Das folgende ist eigentlich vom Inhalt schon lange her klar – daher hier nur zur Ergänzung:
Spoiler
Hohe Zäune, Stacheldraht, schwer bewaffnete Polizisten und Militärs. In fast allen der 50 Hauptstädte von US-Bundesstaaten und in Washington, D.C., erinnerte Sonntagabend nur noch wenig an eine friedliche Machtübergabe von Präsident zu Präsident, so wie die amerikanische Demokratie sie vorsieht. Stattdessen gab es Bilder wie aus dem Bürgerkrieg. Allein: Das Großaufgebot der Sicherheitskräfte hatte vorerst wenig zu tun. Wohl auch wegen der zahlreichen Warnungen blieben radikale Anhänger Donald Trumps den eigentlich angekündigten Protesten gegen dessen Abwahl großteils fern. Einzig in Lansing, der Hauptstadt von Michigan, im texanischen Austin und in Columbus, Ohio, waren einige Dutzend bewaffnete Paramilitärs sowie mehrere Gegendemonstranten erschienen. Ausschreitungen blieben aus.
Hintergrund sind auch die Meldungen der vergangenen Tage, in denen US-Medien eindringlich vor Demonstrationen am Sonntag gewarnt haben. In den noch offenen Foren, in denen sich Trumps rechtsradikale Anhänger formieren, hieß es daher, man solle Veranstaltungen am Sonntag besser fernbleiben. Der Aufmarsch der Sicherheitskräfte sei zu groß, Verhaftungen und Identifizierungen seien zu wahrscheinlich. Und: Es sei ja noch lange nicht aller Tage Abend. Am 20. Jänner, dem Tag der Angelobung Joe Bidens, sind ohnehin auch "bewaffnete Protestmärsche" geplant. Und diesem Tag gilt nun auch die besondere Sorge der Sicherheitskräfte. Ob die Zeremonie wirklich auf den Stufen des Kapitols stattfinden kann, ist unsicher. Zwar fordert die Biden-Kampagne dies bisher vehement. Spekulationen darüber, man könnte den Amtseid vielleicht am Ende doch ins Innere des Gebäudes verlegen, bekamen am Sonntag aber Auftrieb.
"Cruz würde wollen, das wir das tun!"
Bisher jedenfalls sind die Bauarbeiten auf den Stufen des Kapitols noch im Gange. Dort wird jene Bühne errichtet, wo seit Ronald Reagans zweiter Angelobung, die wegen der Kälte 1985 im Kapitol stattfand, alle US-Präsidenten ihren Schwur auf die Verfassung geleistet hatten. Dort, auf den Stufen des Kapitols, hatten sich am 6. Jänner auch jene Gruppen eingefunden, wegen derer nun die Sicherheitsbedenken bestehen: fanatische Anhänger des US-Präsidenten und Mitglieder rechtsradikale Milizen, die an diesem Tag ins US-Kapitol eindrangen und so die Auszählung der Stimmen aus dem US-Wahlleutekollegium durch den Kongress verzögerten.
Ein neues, zwölfminütiges Video, das am Wochenende im "New Yorker" veröffentlicht wurde, zeigt nun bisher unbekannte Szenen des Sturms. Der Reporter Luke Mogelson, der einst an Kriegsschauplätzen im Einsatz war, nun aber seit Monaten Trumps fanatische Anhänger begleitet, war mit seiner Kamera den Eindringlingen bis in die Senatskammer gefolgt. Später hat er auch eine Reportage dazu verfasst. Was auf seinen Bildern zu sehen ist, belegt vieles, das schon bisher bekannt war: Bei den Eindringlingen hatte es sich um Fans von Trump, nicht um Provokateure der Antifa-Bewegung gehandelt, wie manche Anhänger des Präsidenten das noch immer behaupten. Und: Sie agierten ihrem eigenen Eindruck nach im Namen des Präsidenten und von dessen Verbündeten.
Den Polizisten etwa rufen sie entgegen, sie seien "für Trump da – euren Boss!". Und als sich einige der Randalierer im Sitzungssaal des Senats durch dort herumliegende Papiere des texanischen Senators Ted Cruz wühlen, sagt einer von ihnen, dies sei für Cruz gewiss kein Problem. "Cruz würde wollen, dass wir das tun. Ich glaube, das passt so." Viel zu hören ist auch vom Hass auf andere Mandatarinnen und Mandatare. Unter anderem wird in der Kammer auch gebetet.
Zuvor, als die Randalierer den Senatssaal betreten, hört man mehrere nach "Nancy" rufen – Nancy Pelosi, der Sprecherin des Repräsentantenhauses, jener Demokratin, die den Trump-Anhängern besonders verhasst ist. "Wo zum Teufel ist Nancy?", sagt später ein weiterer, als der Sitzungssaal gestürmt wird. Und jener Mann mit Pelzumhang und Hörnern, der sich selbst als "QAnon-Schamane" bezeichnet, hinterlässt Pelosi sogar eine schriftliche Nachricht: "Es ist nur eine Frage der Zeit / Die Gerechtigkeit wartet auf Sie!"
"Vier Millionen auf dem Weg!"
Nüchtern kommentiert wird das von einem einsamen Polizisten, der sich mit den Randalierern im Saal befindet, mit den Worten: "Ich habe den Eindruck, Sie überschreiten gerade eine Grenze." Schon zuvor hatte der Mann versucht, auf die Mitglieder des Mob einzureden. Man solle bedenken, dass man sich im Heiligsten der US-Demokratie befindet, sagt er ihnen etwa, als mehrere von ihnen beginnen, sich auf dem Sessel von US-Vizepräsident Mike Pence niederzulassen und sich dort fotografieren zu lassen. Kurz löst er damit tatsächlich eine Debatte aus. Die Randalierer einigen sich darauf, den Sessel wieder zu verlassen. Bis der "QAnon-Schamane" den Raum betritt und sich erst recht dort niederlässt.
Überhaupt, das Verhältnis zur Polizei: Mehrfach ist auf dem Video zu hören, wie Randalierer den Polizisten sagen, sie sollten doch "bitte jetzt keinen Widerstand mehr" leisten, man sei schließlich auf der gleichen Seite; und wie sie mit massiver Verstärkung rechnen. "Da draußen ist eine halbe Million Leute", sagt einer. "Vier Millionen sind auf dem Weg", sagt ein anderer. Als die Polizei sich dennoch widersetzt, bricht dann aber doch der Ruf "Fuck The Blue!" aus. Mehrere Polizisten wurden im Rahmen der Randale schließlich auch verletzt, einer von einem geworfenen Feuerlöscher erschlagen. Ein weiterer Beamter beging wenige Tage nach den Ereignissen Suizid.
Festnahmen und Begnadigungen
Zahlreiche Protagonisten des Videos sind mittlerweile in Haft, unter ihnen auch "QAnon-Schamane" Jacob Chansley, dem die Behörden vorwerfen, er habe sich einer Gruppe angeschlossen, die Abgeordnete gefangen nehmen und töten habe wollen. Andere, die bei dem Sturm dabei waren, könnten nach Einschätzung der Behörden aber für den Tag der Angelobung weitere Aktionen planen. Anlass zur Sorge etwa: Mittlerweile haben die Sicherheitskräfte an den Checkpoints in Washington, D.C., schon mehrere Personen festgenommen, die mit Waffen in den abgesperrten Bereich vordringen wollten.
Ein Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes war am Samstag aufgefallen, weil er zahlreiche Aufkleber von Waffenlobbys auf seinem Ford F-150 kleben hatte. In dem Pick-up befanden sich mehrere Waffen und auch Munition, beides darf man ohne Registrierung in Washington nicht mitführen. Der Mann hatte eine gültige Akkreditierung für den Sicherheitsbereich im Umkreis des Kapitols, nicht aber für den engeren Bereich, in den er fahren wollte. Eine bewaffnete Frau stellte sich den Beamten am Sonntag als Mitarbeiterin der Sicherheitskräfte vor und präsentierte diesen eine Gedenkmünze. Sie konnte aber ebenfalls keine Berechtigung vorweisen und wurde daher vorerst festgenommen. In beiden Fällen ist unklar, ob es einen konkreten Tatverdacht oder Verbindungen zu radikalen Trumpisten gibt.
Weitere Begnadigungen
Der Präsident selbst hingegen plant offenbar noch eine große Runde an Begnadigungen, bevor er sich Mittwochvormittag mit einem letzten Flug in der Air Force One zu seinem Domizil in Mar-a-Lago, Florida, bringen lässt. Laut dem TV-Sender CNN plant der Staatschef aber nach aktuellem Stand eher nicht, sich selbst auf die Liste zu setzen. Auch seine engsten Familienmitglieder sind demnach nicht für eine Begnadigung vorgesehen. Beides könnte sich allerdings noch ändern. (Manuel Escher, 18.1.2021)
.