen die Kleidungsstücke dann aber zu Hause.

Frau Hüther dagegen weigert sich. Thor Steinar sei verfassungsrechtlich nicht verboten und sie dürfe anziehen, was sie wolle. Sie schreibt auch einen Brief an die Klinikleitung, verweist auf Marken, die angeblich Linksradikale und Randalierer tragen – die müsse man dann auch verbieten.

Im Team beginnt eine intensive Debatte. Die Meinungen ­gehen teils weit auseinander und doch habe ich manchmal das Gefühl, dass sich im Kreis der Kolleg*innen politische Auseinandersetzungen leichter führen lassen als in der Arbeit mit unseren Patient*innen. Ich bin jedenfalls für ein striktes Verbot der Marke. Andere meinen, man solle Frau Hüthers Kleidungsstil ignorieren, um ihr die Bühne zu nehmen.

Immer wieder kommt im Team und den Supervisionen aber auch die Frage auf: „Worum geht es hier eigentlich?“ Ist der Streit um die Marke nicht ein Nebenschauplatz? Lenkt die Patientin bewusst oder unbewusst von ihren eigentlichen Krisenthemen ab, also dem Verhältnis zu ihrem Vater oder der Trauer um ihren verlorenen Arbeitsplatz oder auch davon, dass sie sich selbst in ihrem Leben immer wieder als Opfer der Umstände empfindet?

Konsequent darauf ansprechen

Überfrachtet sie diesen Opferstatus, indem sie sich als Teil jener Gruppe „redlicher Deutscher“ definiert, die vom Staat und dem „System Merkel“ manipuliert, angefeindet und schließlich mit der angeblichen „Flüchtlingswelle“ in ihrer Existenz bedroht werde? Fordert sie das Kleidungsverbot heraus, um auch hier zum Opfer oder sogar zur Märtyrerin für die rechte Sache zu werden?

Wir einigen uns darauf, der Patientin ihre Kleidung nicht zu verbieten, sie aber in den Therapien konsequent darauf anzusprechen und kritisch nach dem Zusammenhang ihrer politischen Botschaften mit ihrer konkreten Lebenssituation zu fragen.

In einigen Gesprächen gelingt das. Frau Hüther wird zugewandter. „Endlich verurteilt mich jemand mal nicht für das, was ich denke, und hört mir zu“, sagt sie. Wir sprechen mit der Patientin über ihre Kindheit, ihren strengen Vater, seine Leistungserwartungen und seine Prügelstrafen, wenn sie etwas falsch gemacht habe. Frau Hüther erzählt aufgewühlt von ihren späteren Erfahrungen mit der Stasi und von der beruflichen Umschulung nach der Wende, als ihr früherer Abschluss nicht anerkannt wurde.

Immer wieder kommt mir dabei das Konzept des autoritären Charakters der Frankfurter Schule in den Sinn, das allerdings in der heutigen Psychiatrie kaum mehr verwendet wird, was ich falsch finde. Die Entwertung eigener Bedürfnisse und Fähigkeiten sowie die Unterwerfung gegenüber der elterlichen, später staatlichen Autorität scheint mir bei Frau Hüther diese seltsame Mischung zu erzeugen: Einerseits der mal versteckte, mal offene Hass gegen alles Fremde, „die Ausländer“, „die da oben“, andererseits dieser starke, fast kindliche Wunsch nach Anerkennung und Verbundenheit, im Zeichen einer vermeintlich tieferliegenden Autorität – „wir Deutschen“. Dieses Muster erkenne ich bei vielen meiner Patient*innen wieder.

Die Ästhetik der Runenschrift

Auch hier zeigt sich, dass der Anspruch aus meiner Ausbildung, zwischen Politik und Therapie zu trennen, in der Praxis kaum aufrechtzuerhalten ist: Es gibt Studien, die darauf hinweisen, dass eine autoritäre Erziehung eher zu rechten politischen Einstellungen führt. Frau Hüther scheint mir dafür ein gutes Beispiel zu sein.

Trotz dieser Fortschritte habe ich aber ein ungutes Gefühl. Mein Eindruck ist, dass wir, auch wenn wir der Patientin therapeutisch helfen und wir sie besser verstehen, zugleich ihre Sehnsucht nach einer homogenen und innigen Gemeinschaft insgeheim doch befriedigen. Sie sieht in uns nun Verbündete, die wir nicht sind. Und obwohl wir die Patientin kritisch auf ihre politische Agenda im Hinterhof angesprochen hatten, führt sie diese nun lediglich subtiler fort; etwa indem sie nur noch mit Einzelnen spricht oder das Thema Einwanderung scheinbar beiläufig in Diskus­sionen einfließen lässt.

Auch versucht sie, Mitpatient*innen die Ästhetik der Runenschrift oder der nordischen Mythologie nahezubringen, was ich ebenfalls als politische Strategie empfinde. Ich frage mich, ob sie auf der Suche nach Mitgliedern für ihre Partei ist, die AfD. Aber da ich nicht den ganzen Tag den Gesprächen im Hinterhof lauschen und meinen Patient*innen hinterher­spio­nieren will, kann ich das nicht sicher sagen. Ich versuche, das zu verdrängen.

Doch es gelingt mir nicht. Frau Hüther und die Debatten im Team strengen mich an. Ich hatte anfangs Sympathien für die Patientin und ihre Situation, im wörtlichen Sinne des Mit-ihr-Leidens (altgr.: sym-páthein), das in meinen Augen für jede therapeutische Arbeit nötig ist. Jetzt stößt mich ihr politisches Denken ab und wirft finsteres Licht auf nahezu alles, was sie sagt.

Unterschied zwischen Arzt und Psychotherapeut

Hier wird der Unterschied zwischen ärztlicher und psychotherapeutischer Arbeit deutlich: Um einen Menschen körperlich zu untersuchen oder zu behandeln, spielt das Mit-leiden-Können der Ärztin streng genommen keine Rolle. Um einen Menschen aber in seiner Depression psychotherapeutisch zu behandeln, ist die therapeutische Beziehung der entscheidende Wirkfaktor – und wenn sich diese Beziehung aufgrund politischer Gefühle und Anti­pathien der Beteiligten nicht aufbauen kann, geht die Therapie kaputt.

Alles verbindet sich. Frau Hüther steht für eine Entwicklung, die ich mit meinem Privileg als weißer Großstadtakademiker bisher so leicht verdrängen konnte, indem ich die Nachrichtenseite im Browser einfach wegklickte oder weil ich mich in ganz anderen Kreisen bewegte. Frau Hüther erschließt mir eine ganze Atmosphäre, die eigentlich schon lange da war, die mir jetzt aber bewusst wird.

Auf der Zugfahrt nach der Arbeit sehe ich, wie zwei Neonazis miteinander Freundschaft schließen. Sie hören gemeinsam über einen kleinen Lautsprecher Musik: „Wir sind gewaltbereite Neonazis und wir kommen in deine Stadt …!“ Alle hören mit, niemand sagt etwas.

Auch ich bin zu erschöpft von einem langen Arbeitstag. Irgendwann traue ich mich doch, stehe auf und sage: „Eure politische Gesinnung finde ich zum Kotzen.“ Einer der beiden antwortet: „Jedem das Seine.“ Der Satz, der am Tor des KZ Buchenwald stand. Mit Herzklopfen verlasse ich das Abteil.

Neonazis in der Rettungsstelle

Neonazis kommen immer wieder in die Rettungsstelle unseres Krankenhauses, auf der ich als Psychiater regelmäßig Nachtdienste machen muss. Ein paar Tage nach der Zugfahrt etwa wird ein junger Mann von der Polizei gebracht, der im Streit mit seiner Freundin seine Wohnung zerlegt hat. Jetzt sitzt er mir mit feurigem Blick auf der Untersuchungsliege gegenüber. Er trägt ein Baseballcap mit der Aufschrift „88“ und, wie ich bei der Untersuchung sehe, ein kleines Hakenkreuz knapp unter seiner Unterhose.

Er sieht, dass ich es sehe, mustert mich. Ich denke an die Neonazis im Zug und sage nichts. Ich bin froh über meinen weißen Kittel: Als Arzt soll ich eine „akute Selbst- oder Fremdgefährdung“ aufgrund einer psychischen oder körperlichen Erkrankung ausschließen. Diese Aufgabe fülle ich gemäß dem ärztlichen Berufsethos und den rechtlichen Vorgaben aus. Meine Gefühle als Psychotherapeut spielen dabei keine Rolle. Nachdem ich eine Erkrankung ausschließen kann, bin ich erleichtert, als der Pa­tient die Rettungsstelle wieder verlässt.

Einige Tage später, wieder eine Sitzung mit der Gruppe, zu der auch Frau Hüther gehört. Gemeinsames Singen steht an, alle dürfen etwas vorschlagen. Frau Hüther will, dass wir die Nationalhymne singen. Es kommt mir vor wie ein schlechtes Skript. Ich und meine Kolleg*innen blicken uns ratlos an. Ich denke an unsere Diskussionen, daran, dass wir das Politische therapeutisch verwerten wollen, anstatt Therapie zu Politik zu machen. Aber ich kann das nicht. Ich habe genug.

„Ich will dieses Lied jetzt nicht mit Ihnen singen“, sage ich und schlage ein anderes Lied vor. „Aha. Na gut!“, antwortet sie, gekränkt, aber doch so, als hätte sie es schon erwartet. Der Vorfall zieht seine Kreise. Frau Hüther macht ihrem Ärger zwischen den Therapien bei den Mitpatient*innen Luft.

„Es ist alles ein System“

Gruppentherapie. Wir sitzen im Kreis, Schweigen schon bei der Themenfindung. „Woher kommt das Schweigen heute?“, fragen mein Kollege und ich, dabei ahnen wir es schon. Irgendwann packt Frau Hüther aus:

„Wenn Sie es unbedingt wissen wollen: Es ist alles ein System, früher in der DDR wie heute, früher die Stasi und die SED, heute der Verfassungsschutz, die Regierung und die Medien, die uns alle manipulieren und vorschreiben, was wir denken sollen. Ich dachte, hier in der Klinik, da wäre das noch erlaubt. Aber selbst hier dürfen wir nicht sagen, was wir denken, obwohl es uns doch schlecht geht und wir Hilfe brauchen! Selbst hier gelten schon diese Verhältnisse. Ich fühle mich verzweifelt, müde und erschöpft. Aber man erlaubt mir meine Verzweiflung nicht, nicht einmal hier. Das alles darf ich ja nicht sagen, weil ich mich mit mir beschäftigen soll. Aber das beschäftigt mich doch! Und dann haben Sie uns auch noch die Nationalhymne verboten, aber sie ist doch unsere Hymne!“

Eine jüngere Patientin stimmt Frau Hüther zu: „Die Nationalhymne haben wir sogar in der Schule gelernt! Soll die jetzt auch noch verboten sein?“

Dann wieder Frau Hüther, bestärkt: „Stattdessen kommen die Flüchtlinge hierher, und alles, was Deutsch ist, ist auf einmal nicht mehr erlaubt. Weihnachtsmärkte heißen jetzt Wintermarkt.“ Das ist längst widerlegt, aber taugt offenbar als ideologische Munition.

Ein anderer Patient sagt: „Im Supermarkt habe ich einen Ramadan-Kalender gesehen! Bald ist das hier nicht mehr unsere Heimat.“ „Genau“, antwortet Frau Hüther, „aber das darfst du bloß nicht sagen, weil dann, dann nennen sie dich gleich Nazi, dann kommt gleich die Nazikeule!“ Das Wort „Nazikeule“ kostet sie aus.

Alle Patient*innen im Raum nicken. Frau Hüther ist in ihrem Element. „Ja, da fühle ich mich so schlecht und traurig, dass man die Politik nicht ändern kann …“ Es wird einen Moment still. Als hätte Frau Hüther diesen Moment einkalkuliert, spricht sie nach einer Pause weiter: „Aber man kann die Politik ändern. Wir alle können etwas tun. Und deswegen bin ich in meiner Partei.“

Wie konnte das passieren?

Wie konnte uns diese Therapiestunde nur so entgleiten? Ich erlebe mit, wie machtvoll dieses Narrativ ist – die Fremden, die da oben, die böse Regierung, der Staat und wir da unten, wir Opfer, hilflos, aber stolz und edel, die wir zugleich Opfer bringen, für die gute Sache, für sie miteinander vereint. Frau Hüther hat alle um sich geschart.

Ich hingegen komme mir gefangen vor in meiner therapeutischen Rolle. Ich möchte schreien, Frau Hüther Wort für Wort ihre politischen Äußerungen zerlegen. Ich ertrage es nicht, in dieser Situation „therapeutisch abstinent“ zu sein, in nachdenklicher Therapeutenpose, mit überkreuzten Beinen mich auf Lehrbuchfloskeln wie „Aha, was fühlen Sie, wenn Sie das so hören?“ oder „Was löst das bei den anderen aus?“ zu beschränken. Das kommt mir sinnlos vor. Denn ich bin nicht nur Therapeut, ich bin ein Mensch und ein politisches Wesen. Wie therapeutisch kann Abstinenz sein, wenn ich mich in der Therapie nicht als mich selbst zu erkennen gebe – und eben auch entsprechende Grenzen markiere?

Schließlich wird es wieder still. Die Gruppe scheint unsere Ratlosigkeit zu bemerken und auf eine Antwort zu warten. Wir erklären, dass wir diese politischen Ansichten nicht teilen und dass wir auch nicht möchten, dass sie hier geteilt werden. Wir wollen ihnen ihre Ansichten nicht verbieten, aber wir lehnen es ab, sie zum Teil der Therapie zu machen. Denn Therapie heißt für uns „Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben“ und nicht mit der Politik. Die Diskussion geht daraufhin noch weiter, insgesamt löst sich die Situation in der Sitzung jedoch einigermaßen.

Kein Nebenschauplatz

Abfinden kann ich mich aber nicht damit, dass das Therapeutische nicht politisch sein soll. Gerade weil diese Trennung so unscharf ist, macht es mir den Umgang mit Frau Hüther so schwer. In jeder Begegnung muss die Trennung neu verhandelt werden. Und in einer jeden solchen Verhandlung werde ich, werden wir zur Zielscheibe ihres politischen Ressentiments, selbst wenn es „nur“ um Thor Steinar geht. Dabei ist diese Marke kein Nebenschauplatz. Sie ist Ort und Ausdruck dieses tiefliegenden Ressentiments, das sich nicht einfach psychologisieren lässt, indem wir es aus den psychischen Krisen unserer Patientin, beispielsweise aus dem Verhältnis zu ihrem Vater, erklären. Es ist ein Ressentiment, zu dem sich Frau Hüther entscheidet und für das sie verantwortlich ist; es breitet sich überall aus und wir müssen uns dagegen auch in unserer Klinik zur Wehr setzen.

Ich bespreche die Situation noch einmal mit meinem Oberarzt und schließlich mit unserer Chefärztin. Nach einigen Diskussionen wird eine Hausordnung für unsere Klinik verabschiedet, in der das Tragen von Marken wie etwa Thor Steinar und Consdaple untersagt wird. Ich bin über diesen Beschluss erleichtert. Auch wenn er vermutlich mehr Symbolkraft als praktischen Nutzen hat, glaube ich doch, selbstbewusster und auf Grundlage einer gemeinsamen Übereinkunft entsprechenden Pa­tien­t*innen gegenübertreten und eine Grenzen markieren zu können.

Gleichzeitig entschließe ich mich, einen Workshop für Stamm­tischkämpfer*innen der Initiative „Aufstehen gegen Rassismus“ zu besuchen. Mir ist deutlich geworden, dass meine psychotherapeutischen Kompetenzen nicht dafür gemacht sind, mit den politischen Argumenten und Polemiken meiner Patient*innen umzugehen.

Psychotherapie ist kein Stammtischgespräch, aber der Stammtisch kommt immer wieder in die Psychotherapie, auch wenn wir Therapeut*innen das nicht wahrhaben wollen. Und ich will mit diesem Stammtisch angemessen umgehen können.

Einige Wochen später wird Frau Hüther aus unserer statio­nären Behandlung entlassen. Zur Stabilisierung nimmt sie noch an ambulanten Gruppenangeboten unserer Klinik teil, in die ich jedoch nicht involviert bin. Von meinen Kolleg*innen erfahre ich, dass sie unsere Hausordung immer wieder auf die Probe stellt. Manchmal sehe ich sie, wie sie mit anderen Patient*innen im Wartezimmer sitzt, verstohlen treffen sich unsere Blicke.

Dass sie weiter heimlich für ihre Partei agitiert, ahne ich. Vor der Tür steht ihr Auto mit einem AfD-Sticker am Heck, daneben mein Fahrrad mit einem „Kein-Mensch-ist-illegal“-Aufkleber. Der Konflikt bleibt, draußen wie drinnen.
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dtx

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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #175 am: 7. Oktober 2019, 13:51:56 »
Es ist schon ein Widerspruch in sich, wenn man - mit gutem Grund - politische Probleme, die man nicht lösen kann, aus der Therapie ausklammern, aber die Probleme im Leben politisch aktiver oder auch nur interessierter Leute aufarbeiten will. Man muß wohl dafür sorgen, daß eine sich derart rasch wandelnde Realität in den Hörsälen und Weiterbildungsseminaren ankommt, anstatt die Absolventen und Therapeuten damit allein zu lassen.
 
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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #176 am: 7. Oktober 2019, 13:59:31 »
Man muß wohl dafür sorgen, daß eine sich derart rasch wandelnde Realität in den Hörsälen und Weiterbildungsseminaren ankommt, anstatt die Absolventen und Therapeuten damit allein zu lassen.
Aufgabe der Psychotherapie kann es nicht sein, den menschen die Politik zu erklären. Die Psychotherapeuten können den betroffenen höchstens helfen, mit Veränderungen klar zu kommen. Rechts-sein ist schließlich keine Geisteskrankheit.
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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #177 am: 7. Oktober 2019, 14:12:37 »
Aufgabe der Psychotherapie kann es nicht sein, den Menschen die Politik zu erklären. Die Psychotherapeuten können den betroffenen höchstens helfen, mit Veränderungen klar zu kommen.

Das ist der Anspruch. Wirklichkeit ist, daß ein einzelner Giftzwerg das Potential hat, die Gruppe zu sprengen oder die ganze Klinik gegen die Therapeuten aufzuwiegeln. Und da ist "geht mich nichts an" der falsche Weg.

Rechts-sein ist schließlich keine Geisteskrankheit.

Noch nicht, das ist aber nur eine Definitionsfrage. Im UK ist über einen Fall von "Brexit-Syndrom" berichtet worden, die Filterblase gestandener AfD-ler ist oft genug auch ein klares Krankheitsbild (eine spezielle Form von Verfolgungswahn). Es traut sich nur keiner, dafür einen neuen ICD-10-Code festzulegen.
« Letzte Änderung: 7. Oktober 2019, 14:16:23 von dtx »
 
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Offline dieda

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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #178 am: 7. Oktober 2019, 14:24:29 »
Das scheint mir eher ein interessantes Lehrstück über die destruktive und für den Täter/ hier Täterin ganz verantwortungsfrei und höchst erfolgreich ausagierte "Macht der Operrolle".

Dass aber sogar die Fachleute nicht adäquat damit umgehen und die Patientin mit billigen Provokation allein ihr Ego aufwerten und sogar die "therapeutischen Machtverhältnisse" kippen lassen konnte, ist eher beunruhigend und damit jenseits vom Inhalt und von rechts-links irgendwie auch politisch.

Gerade Psychater sollten eigentlich das Muster der Täter- Opferverdrehung durchschauen und therapeutisch so spiegeln können, bis diese Patientin vielleicht in einem lichten Moment zur Erkenntnis kommt. Ich denke da auch an ein Interview mit einem bekannten AfD- Politiker, das nur durch den konsequent vorgehaltenen Spiegel in 10 Minuten 10 Mal mehr an die Oberfläche ausagiert hat, als in 3 Jahren klassische Eiapopeia- Psychologie ergündelt worden wäre.
« Letzte Änderung: 7. Oktober 2019, 14:56:33 von dieda »
D adaistische I lluminatinnen für die E rleuchtung D es A bendlandes

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Re: Sächsische Verhältnisse und ungelöste Probleme
« Antwort #179 am: 7. Oktober 2019, 14:39:39 »
Da weigert sich die Kassenlobby. Stellt euch mal die Kosten vor, wenn alle AfDer in die Geschlossene wandern... und erst den Personalbedarf, da müssen wir gleich wieder den Flüchtlingspakt mit der Türkei kündigen, um (ahnungslosen) Pflegenachwuchs zu bekommen.

*sakasmusoff

Verhalten, Argumentation und Inhalte der AfD haben besonders im Osten mittlerweile was Sektenhaftes. Diese Gruppe bietet klare Abgrenzung, klare Selbstpositionierung, einfache Antworten auf eine komplizierte Umwelt und einfache Schuldzuweisungen "für jede Lebenslage". Dass gerade in den neuen Bundesländern Menschen aus vielfältigsten Gründen nach der Wende gescheitert sind und dies zu psychischen Problemen führt, ist leider schon zu oft bewiesen. Leider ist es dabei selbst ex post nur in Einzelfällen möglich, klare "Verantwortlichkeiten" für dieses Scheitern zu beschreiben. Vor allem sind individuelle "Schuldanteile" bei Externen (Vorgesetzte, Politiker, Funktionäre, Verwaltung) kaum zuzuweisen. Dabei verschwimmen das "alte" (DDR) und das "neue" (BRD) System, obwohl es kaum/gar keine personellen Kontinuitäten gab. Aber der Hass auf ein System ist umso leichter, wenn dieses System bereits "entindividualisiert" ist, sprich dahinter keine Menschen gesehen werden. Damit kann die betreffende Person auch weiterhein ein im Gespräch persönlich lieber und angenehmer Zeitgenosse sein, der sich wandelt, sobald es ums "System" geht. Dieser Hass exkulpiert dann auch die Person, weil das System ja schuld ist und die arme Psychotherapeutin kann diesen Konflikt kaum lösen... obwohl die wahrscheinlichen Ursachen bekannt sind.

@dieda Das Interview war so wirksam, die gesamte Patientengruppe verweigert nun stur jede weitere Therapiesitzung :D