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Bernd Lucke spricht nicht so gern darüber, wo seine alte AfD heute programmatisch gelandet ist. Er sei nun mal nicht mehr dabei. Aber auch er beobachtet, dass sich die Partei immer weiter von der Ursprungsidee entfernt. "Die Grundausrichtung der AfD war sicherlich immer eine wirtschaftsliberale Ausrichtung gewesen", sagt Lucke im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio. Der 55-Jährige sitzt in seinem Brüsseler Büro, wo er als Europabgeordneter weiter für eine andere Euro-Politik kämpft.
Der Mann, der ihn 2015 gemeinsam mit Frauke Petry vom Parteisockel stürzte, heißt Björn Höcke. Die politischen Ideen des Thüringer Landeschefs klingen anders. "Wir lehnen - weil wir es auch als Misserfolgsgeschichte erleben - den neoliberalen Ansatz ab", sagt Höcke.
"Verelendung ganzer Alterskohorten verhindern"
Nach Lucke stürzte auch Frauke Petry. Ebenfalls über Höcke. Auch Petry hatte andere, konservativ liberale Ideen im Kopf. Höcke hingegen ist in der Politik, um "die Verelendung ganzer Alterskohorten zu verhindern".
Deutschland habe den größten Niedriglohnsektor in Europa, behauptete der 46-Jährige bei der Vorstellung des Rentenkonzepts seiner Landtagsfraktion in Berlin. Die Ideen haben kaum noch etwas mit der alten AfD aus Gründungszeiten zu tun.
Lucke erinnert sich, was zu seiner Zeit beim Thema Rente Konsens war: "Wir müssen den Bürgern reinen Wein einschenken." Man müsse sagen, dass man eine "komplementäre, möglichst kapitalgedeckte Absicherung des Risikos" brauche. "Was man im Alter eben hat, weil man nicht mehr erwerbstätig ist." Sprich Eigenvorsorge.
Höcke klingt wie ein Politiker der Linkspartei
Höcke klingt mit seinen Überzeugungen eher wie ein Politiker der Linkspartei: "Die systematische Zerstörung der gesetzlichen Rente mit der Zermürbung des Arbeitsmarktes ist als der sozialpolitische Sündenfall der Altparteien zu benennen", so der AfD-Fraktionsvorsitzende des Thüringer Landtags. Wortwahl, Idee, Ausrichtung: Die AfD kapert die sozialen Themen der Linkspartei und der SPD.
"In den Vorständen der anderen Parteien, sitzen da Arbeiter? Sitzen da normale Leute die malochen gehen?", fragt Guido Reil, ein ehemaliger Bergmann aus Gelsenkirchen rhetorisch. "Die Leute, die malochen gehen, so wie ich, die ihr ganzes Leben malocht haben, die fühlen sich hier ungerecht behandelt." So klingt die neue AfD.
26 Jahre war Reil Mitglied in der SPD. Jetzt ist er in der AfD. Auf dem letzten Parteitag ist er in den Bundesvorstand gewählt worden. Rente, Familienpolitik, das seien die Themen, die die Menschen bewegten, sagt Reil. "Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit".
Die SPD diskreditieren
Soziale Gerechtigkeit ist das Thema, mit dem die SPD bei der letzten Bundestagswahl baden ging. Die AfD zielt trotzdem darauf - und damit auf das Wählerklientel der Sozialdemokraten. Die Taktik: Die SPD diskreditieren und ihr den Markenkern rauben.
"Arbeiterverräterpartei" nennt der Brandenburger AfD-Chef Andreas Kalbitz die SPD. Es gelinge dieser "Champagnersozialistenfraktion", nicht mehr, "so ein bisschen Sozialpolitik zu simulieren". In den bundesweiten Umfragen liegen SPD und AfD nur noch wenige Prozentpunkte auseinander.
Spricht man führende Sozialdemokraten auf die AfD an, fällt die Reaktion meist kurz und oberflächlich aus.
Eine verunsicherte Linkspartei
Auch die Linkspartei ist verunsichert: Sie beobachtet mit Sorge, wie die AfD auch ihnen die Wähler abgräbt. "Warum wählen Menschen uns nicht, die eigentlich originär Linkspartei wählen könnten?", fragt sich die Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenkecht im Gespräch mit dem ARD-Hauptstadtstudio. Diese Menschen gingen entweder gar nicht mehr zur Wahl oder sie wählten AfD. "Wir haben sie bei der letzten Wahl verloren. Das ist tatsächlich ein bedenklicher Trend."
Wagenknecht findet, dass die AfD de facto in großen Teilen immer noch ein neoliberales Programm habe, auch wenn anderes diskutiert würde. Trotzdem sieht sie eine Gefahr für ihre Partei: "Wenn uns Arbeiter, Arbeitslose, Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen nicht mehr als ihre Stimme verstehen, sondern das Gefühl haben, 'die Linke ist arrogant, die Linke ist überhaupt nicht mehr für uns da', dann haben wir verloren."
Doch viele in der Linkspartei werfen Wagenknecht vor, dass sie als Reaktion die Positionen der AfD übernehme. Wagenknecht dagegen glaubt: Diese Menschen stehen im Alltag in Konkurrenz zu Flüchtlingen. Egal ob auf dem Wohnungsmarkt, bei den Jobs oder bei der Tafel. "Natürlich sind das diejeningen, die am meisten auch zur Zeit die Rechnung zu zahlen haben der Merkelschen Flüchtlingspolitik. Das geht ja zu ihren Lasten. das ist ja objektiv so."
"Die AfD will die neue SPD werden"
Den nationalen Charakter hatte die AfD schon immer. Aber der völkische Charakter wird zunehmend ausgeprägter. Und so langsam wird auch der wirtschaftsliberale Schwerpunkt gegen Sozialpläne ausgetauscht. Unterstützt wird dieser Prozess von Parteichef Alexander Gauland.
Gauland habe im Brandenburger Landtagswahlkampf sein Herz für die kleinen Leute entdeckt, sagt ein langjähriger Weggefährte über ihn. Und die ehemalige AfD-Vorsitzende Petry stellte kürzlich in einem Interview mit der "Nürnberger Zeitung" fest: "Nun will die AfD die neue SPD werden - mit nationalem Anstrich." Sie wolle eine "national sozialistische Partei" sein. Was die AfD anstrebe, sei eine sozialistische Politik. "AfD und SPD sind gleichermaßen für eine Erhöhung von Hartz IV, für den Mindestlohn und mehr Umverteilung."
Noch ist das alles längst nicht ins Parteiprogramm geschrieben. Aber der Kurs ist gesetzt. Man muss nur genau zuhören. Höcke will 2019 einen Bundesparteitag mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik abhalten. Der Antrag soll jetzt beim Parteitag in Augsburg gestellt werden. Alles mit Blick auf die kommenden Wahlen: "Das Thema soziale Gerechtigkeit wird eins der wesentlichen Schwerpunkthemen sein", davon ist Höcke überzeugt.
Die wirtschaftsliberalen Stimmen sind leise geworden
Die wirtschaftsliberalen Stimmen - wie die von Parteichef Jörg Meuthen oder der Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel sind auffällig leise geworden in den vergangenen Monaten. Vor allem die Ostverbände treiben die programmatische Entwicklung in ihre Richtung voran.
Die ostdeutschen Landesverbände seien ursprünglich die Verbände gewesen, die das bessere Wahlergebnis eingefahren hätten als die westdeutschen Landesverbände, erinnert sich Lucke. Dies sei der Grund, warum die Ostverbände zu seiner Zeit starken Einfluss bekommen hätten.
In Sachsen-Anhalt wurde die AfD in der Nach-Lucke-Ära sogar zweitstärkste Partei. Im kommenden Jahr finden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen statt. Dort stehen unter anderem Andreas Kalbitz und Björn Höcke an der Spitze ihrer Landesverbände.
Am Wochenende ist der Bundesparteitag in Augsburg. Vor allem die sozialpolitisch Interessierten in der der AfD würden sich sehr darauf freuen, weil der Bundesvorsitzende Meuthen angekündigt habe, "eine sozialpolitische Rede zu halten, die wir mit großer Spannung erwarten", sagt Höcke.
Er ist geübt im Umgang mit Parteivorsitzenden der AfD. Lucke und Petry wollten nicht nach seiner Pfeife tanzen. Beide sind nicht mehr in der Partei. Meuthen könnte der nächste Fall für die Geschichtsbücher werden.
Das schlimmste an dem Artikel ist, dass ich Frau Kepetry wohl oder übel Recht geben muss. Ich hätt' nie gedacht, dass dieser Tag kommt.