Hat wer nen Zugang?
Text steht unten im Spoiler, nach einem ersten Lesen klingt das sehr stark nach einer "klassischen Karriere" in dem Umfeld: Querulantentum, Wahnwichtelei, Rechtsradikalismus, Pegida,Steuerverweigerung. Der Wahn ging wohl tiefer, wenn er dann Suizid verübt hat, das passiert ja glücklicherweise eher selten.
Spoiler
Der rudernde "Reichsbürger"
Ingenieur R. wird mit der Zeit immer seltsamer. Nachbarn und Ruderkameraden erleben mit, wie er sich tiefer und tiefer in Verschwörungstheorien verliert. Am Ende greift er zur Waffe - und tötet sich selbst.
Sie wollen mit Fantasieausweisen in den Urlaub fliegen. Sie glauben an wirre Verschwörungstheorien, an den Fortbestand des Deutschen Reichs. Sie weigern sich, Steuern oder Bußgelder zu zahlen. Lange Zeit wurden sogenannte Reichsbürger lediglich für bizarre Spinner gehalten. Dann fallen Schüsse, im Oktober 2016 im mittelfränkischen Georgensgmünd. Elfmal feuert ein "Reichsbürger" auf Polizisten. Ein Beamter stirbt, zwei erleiden schwere Verletzungen. Ein knappes Jahr später greift dann in Garching ein 43-jähriger Ingenieur zur Waffe - und richtet sie gegen sich selbst. Der Schuss fällt am 30. Mai 2017. Dass etwas Schlimmes passieren würde, hatte sich längst angebahnt. Nachbarn und Bekannte erlebten mit, wie R. - das ist sein abgekürzter Vorname - mit der Zeit immer seltsamer wurde.
"R. war von Anfang an ein bisschen anders", erzählt sein Nachbar. "Aber es ist die Reichsbürgerbewegung, die ihn das Leben gekostet hat." Zu Beginn sei er vielleicht etwas still und seltsam gewesen, erinnern sich ein paar Münchner Ruderer, die mit R. beim Sport im gleichen Boot saßen. Später habe er immer wieder so komische Sachen gesagt. Und am Ende, so beschreiben es viele seiner Bekannten, sei er überhaupt nicht mehr erreichbar gewesen in seiner "Blase".
Weil R. keinen Fernseher besitzt, will er seinen Anteil am Kabelanschluss des Mietshauses nicht bezahlen. "Bei den Eigentümerversammlungen hat er immer quergeschossen, ohne wirklichen Grund", erzählt eine Nachbarin. Als die Besitzer der Erdgeschosswohnung dann einen Zaun um ihren Garten bauen wollen, stimmt R. nicht zu. "Er war immer der Einzige, der eine andere Meinung vertreten hat. Einer gegen alle, alle gegen einen", erinnert sich ein Nachbar. Mehrere Streitigkeiten enden sogar vor Gericht.
Der 43-Jährige lebt allein, er hat keine Kinder, bekommt nie Besuch, macht nie Lärm. "Wenn man ihn im Treppenhaus getroffen hat, wirkte er nervös und extrem unsicher. Man konnte ihm nicht die Hand geben, er war irgendwie unantastbar", beschreibt ihn der Nachbar. "Ich habe so ein Verhalten noch nie erlebt. Er war wie auf der Flucht."
Ruderkameraden berichten Ähnliches. Sie erinnern sich, wie er oft einfach nur so dastand, nachdem er sich beim Training mehr reingehängt hatte als alle anderen. Oder wie er ab und zu den Grill putzte, "mit dem Rücken zur Wand", als wolle er sich absichern. Acht Jahre ruderte die Gruppe zusammen, R. immer, "bis er völlig kaputt war". Nett sei er gewesen - aber skurril, kauzig. "Man hat oft die Augen verdreht", sagt ein Freund aus dem Ruderklub. "Dass er rechts ist", sagt eine Sportfreundin, sei anfangs gar nicht so deutlich gewesen. "Ich hätte den nie als rechtsradikal erkannt", sagt auch die Trainerin.
Nur wenige "Reichsbürger" seien Rechtsextremisten, behaupten Sicherheitsbehörden noch heute. Damit meinen sie vor allem, dass sie in der Regel keiner rechtsradikalen Gruppierung angehören. Die Fachinformationsstelle Rechtsextremismus in München warnt hingegen: "Erhebliche Teile der Reichsbürgerbewegung pflegen neben ihren verschwörungsideologischen Konstrukten ein völkisches bis rechtsradikales Weltbild."
Schwulenfeindlich, ja, so habe sich R. schon mal geäußert. Auch frauenfeindlich. Dann habe man ihn zur Rede gestellt und anschließend sei wieder Ruhe gewesen. "Der R. halt mal wieder", dachte man. Halb so wild. Auch am Abend der Bundestagswahl 2013, als R. plötzlich von einem "abgekarteten Spiel" spricht. Oder bei der Fußballweltmeisterschaft 2014, als jemand eine Satellitenschüssel aufbaut. "Satelliten?", habe der Ingenieur da gesagt. "Die gibt's doch nicht." Auch keine Bakterien, keine Atomkraft, kein Aids. R. habe nicht diskutieren wollen, er habe Statements abgegeben, berichten seine Bekannten. Sobald man ihn widerlegt habe, sei er sofort mit der nächsten Verschwörungstheorie um die Ecke gekommen.
"Lassen Sie sich nicht auf Diskussionen ein", warnen Experten Mitarbeiter in Behörden und Ämtern, die mit einem "Reichsbürger" konfrontiert sind. Die Ruderer warnt damals niemand, warum auch? Im Gegenteil: Sie warnen ihren Sportsfreund: "Noch einmal so einen Satz, und du kannst gehen", drohen sie, als R. eines Tages behauptet, die Konzentrationslager der Nationalsozialisten habe es nie gegeben. Woher er solchen Mist denn habe, wollen die Mitruderer von R. wissen. Auf Youtube könne man das alles sehen, antwortet er. Dort werde alles ganz klar gezeigt. Auch das mit den Freimaurern, die an allem schuld seien. Und Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sei eine von ihnen.
An einem Sonntagabend im Frühjahr 2015 trifft einer der Ruderer R. in der S-Bahn. Er sei auf dem Weg zu "Freunden nach Dresden", sagt R., am Dienstag werde er wieder zurück sein. Es ist die Zeit der großen Pegida-Aufmärsche, die jeden Montagabend durch Dresden ziehen. In der S-Bahn hat R. einen großen, länglichen Karton bei sich. Ein Transparent? Der Nachbar hatte kurz zuvor ein solches Paket für R. angenommen, Absender war ein Stofffachhändler aus den neuen Bundesländern. Inzwischen äußert sich R. beim Rudern immer wieder abfällig über Flüchtlinge. Bei einem Treffen im Dezember 2015 wird hitzig über das Thema diskutiert. R. hört lange schweigend zu, dann sagt er: "Wenn das so weitergeht, muss man sich eben selbst wehren. Zur Not mit Waffen."
Der 43-Jährige hat inzwischen den Jagdschein gemacht. Seine Nachbarn erfahren davon. Sie glauben nicht so recht, dass er wirklich an der Jagd interessiert ist. Später wird die Polizei zwei Gewehre und eine Pistole in seiner Wohnung finden. Im Februar 2017 erklärt das Landratsamt München den Jagdschein für ungültig. Zu diesem Zeitpunkt ist den Behörden bereits klar, dass R. ein "Reichsbürger" ist - und die sollen ihre Waffen abgeben. Doch R. gibt seine Waffen nicht ab, trotz mehrmaliger Aufforderung. Weil er sich weigert, soll Ende Mai ein Durchsuchungsbeschluss beim zuständigen Verwaltungsgericht erwirkt werden, bestätigt das Landratsamt.
Bevor er seinen Job verliere, werde es "knallen", kündigt R. an
Doch so weit wird es nicht kommen. Das Landratsamt ist in dieser Zeit nicht die einzige staatliche Stelle, die auf R. aufmerksam wird. Garchings Bürgermeister Dietmar Gruchmann berichtet: "Er hat uns einen längeren Brief geschrieben und gesagt, dass er keine Steuern mehr zahlen werde, weil mit seinem Geld ,Neger' finanziert würden." Das Rathaus informiert die Polizei und bekommt von den Ermittlern die Rückmeldung, R. sei zwar als "Reichsbürger" bekannt, bisher aber nicht aggressiv aufgefallen und auch sonst liege nichts gegen ihn vor.
Im Haus gibt es derweil Ärger. R. hängt eine Reichskriegsflagge über die Balkonbrüstung. "Ab dem Zeitpunkt habe ich erst verstanden, was er für einer war", sagt eine Nachbarin. Hausbewohner beschweren sich und fordern, dass die schwarz-weiß-rote Fahne weg muss. Die Flagge verschwindet tatsächlich, aber der Ärger bleibt. Immer öfter argumentiert R. bei den Eigentümerversammlungen damit, dass er Vorschriften und Gesetze nicht einhalten werde, weil er die Bundesrepublik nicht anerkenne. Stattdessen beruft er sich auf das Deutsche Reich. "Er war sehr belesen", erinnert sich ein Nachbar. "Juristisch kannte er sich sehr gut aus."
Diesen Eindruck erwecken viele "Reichsbürger". Die Schriftsätze, die sie an Behörden und Gerichte schicken, sind oft seitenlange Elaborate, gestützt auf krude Quellen und deren noch krudere Interpretation. "Paper terrorism", Papierterrorismus, nennen das Experten. Als die Tiraden immer schlimmer werden, erteilt die Eigentümerversammlung R. Mitte 2016 schließlich Redeverbot.
Woher R. weiß, was er zu wissen glaubt? Eine Nachbarin vom Vorderhaus kann in seine Wohnung schauen. "Tag und Nacht", so erzählt sie, habe er am Computer gesessen. "Ich habe den Eindruck, dass er daheim im Online-Sumpf versunken ist", erzählt ein Freund aus dem Ruderklub. Ein Nachbar berichtet, die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit steckte bei R. im Briefkasten. "Er hat alles aufgesogen, was er gelesen hat", erzählt einer. Immer wieder, auch im Rückblick, fällt der Satz: "Im Grunde war er kein Rechtsradikaler." Doch R. ist Überzeugungstäter.
339 "Reichsbürger"
So viele Anhänger der Bewegung sind dem Polizeipräsidium München derzeit namentlich bekannt, knapp 90 davon leben im Landkreis. Da Insgesamt 24 Delikte wurden vergangenes Jahr von "Reichsbürgern" aus Stadt und Landkreis München verübt. In 15 Fällen handelt es sich laut Polizei um Erpressungen, Nötigungen oder Bedrohungen. Die meisten Straftaten tauchen in der offiziellen Statistik unter "Politisch motivierte Kriminalität - nicht zuzuordnen" auf, nur drei wurden als rechts motiviert eingestuft. Das geschieht laut Polizei dann, wenn Bezüge zum völkischen Nationalismus, Rassismus, Sozialdarwinismus oder Nationalsozialismus "mitursächlich für die Tatbegehung" waren.
Die Reichskriegsflagge vom Balkon kostet ihn letztlich den Job. Der "Reichsbürger" arbeitet ausgerechnet für eine Bundesbehörde. Nachdem er seine Fahne zuhause wieder abgehängt hat, bringt er sie in seinem Büro an. Sein Arbeitgeber suspendiert R. daraufhin vom Dienst. Immer verworrener und fanatischer sei er geworden, sagt ein Freund. Bevor er tatsächlich seinen Job verliere, werde es "knallen", kündigt R. an. Droht er mit einem Amoklauf? Im Haus geht das Gerücht um. Zwei Freunde gehen zur Polizei. Dort erfahren sie: Die Sicherheitsbehörden haben R. bereits auf dem Schirm.
Ein letztes Mal, einen Monat vor seinem Suizid, kommt R. im April 2017 zu einer Regatta mit. Aber etwas ist anders. Später fällt seinen Bekannten auf, dass R. auf dem Gruppenfoto im Abseits steht. Sie glauben nicht an einen Zufall. Die Ruderer beschließen zu handeln. Sie wollen einen Psychologen in ihre Gruppe einschleusen. Vielleicht, so hoffen sie, kann der den 43-Jährigen noch irgendwie erreichen. Doch dafür ist es schon zu spät.
In der Nacht auf den 30. Mai 2017 beobachtet die Nachbarin vom Vorderhaus wieder einmal, wie R. um Mitternacht in seiner Wohnung "herumgeistert". Immer wieder habe er innegehalten und tief durchgeatmet. Sein Nachbar erfährt später, dass R. den Wecker auf 3.45 Uhr gestellt hat, um einen Zettel an die gegenüberliegende Wohnungstür zu hängen. In krakeliger Schrift steht darauf: "Liebe Nachbarn, verständigt bitte die Polizei. Ich musste mir das Leben nehmen." Um 8.10 Uhr entdeckt der Nachbar den Zettel und ruft die Polizei.
Ein Spezialeinsatzkommando rückt an, wartet aber sicherheitshalber einige Stunden bis zum Zugriff. Das Haus wird evakuiert, die Umgebung, in der sich eine Grundschule, ein Kindergarten, ein Gymnasium und ein Hotel befinden, weiträumig absperrt. Die tödlichen Schüsse von Georgensgmünd hallen noch nach. Schließlich dringen Polizisten über die Dachterrasse in die Wohnung ein. Dort finden sie R. Er ist tot.
Als die Ruderfreunde vom Polizeieinsatz in Garching hören, wissen sie sofort: "Das kann nur der R. sein." Geschockt sind sie, ja. Aber überrascht? Jemand gibt zu, dass auch Erleichterung dabei gewesen sei. Erleichterung, dass R. die Waffe nicht gegen andere gerichtet habe.
Sie habe eigentlich keine Angst vor R. gehabt, sagt eine andere Nachbarin. "Ich habe immer gedacht: Der hat mehr Probleme mit sich als wir mit ihm."