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Freitag, 31.08.2018
Perspektiven
Leben in der Karikatur
Aus der Ferne lässt es sich gut und vor allem ohne Risiko über Chemnitz und seine Bewohner urteilen. Diese Herablassung ist einfach unerträglich.
von Hanka Kliese
© privat
Nachdem alle reichlich über den Hutbürger lachen durften, kommt nun der nächste Knaller aus dem satireträchtigsten aller Bundesländer: Straßenschlachten in Chemnitz. Na klar, wo sonst? Hier, wo die Menschen einen wenig vornehmen Dialekt sprechen, seit der Wende arbeitslos oder undankbar sind. Unsere Stadt ist nun der Kulminationspunkt gewalttätiger Auseinandersetzungen, die es so nur in Sachsen geben kann, oder? Seit Jahren ist unser Bundesland in der öffentlichen Wahrnehmung eine einzige Karikatur.
Es gibt Menschen, die leben in dieser Karikatur. Das sind solche wie meine Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde und ich. Menschen, die sich seit den 1990er-Jahren hier gegen Ausländerfeindlichkeit engagieren; Demonstrationen organisieren, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionsabende durchführen. Wir sind keine Exoten und wir sind auch nicht das, was andere gern „mutig“ nennen.
Wir tun das, was uns in unserem Heranwachsen als die einzige Möglichkeit erschien. Wir sind nicht aufgewachsen in einem behaglichen Klima mit freundlichen türkischen und kroatischen Mitschülern, die das Thema Ausländerfeindlichkeit absurd erscheinen lassen. In unserer Klasse gab es keine netten Migranten (es gab nämlich gar keine), dafür mindestens einen Jungen mit Bomberjacke, der gerne Prügel anbot und am Wochenende „Zecken klatschen“ ging. „Zecken“ waren übrigens nicht nur Punks, sondern grundsätzlich alle, die nicht so gerne Bomberjacken trugen. Die Leute, die nun in sozialen Netzwerken über eine Abspaltung Sachsens zu scherzen pflegen, kennen Neonazis eher aus dem Dossier des Wochenblatts Zeit. Wir kennen sie aus dem Jugendklub. Aus dem Sportverein, vom Rummelplatz, aus der Schule. Was gerade in Chemnitz passiert, ist verstörend und beängstigend. Doch es ist keine Überraschung.
Die gewaltbereite Neonazi-Szene existiert hier, zumal im Umfeld der Fußballvereine, schon lange. Anfang der 1990er-Jahren gründeten sich in Chemnitz die „HooNaRa“ – das steht für Hooligans, Nazis, Rassisten. Aus ihr ging ein Security-Service hervor, der jahrelang beim Pressefest der Stadt Chemnitz durch die Freie Presse eingesetzt wurde, lange Zeit beschützten sie vertraglich abgesichert den Chemnitzer FC (heute nur noch als „Auffüller“).
Wer wissen möchte, wie sich am Sonntag spontan 1 000 Demonstranten und unter ihnen eben reichlich gewaltbereite Hooligans binnen kurzer Zeit zusammenrotten konnten, der sei an ein Zitat des „HooNaRa“-Gründers Thomas Haller erinnert: „,HooNaRa‘ gibt es nicht mehr, aber in einer halben Stunde sind wir da.“ Es brauchte viel Ausdauer, einer solchen Szenedynamik die Stirn zu bieten, doch es gab auch genügend Menschen, die sich von offizieller Seite gegen solche Verstrickungen einsetzten. Politikerinnen und Politiker, die nicht müde wurden, auf die Gefahren durch Rechtsextremismus zu verweisen, kassierten Morddrohungen und Anschläge auf ihre Büros. Wie mögen sie sich fühlen, wenn Sachsen ständig als das Land, in dem „die Politik“ nichts tut, dargestellt wird? Da sitzen Leute im Westen in ihren warmen Büros und maßen sich an, über die hiesige Zivilgesellschaft und deren Nichtexistenz zu salbadern, während hier die Engagierten seit Jahren mit Drohbriefen leben und trotzdem gegen Nazis auf die Straße gehen. Ihr müsst uns nicht helfen, aber erspart uns Eure Herablassung!
Für mein Bundesland gibt es nichts schönzureden. Denn das alles gibt es hier wirklich; Polizisten, die Pegida nahestehen. Einen Ministerpräsidenten, der viel sagt, aber an der entscheidenden Stelle schweigt. Einen CDU-Fraktionschef, der die öffentlich-rechtlichen Medien in primitivster Manier angreift. Journalisten, die auf Demonstrationen nicht ausreichend geschützt werden.
Und, was gibt es hier eigentlich noch? Polizisten, die zuletzt als private Teilnehmer auf der Demonstration von „Chemnitz nazifrei“ waren (ich kenne zumindest einen), Pfarrerinnen, die ihr Haus für Flüchtlinge öffnen und mit ihnen Deutschunterricht gestalten, Studierende, die Patenschaften für geflüchtete Familien übernehmen, Rentner, die in Begegnungsstätten mit syrischen Kindern spielen, als seien sie ihre Großeltern. Mein Montagabend endete mit dem Geräusch von Sirenen und Hubschraubern, das ins Kinderzimmer drang und bis 23 Uhr nicht endete. Mein Dienstag beginnt mit Chemnitz in allen Schlagzeilen des Landes.
Ich liebe meine Stadt. Ich kenne ihre Abgründe besser als viele, die gerade darüber richten wollen. Und ich kenne die vielen anständigen Leute hier, die jetzt Kraft und Zuversicht brauchen.
Es hat in den letzten 15 Jahren in Chemnitz so viele Demonstrationen gegen Rechtsextreme gegeben, bei denen wir eine gute Präsenz hatten und stolz darauf waren. Zuletzt am 1. Mai. Nun ist der Besuch einer Demonstration mit deutlich mehr Gefahren verbunden, das suggerieren nicht nur die Bilder im Fernsehen. Wer einmal diesen rohen, schrankartigen Gestalten gegenüberstand, in ihre stumpfen Gesichter blickte, kennt den Ernst der Lage.
Eine explosive Mischung aus klammheimlich Erfreuten (AfD, Pro Chemnitz), die einfach Lunte legen und abwarten, und jenen, die schon immer eine Lizenz zum Hinlangen haben wollten, wird in den nächsten Tagen über unsere Stadt bestimmen, sofern die Polizei die Lage nicht besser in den Griff bekommt. Was wir jetzt hier brauchen, ist Solidarität und keine Klug♥♥♥r. Also bleibt in Eurer Behaglichkeit oder nehmt endlich wahr, dass es auch noch andere Menschen in Sachsen gibt. An alle, die das bereits getan haben – danke für Euer ehrliches Interesse, das tut gut.
Ich möchte nicht zu dem Vorfall schweigen, der das alles ausgelöst hat. Es ist bislang noch sehr wenig darüber bekannt. Was wir wissen, ist, dass die Tatverdächtigen aus Syrien und dem Irak stammen und das Opfer in Chemnitz aufgewachsen ist. Während ich das schreibe, bedauere ich, dass die Nationalitäten relevant sind. Es sind doch alles Menschen. Was soll man mit diesen Informationen anfangen? Zunächst um einen jungen Menschen trauern, der aus dem Leben gerissen wurde. Auch dafür sollte in diesen unruhigen Zeiten Platz sein.
Unsere Autorin: Hanka Kliese, 1980 in Pasewalk geboren, hat in Chemnitz Politikwissenschaften studiert, ist seit 2000 Mitglied der SPD und sitzt seit 2009 für ihre Partei im sächsischen Landtag.
Unter dem Titel Perspektiven veröffentlicht die SZ kontroverse Texte, die zur Diskussion anregen sollen.