Gut, es ist Sachsen-Anhalt, es ändert aber nichts an den Zuständen an sich.
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Deutschland
Rassismus in Halle: "Nicht täglich, aber immer!"
Der Anschlag auf eine Synagoge in Halle im Herbst 2019 hat Deutschland bewegt - heute fällt das Urteil gegen den Attentäter. Indessen sind Antisemitismus und Rassismus weiterhin Alltag in der Stadt. Betroffene erzählen.
Dies ist die Geschichte von vier Menschen, für die Demütigungen, Beleidigungen und Beschimpfungen zum Alltag gehören: Ein junges Paar, dessen Auto immer wieder zerkratzt wird, weil sie die jüdische Kopfbedeckung tragen. Eine junge Frau, die Zivilcourage zeigt und dafür selbst vor Gericht landen könnte. Ein junger Mann, der eine vernarbte Stirn hat, weil Männer ihm den Schädel eintraten.
Es ist die Geschichte von vier Menschen, die sich nicht kennen und die in verschiedenen Welten leben. Was sie verbindet, ist die Stadt Halle in Sachsen-Anhalt und der rassistische, antisemitische und rechte Hass, dem sie hier ausgesetzt sind.
Keiner der vier Betroffenen möchte mit seinem vollen Namen, mit seinem echten Namen oder überhaupt mit einem Namen in diesem Beitrag erscheinen. Aber sie wollen ihre Geschichten erzählen und über den Alltag in Halle reden.
"Juden, Juden!"
Das junge Paar - auch die Frau, obwohl die Kopfbedeckung eigentlich Männern vorenthalten ist - trägt die Kippa noch nicht lange. Genauer gesagt: seit dem 25.5.2019. Bis dahin haben sie sich in der ostdeutschen Stadt Halle nicht offen als Juden gezeigt. Aber an diesem Tag warnte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, vor dem öffentlichen Tragen der jüdischen Kopfbedeckung. Zu gefährlich sei das. "Da war für uns der Punkt gekommen, dass wir gesagt haben: Jetzt reichts!" Die Empörung ist den beiden noch heute anzusehen.
Für sie ist die Aussage des Antisemitismusbeauftragten fatal. Denn im Land des Massenmordes an den europäischen Juden müsse es genau um das Gegenteil gehen: die Sichtbarkeit des jüdischen Lebens. "Die Menschen wissen oft gar nicht, dass es Juden in Deutschland gibt. Deswegen finde ich das auch wichtig, dass öffentlich zu zeigen."
Ihre Sichtbarkeit hat erst einmal für sie selbst viel verändert. "Wir sind einmal in ein großes Geschäft in Halle-Neustadt gegangen", erzählen sie, "und dann riefen Leute laut 'Juden! Juden!' Und dann wurde uns hinterhergeschrien. Wir haben versucht, das zu überspielen." Seit sie ihre Kippa offen tragen, gibt es diese Vorfälle häufig. Manchmal wird ihnen hinterhergerufen, manchmal wird ihr Auto zerkratzt.
Bedrohungen, Beschimpfungen, Beleidigungen
Und manchmal werden sie bedroht. "Ich hatte mal einen Vorfall, wo ein Mann absichtlich mit seiner Autotür unsere Autotür beschädigt hatte, dann um den Parkplatz fuhr und absichtlich auf mich zufuhr. Ich habe dann Panik bekommen und bin um das Auto herumgelaufen. Und keiner ist eingeschritten." Manchmal drehen die Menschen sich einfach nur lange nach ihnen um. Und manchmal werden sie aus einer Wohnung heraus fotografiert, wenn sie bei ihrem Hausarzt sind. Dieses "manchmal" ist ihr Alltag.
Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 entschließen sie sich, nicht mehr tatenlos zu bleiben und antisemitische Vorfälle bei der Polizei anzuzeigen.
Polizei in der Kritik
Am 1. September 2020 werden sie auf dem Weg zu ihrem Auto wieder beleidigt. Ein Radfahrer beschimpft sie antisemitisch. Sie gehen zur Polizei. "Wir mussten die Aussagen auf dem Flur machen, während ein komplett unbekannter Mann neben uns saß." Sie fühlen sich von den Polizisten unangemessen behandelt. "Als Allererstes hat uns dann der Beamte gesagt, dass die Aussage 'Das wird ein Nachspiel haben, Jude!' keine Bedrohung sei, weil eben unser Leben nicht bedroht wurde. Aber er ist überhaupt nicht darauf eingegangen, dass wir das ganz anders sehen und die meisten Rechtsextremen wissen, was sie sagen können, ohne dass das eine Straftat wird. Ich habe da schon angefangen zu zittern, weil ich gemerkt habe, dass der Polizist mir gar nicht helfen will."
Die Polizei will sich nicht zu den Vorwürfen äußern. Denn derzeit befasst sich ein Untersuchungsausschuss des Landtages von Sachsen-Anhalt mit der Polizeiarbeit in Halle. Nach dem Anschlag auf die Synagoge hatten sich viele Betroffene beklagt, dass die Polizisten, sie "wie etwas Störendes" behandelt hätten.
Solidarische Zivilgesellschaft
Das junge Paar erzählt aber auch von großer Solidarität in Halle. Etwa zum Gedenken an die Opfer des Anschlags. Aber auch im Falle von Beleidigungen, wenn sich ihnen unbekannte Passanten als Zeugen anbieten. Trotzdem haben sie den Eindruck: Seit dem Anschlag haben antisemitische Vorfälle zugenommen. "Antisemitismus ist salonfähig geworden. Da habe ich auf jeden Fall das Gefühl, dass einige Menschen denken: 'Hey, jetzt bin ich nicht mehr alleine!', dass also Judenhass in Ordnung sei."
Rassistischer Angriff: Täter-Opfer-Umkehr?
Auch Laura teilt diesen Eindruck. Sie ist 26 Jahre alt. Und hat in Halle auf Lehramt studiert. Auch sie hat in Halle regelmäßig Beleidigungen und Einschüchterungen erlebt. Sie beklagt, dass sich die Menschen zunehmend an solche Vorfälle gewöhnen.
Laura möchte diese neue Normalität nicht hinnehmen. Im Oktober 2019, nur wenige Tage nach dem Anschlag, kommt es in der Straßenbahn zu einem Vorfall. Ein Mann beschimpft drei Schwarze mit abfälligsten rassistischen Beleidigungen. Dann zeigt er den Hitlergruß. Daraus entwickelt sich eine Auseinandersetzung. Als Laura die mitbekommt, schreiten sie und eine andere Frau ein. Laura wird von dem Mann an den Haaren gezogen und an der Hand verletzt.
Sie und die andere Frau erstatten Anzeige. Aber die Staatsanwaltschaft Halle stellt das Verfahren ein. Erst auf Druck ihrer Anwältin kommt es doch noch zur Verhandlung. "Ich fand es erschreckend, dass vor Gericht vor allem darüber gesprochen wurde, wie wir uns verhalten haben, und weniger darüber, wie der Angeklagte sich verhalten hat. Das hat bei mir relativ schnell den Eindruck geweckt, dass es zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommt, dass uns versucht wurde zu unterstellen, dass wir nicht aus Zivilcourage heraus gehandelt haben, sondern willkürlich."
Freispruch für Hitlergruß
Der Angeklagte wird freigesprochen. Im Gerichtsurteil heißt es: "Zu Gunsten des Angeklagten musste die Kammer deshalb davon ausgehen, dass der Angeklagte sich lediglich gegen die beiden Frauen wehrte und in Notwehr handelte."
Das Urteil ist für Laura ein Schlag ins Gesicht. "Schließlich habe ich das gemacht, was man von jedem demokratisch denkenden Menschen in so einer Situation verlangt, also zu deeskalieren und zu helfen, und dann bekommt man das Signal, dass man das eigentlich gar nicht tun sollte."
Wie die Polizei steht auch die Staatsanwaltschaft in Halle seit Jahren in der Kritik. Dass sie auf dem rechten Auge blind sei. Das weist die Leiterin der Behörde, Heike Geyer gegenüber der Deutschen Welle zurück: Maßstab für das Handeln seien allein Recht und Gesetz.
Die Studentin Laura sagt, sie würde trotzdem wieder so handeln: "Auch wenn ich natürlich schockiert darüber bin, wie es ausgegangen ist. Dadurch ist mein Vertrauen in die Justiz schon geschädigt worden. Dennoch würde ich es aber trotzdem wieder so tun – es gibt ja gar keine andere Option."
Halle ist eine widersprüchliche Stadt. Knapp 240.000 Einwohner leben hier im Osten Deutschlands. "Schön kuschelig" sei die Regionalmetropole, sagen viele Bewohner. Die Altstadt ist gut erhalten und die große Universität ein Magnet auch für junge Menschen. Halle hat aber auch die Hochhaussilos der Neustadt, die den Chemiearbeitern zu DDR-Zeiten ein modernes Zuhause bieten sollten. Die Stadt hat Kultur und engagierte Bürgergruppen, aber auch eine große gewaltbereite Hooliganszene rund um den Fußballverein.
Halle – Hochburg der Gewalt
Die rechte Partei AfD ist in Halle deutlich schwächer als in weiten Teilen des Ostens. Gleichzeitig ist die Zahl der rechten, rassistischen und antisemitischen Vorfälle auffällig hoch. Antje Arndt arbeitet in Halle für die Mobile Opferberatung im Land Sachsen-Anhalt. Sie haben alle Hände voll zu tun. "Wir haben in Halle mit verschiedenen Problemlagen zu tun. Wir haben wie überall ein hohes Maß an rassistischer Gewalt. Das ist nicht Halle-spezifisch. Wir haben aber auch Angriffe gegen politische Gegner*innen, was daran liegt, dass Halle zum Glück eine sehr starke Zivilgesellschaft hat. Der aber auch eine organisierte und gewaltbereite Rechte gegenübersteht." Sie fordert eine konsequente Verfolgung von Straftaten aus dem rechten Milieu.
Syrien entflohen – der Gewalt nicht
Antje Arndt kennt über die Mobile Opferberatung alle Betroffenen, die hier ihre Geschichte erzählen. Auch Ahmad. Er ist im Jahr 2015 aus Syrien vor Krieg und Gewalt geflohen, mit 16 Jahren. Aber auch in Halle ist er der Gefahr nicht entkommen. Sein Name ist ein Pseudonym, um ihn zu schützen.
Am 1. Mai 2020 fährt Ahmad nachts mit der Straßenbahn nach Halle-Neustadt. Als er umsteigen will, werden er und sein Begleiter von drei jungen Männern angegriffen. Die Täter beleidigen ihn rassistisch und schlagen ihn zu Boden. Sie treten gegen seinen Kopf, bis er das Bewusstsein verliert. Er überlebt nur mit Glück. Die Justiz erhebt Anklage wegen versuchten Totschlags.
Ahmad hatte seit seiner Flucht aus Syrien immer einen Plan: Er will sich hier in Deutschland ein neues Leben aufbauen. Er lernt schnell Deutsch, macht einen Schulabschluss. Er ist selbstbewusst und hat eine positive Ausstrahlung. "Zweistein", nennt er sich lachend in der Schule, einen zweiten Einstein. Weil er gut lernen kann, wird er gefördert. Er findet Freunde in Halle und Lehrer, die ihn unterstützen.
Aber auch rassistische Beleidigungen gehören von Anfang an zu Ahmads Alltag in Halle. "Ich habe auf der Straße mitbekommen, dass die Menschen über mich reden: in einer Art und Weise, die nicht schön ist. Das passiert nicht jeden Tag, aber immer", erzählt der 21-Jährige. Er erwartet es praktisch schon, sobald er aus dem Haus geht.
Die Beleidigungen hören nie auf
Der lebensgefährliche Angriff hat ihn gezeichnet. Die Narbe auf seiner Stirn lässt erahnen, wie schwer der oder die Täter zugetreten haben. Er muss jetzt immer Brille tragen. Der Angriff hat auch seine Zielstrebigkeit unterbrochen, seinen Plan. "Das strengt mich sehr an." Bis auf weiteres geht er nicht mehr zur Schule. Zu tief sitzen die Spuren der Gewalt. Und die Beleidigungen des Alltags haben auch nach dem Angriff nicht aufgehört. Nachts geht er jetzt nicht mehr raus in Halle-Neustadt.
Als er hier in Halle im Alter von 16 Jahren ankam, da hat er sich vorgestellt, wie das wohl wird in diesem fremden Land. Er hat gedacht: Vielleicht ist das die Stadt, in der ich eine Familie gründe und alt werde. Aber das denkt er heute nicht mehr. "Einem Freund von mir wurde gesagt: 'Es tut mir leid, dass Sie in Halle leben.' Vor dem Angriff hätte ich geantwortet: 'Kann alles passieren.' Nach dem Angriff hätte ich geantwortet: 'Mir auch.'