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Das Machtzentrum der USA, die Regierung Trump, ist zum zweiten Mal zu einem Herd von Sars-CoV-2-Ansteckungen geworden. Sie hat danach aber keine besonderen Schutzmassnahmen in Kraft gesetzt, sondern deutlicher als je zuvor signalisiert, dass sie ein Eindämmen der Virusausbreitung nicht mehr anstrebt. Diese Entwicklung vollzieht sich vor dem Hintergrund einer zweiten Welle von Ansteckungen und Hospitalisierungen, die ländlichere und republikanisch wählende Gebiete vorerst härter zu treffen scheint. Überraschend ist das nicht.
Wahlkämpfer
Am Samstag hatte das Weisse Haus trotz dem anfänglichen Widerstand des Stabschefs Mike Meadows bekanntgegeben, dass fünf Personen im Mitarbeiterteam des Vizepräsidenten Mike Pence positiv auf Sars-CoV-2 getestet worden waren. Tests von Pence selber sowie seiner Ehefrau Karen verliefen laut dem Ärzteteam des Weissen Hauses sowohl am Samstag als auch am Sonntag negativ – was bekannterweise keinen schlüssigen Beweis erbringt, dass Pence nicht auch selbst angesteckt wäre.
Die Gesundheitsbehörden der Regierung und selbst die Coronavirus-Task-Force, deren Leiter der Vizepräsident ist, sehen für Personen, in deren näherem Umfeld Infektionen registriert werden, normalerweise eine Quarantäne von 14 Tagen vor. Dass Pence sich in der letzten Woche des Wahlkampfs zurückziehen würde, war allerdings nie anzunehmen. Das Weisse Haus fand eine simple Lösung: Es erklärte Pence und andere kurzerhand zu essenziellen Mitarbeitern in der wesentlichen Infrastruktur, und diese sind von den Quarantänebestimmungen entbunden.
Am Sonntag verkündete der Stabschef im Weissen Haus, Mark Meadows, in einem Fernsehinterview öffentlich, was die Regierung Trump in ihrem Verhalten schon lange hatte erkennen lassen: Sie hat den Versuch, die Seuche mit dem Eindämmen von Ansteckungen zu bekämpfen, aufgegeben. Dafür sprach er vage davon, dass die amerikanische Regierung die Krankheit mit Impfungen, Behandlungsmethoden und anderen Mitteln zu ihrer Linderung unter Kontrolle bringen werde.
Meadows ist als früherer Abgeordneter im Repräsentantenhaus ein abgebrühter Politiker, und die Erklärung war sicherlich kein Versprecher. Ohne es je zuzugeben, hat sich die Regierung Trump immer klarer ins Lager derjenigen bewegt, die glauben, eine Art kontrollierter Durchseuchung werde bei minimalen Verlusten zur «Herdenimmunität» und damit zum Ende der Pandemie führen.
Die Idee ist jüngst beflügelt worden durch eine Deklaration von drei Medizinern der Universitäten Harvard, Oxford und Stanford, die ausserordentlich viel zu reden gab. Die sogenannte Great Barrington Declaration ist nach dem Ort Great Barrington in Massachusetts benannt, wo sie in der libertären Denkfabrik American Institute for Economic Research entstand. Sie fordert im Wesentlichen das Ende aller Einschränkungen des wirtschaftlichen Lebens für diejenigen, deren Gesundheitsrisiken überschaubar sind, gepaart mit einem konsequenten Schutz der Gefährdeten.
Die Deklaration ist in Wissenschaftskreisen schwer unter Beschuss geraten. Dabei stehen, wie in einem Meinungsbeitrag in der «New York Times» dargelegt, drei Thesen im Vordergrund. Die Deklaration gebe keine Antwort auf die Frage, wie die Gefährdeten wirksam geschützt werden könnten. Sie verharmlose die zum Teil schweren gesundheitlichen Probleme derjenigen, die nicht als Gefährdete gelten. Und schliesslich drückten sich die Befürworter der Deklaration vor jeder Angabe, wie viele Todesopfer ihre Politik fordern würde.
In die Begleitmusik für diese Auseinandersetzung haben sich laute Misstöne gemischt. Die Zahlen neuer Ansteckungen, die Raten von positiven Tests und die Zahl von Hospitalisierungen sind in den letzten Tagen alle in die Höhe geschnellt. Am Freitag und Samstag registrierten die USA die höchste Zahl bestätigter Neuinfektionen seit dem Ausbruch der Seuche.
Proportional am stärksten betroffen sind eher ländliche Gebiete, die republikanisch wählen: North Dakota, South Dakota, Montana, Wisconsin, Idaho und Utah. Die absoluten Zahlen mögen dort relativ bescheiden erscheinen. Doch die medizinische Versorgung in diesen Gegenden hat weite Maschen. In mehreren Regionen mussten Covid-19-Patienten schon in Spitälern ausserhalb des Gliedstaats untergebracht werden. In Milwaukee (Wisconsin) und Salt Lake City (Utah) wurden Feldspitäler eröffnet.
Flutwelle bei hohem Wasserstand
Auch in vielen Regionen der USA sind die Temperaturen in den letzten Wochen zurückgegangen, was die Aktivitäten der Bevölkerung ins Innere verlegt. Damit ist auch in Amerika die gefürchtete zweite Welle eine Tatsache. Aber im Unterschied zu vielen europäischen Ländern, wo die Ausbreitung des Virus über die Sommermonate praktisch unter Kontrolle gebracht worden war, beginnt die zweite Welle hier auf einem viel höheren Stand der Ansteckungen. Für konsequente Schutzmassnahmen, die den Schrecken aufhalten könnten, hat das Weisse Haus kein Gehör.