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LÖBAU
12.06.2020 10:00 Uhr
Warum wehen an der B96 die Reichsfarben?
Bei "Stillen Protesten" tauchen schwarz-weiß-rote Fahnen immer häufiger auf - das ist nicht unumstritten. Doch wofür stehen die Farben eigentlich?
Ingrid Weitz schwenkt am 17. Mai eine Fahne mit den Farben des Deutschen Reichs an der B96. © Matthias Weber/photoweber.de
Von Anja Beutler 4 Min. Lesedauer
Ingrid Weitz steht Mitte Mai an der B96. Sie nimmt wie viele am "Stillen Protest" teil. Und sie schwenkt an diesem Mai-Sonntag eine schwarz-weiß-rote Fahne. Auch das tun inzwischen immer mehr Teilnehmer dieser Proteste. Die Farben des deutschen Kaiserreiches mischen sich häufiger unter Deutschland- und Sachsenfahnen, aber auch unter Oberlausitz-Flaggen, schwedische Fahnen und Transparente. Aber wofür genau stehen die schwarz-weiß-roten Fahnen eigentlich?
Eine wichtige Frage, schließlich sind Symbole bei einem "Stillen Protest" ja wichtige Ausdrucksmittel. Dirk van Laak, Professor für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Leipzig, sieht darin zunächst ein Zeichen des Protestes: "Historisch gesehen, sind die Farben in der Weimarer Zeit eigentlich ein Dokument der Opposition gegen ein republikanisches Verständnis in Deutschland", erklärt er. Somit stehen diese Farben für ein eher hierarchisches Deutschland, für Nationalpatriotismus, Chauvinismus und gewissermaßen auch für eine gewisse kaiserzeitliche imperiale Größe, führt er weiter aus. Doch so ganz klar ist die Sache deshalb nicht.
Grundrechte und Kaiserreich eher Gegensätze
Denn mit dem Einsatz für das Grundgesetz und die Kritik daran, dass Grundrechte durch die Corona-Maßnahmen zeitweise eingeschränkt wurden - wofür die Proteste an der B96 ausdrücklich stehen sollen - haben diese Farben und Fahnen eher nichts gemein. Dafür stehe die Kombination von Schwarz, Rot und Gold. "Das sind die Farben, die auf das Hambacher Fest 1832 zurückgehen, auf die fortschrittliche Studentenbewegung, den Vormärz", sortiert van Laak ein.
Das sieht sein Kollege an der TU Dresden, Professor Frank-Michael Kuhlemann, Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neuste Geschichte und Didaktik der Geschichte, ganz ähnlich: "Im Vormärz ging es um Grund- und Freiheitsrechte, Versammlungs- und Meinungsfreiheit", erklärt Kuhlemann. Und er sieht in den Reichsfarben Schwarz, Weiß, Rot die Verbindung zu einem zwar modernisierungsfähigen Kaiserreich, das in seinem Kern aber autoritär agierte: Vor allem in Form der Sozialistengesetze, die das Verbot von sozialistischen Parteien ermöglichten, aber auch durch den Kulturkampf mit seinen, die Rechte von katholischer Kirche, Geistlichen und Journalisten einschränkenden Maßnahmen.
Am Pfingstsonntag wehten in Oderwitz viele Fahnen - darunter in den Farben der Bundesrepublik und des Deutschen Reiches. © Matthias Weber/photoweber.de
Ob mit oder ohne Emblem in der Mitte - schwarz-weiß-rote Fahnen sind bei den Protesten entlang der B96 häufiger zu sehen. © Matthias Weber/photoweber.de
Ob all diese Facetten auch die Demonstranten vor Augen haben, weiß Historiker Dirk van Laak natürlich nicht. Es wirke auf den Betrachter eher wie ein hilfloses Spiel mit Botschaften, vieles sei auch nicht trennscharf. Aus der Geschichte ergibt sich für ihn momentan aber der Eindruck, dass die Protestierenden eine eher nationalstaatliche Volksgemeinschaft vor Augen haben, sie sich gegen Migration, Pluralität - und damit gegen Merkel richtet. Van Laak vermutet, dass die Reichsfarben-Schwenker an Zeiten erinnern wollen, die ihnen als besser gelten. "Da kann es einen als Historiker nur schaudern", sagt er und erklärt: "Diese Zeiten damals waren weder stabil noch angenehm, es war ein autoritäres, stark hierarchisches, von Privilegien durchsetztes System, keine parlamentarische Demokratie."
Wofür genau die Fahnen stehen und ob man mit diesen Farben nicht automatisch in "einen Topf" mit Reichsbürgern und ähnlichen Bewegungen geworfen werde - das ist auch in den sozialen Netzwerken und bei den Mitstreitern an der B96 Thema. Manche wünschen sich, dass man dem Schwenken fraglicher oder missverständlicher Fahnen Einhalt gebieten solle, andere sehen die Fahnendiskussion nur als Versuch, um ihren Protest in eine politische Ecke zu stellen und die Protestierer auseinander zu bringen - deshalb solle man geschlossen bleiben. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum einige der Protestierenden mit Journalisten nicht reden wollen, sondern sich eher aggressiv zeigen.
Auch die Initiatoren scheinen über manche Meinungsäußerungen nicht immer glücklich. Doch bei dieser Form des Protestes ist es für die Initiatoren kaum möglich, alles und jeden am Straßenrand im Auge zu haben und gegebenenfalls einzugreifen. Doch sind die Fahnen und die nicht wirklich klare Haltung dahinter für manche der entscheidende Grund, nicht oder nicht mehr an den Protesten teilzunehmen.
Aber echtes "Verständnis für die Reichsflaggenträger" klingt aber m.E. doch noch etwas anders.