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In der Nacht zu Freitag tritt Thomas Ehrhorn ans Rednerpult im Bundestag. Vier Tage später wird Ralph Stegner, Fraktionsvorsitzender der SPD in Schleswig-Holstein, über die Aussagen des AfD-Politikers sagen: "Unerträgliche rechte Hetze. Solche Beiträge sind eine Schande für das Parlament."
Diskutiert wurde ein Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Anerkennung der NS-Opfergruppen, AfD-Mann Ehrhorn trat um 0.14 Uhr vor das Plenum. Zur Geisterstunde; die Stuhlreihen im Bundestag lichteten sich – und die "unerträgliche rechte Hetze", wie Stegner sagt, blieb von vielen unbemerkt. Zunächst berichtete das ARD-Magazin "Kontraste" am Montagabend über Ehrhorns Rede.
AfD-Politiker Thomas Ehrhorn: "Wir sind uns einig, dass niemand in ein KZ gehört. Wenn es aber darum geht, ..."
Darum geht's: Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fordert in ihrem Antrag die offizielle "Anerkennung der NS-Opfergruppen der damals sogenannten 'Asozialen' und 'Berufsverbrecher'". Das ist 74 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz nicht der Fall und soll sich in den Augen der Fraktion ändern. Ihre Forderungen an die Bundesregierung unter anderem: "Sich für die Aufnahme der Opfergruppen der 'Berufsverbrecher' und 'Asozialen' in die offizielle Erinnerungskultur einzusetzen" und "den heute noch lebenden Opfern, Zugang zu einer angemessenen, würdigen Entschädigung zu eröffnen". Ein Antrag mit ähnlichem Inhalt wurde auch von der FDP-Fraktion eingebracht.
Thomas Ehrhorn von der AfD erkennt in den Forderungen ein "undifferenziertes Bedürfnis nach Einfachheit". In seiner fünf Minuten andauernden Rede (die Sie hier in voller Länge sehen oder im Plenarprotokoll im Wortlaut lesen können) führt er aus, dass es "eben leider nicht" so einfach sei, eindeutig zwischen Tätern und Opfern zu unterscheiden. "Wir sind uns einig, dass wirklich niemand in ein Konzentrationslager gehört. Wenn es aber darum geht, über welche Personengruppen wir hier heute eigentlich sprechen, dann müssen wir schon einmal etwas genauer hinschauen", sagt er.
Seine anschließende Argumentation im Wortlaut:
"Dafür, wer nach den Maßstäben dieser Zeit zu den 'Asozialen' gehörte, gibt es kaum konkrete Definitionen. Man zählte dazu Landstreicher, Bettler, Sinti und Roma, Alkoholiker, Kleinkriminelle, Zuhälter und solche, die man als arbeitsscheu einstufte. Und ja: Später wurde das Instrument der kriminalpolizeilichen Vorbeugehaft ohne rechtliche Grundlage immer weiter ausgedehnt; das ist richtig. Richtig ist aber auch, dass für die Einstufung als Gewohnheitsverbrecher zunächst mindestens drei Straftaten mit mindestens sechs Monaten Haft vorliegen mussten, und dazu gehörten eben auch Totschläger, Betrüger und Vergewaltiger.
Noch problematischer ist aber die Geschichte der sogenannten Kapos, der sogenannten Grünwinkler, welche die SS mitunter aus eben genau diesen Personengruppen rekrutierte, um sie als Funktionshäftlinge mit Macht und Vergünstigungen auszustatten. Nicht selten schlugen und töteten die Grünwinkler Mithäftlinge. Sie sabotierten den Widerstand im Lager, denunzierten und stahlen. Vorher standen sie am Rande der Gesellschaft, im Lager aber bildeten sie nicht selten die Spitze der Hierarchie der Schinder und Peiniger. Deshalb ist es eben nicht möglich, allen sogenannten 'Asozialen' und 'Berufsverbrechern' eine Art Generalamnestie einzuräumen, sie zu Opfern zu erklären, weil ein Teil von ihnen eben durchaus auch Täter war."
Historiker: "Das ist so in unserer demokratischen Geschichtskultur vollkommen neu"
"Dieser geschichtspolitische Vorstoß aus der AfD-Fraktion ist schon bemerkenswert", sagt der Historiker und Autor Moritz Hoffmann zum stern. "Thomas Ehrhorn hat tatsächlich im Bundestag 'Wir sind uns einig, dass wirklich niemand in ein Konzentrationslager gehört' mit einem 'Aber' verbunden. Das ist so in unserer demokratischen Geschichtskultur vollkommen neu."
Ehrhorn sagt, dass "Berufsverbrecher" bereits Vorstrafen auf dem Kerbholz hätten. "Was Ehrhorn nicht sagt", so Hoffmann: "Diese Menschen hatten ihre Gefängnisstrafe abgesessen, sie waren dem Prinzip eines Rechtsstaates nach rehabilitiert. Dass er rehabilitierte Straftäter, die danach zeitlich unbefristet in ein Konzentrationslager gesteckt werden, nicht als Opfer von NS-Verfolgung anerkennen möchte, sagt auch sehr viel über sein heutiges Rechtsverständnis aus."
Auch bei den "Kapos" offenbare der AfD-Politiker ein "merkwürdiges Verständnis" vom KZ-System: "Diese von der SS aus den Lagerhäftlingen rekrutierten Aufseher haben oft Schuld auf sich geladen – sie haben Mithäftlinge misshandelt, denunziert und das Lagersystem mit am Laufen gehalten. Aber das taten sie natürlich als Häftlinge, als vollkommen Entrechtete, die jeden Tag um Ihr Leben fürchten mussten." Ehrhorns Aussage, die "Kapos" hätten im Lager "nicht selten die Spitze der Hierarchie der Schinder und Peiniger" gebildet, weist der Historiker entschieden zurück: "An der Spitze stand selbstverständlich immer die deutsche, nationalsozialistische Lagerführung, die die Häftlinge erst perfide in diese Zwangssituationen brachte." Ehrhorn sehe die Konzentrationslager offenbar als "eine Art Justizvollzugsanstalt mit anderen Mitteln".
Das Internationale Ausschwitz-Komitee: "Das ist durch nichts zu rechtfertigen oder zu entschuldigen"
Auch das Internationale Ausschwitz-Komitee (IAK) reagierte entsetzt auf die Äußerungen Ehrhorns. "Das war der Auftritt eines perfiden Biedermannes, der sich die Geschichte zurechtbiegt", sagt Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner dem stern.
"Mit der scheinbaren Differenzierung der Opfer führt er die Interpretationslinien der Nazis fort." Dies sei für die Betroffenen und ihre Angehörigen unerträglich. "Sie werden durch solche Aussagen in die Hölle ihrer Erinnerungen zurückgestoßen, erneut verletzt und diffamiert. Das ist durch nichts zu rechtfertigen oder zu entschuldigen." Dass die Verbrechen des Nationalsozialismus im Deutschen Bundestag offen verharmlost werden, bereite ihm Sorgen, so Heubner. Der IAK-Vizepräsident vermutet in "den fortwährenden Angriffen auf unsere Demokratie" eine Strategie der Partei. "Die AfD wäre gut beraten, endlich leiser zu treten."
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Yasmin Fahimi, die bei der Rede von Ehrhorn anwesend war und mit Zwischenrufen ("Unglaublich! Offener Faschismus!") den Aussagen widersprach, konkretisiert im stern: "Bereits in seinem ersten Satz machte Herr Ehrhorn deutlich, worum es ihm geht: Opfer zu Tätern zu machen und Taten der Täter relativieren", so die frühere Generalsekretärin der Sozialdemokraten. "Bis heute haben viele der Betroffenen aus Scham über ihre Erlebnisse geschwiegen. Der Stempel 'asozial' lastet bis heute auf ihnen und ihren Familien. Wenn das Leid, das ihnen zugefügt wurde, dann auch noch von Abgeordneten des Deutschen Bundestages offen verhöhnt wird, mag ich mir gar nicht vorstellen, welche neuen Wunden das reißt."
Yasmin FahimiFullscreen
SPD-Bundestagsabgeordnete Yasmin Fahimi
©Michael Kappeler / DPAPicture Alliance
Auch Fahimi geht davon aus, dass es sich bei den Äußerungen Ehrhorns um eine bewusste Provokation handelte. "Abgeordnete der AfD überschreiten in ihren Reden permanent die Grenze dessen, was in unserer Gesellschaft bisher als anständig betrachtet wurde. Das betrifft sowohl die Verwendung faschistischen Vokabulars, als auch die Umdeutung von Tatsachen wie in der Rede von Herrn Ehrhorn. Ziel ist, den Grundkonsens beim Blick auf unsere Geschichte zu brechen."
Bei aller Empörung über die Rede Ehrhorns – Konsequenzen muss der AfD-Abgeordnete nicht fürchten, selbst wenn er mit seiner Rede den Tatbestand der Verharmlosung des Holocaust erfüllt hätte. Äußerungen von Abgeordneten im Bundestagsplenum dürfen nicht rechtlich verfolgt werden. Die sogenannte Indemnität schützt laut Bundestagsverwaltung die freie Rede der Parlamentarier im Plenum.
AfD-Abgeordneter Ehrhorn: "Versuch, meine Rede zu skandalisieren"
Der stern hat auch die AfD-Bundestagsfraktion um eine Stellungnahme gebeten – zur Haltung der Fraktion zu den Aussagen; ob man die Meinung des eigenen Abgeordneten Ehrhorn teile. Dazu hat sich ein Sprecher der AfD nicht geäußert. Dem stern wurde stattdessen ein Statement von Thomas Ehrhorn übermittelt.
Der "Kontraste"-Beitrag, der Teile seiner Rede zeigt, empöre ihn und sei der "Versuch des Magazins, meine Rede zu skandalisieren". "Der Teil meiner Ausführungen, in welchem ich die Geschichte der Kapos aus der Gruppe der Grünwinkler erzähle, also der unverzichtbare Kontext, wurde in dem Beitrag herausgeschnitten." Ehrhorn sieht darin eine "offensichtliche Absicht, den Sinn zu verfälschen und zu entstellen", heißt es weiter. "Um alle weiteren Missverständnisse auszuräumen, wiederhole ich in aller Klarheit die Kernaussage meines Redebeitrages", so Ehrhorn zum stern: "Es ist unangemessen, all die unschuldigen Opfer, die etwa allein durch ihre angebliche Rassenzugehörigkeit in ein KZ verbracht wurden, mit jenen gleichzusetzen, die als Kapos ihre Mithäftlinge geschunden und gepeinigt haben. Beide Gruppen pauschal zu Opfern zu erklären, erweckt den Eindruck, es gäbe hier keine Unterschiede. Dies halte ich für hochproblematisch und stehe uneingeschränkt zu dieser Aussage."
Um 0.29 Uhr ist Schluss
Am Ende der Bundestagsdebatte geht es ebenfalls noch einmal hin und her. Brigitte Freihold von der Linkspartei erklärt: "Die sozial-rassistische Kategorisierung von Menschen wirkt als vielfältiges Stigma weiter. (...) Die Beleidigung 'Asi' findet sich auf nahezu allen Schulhöfen. Dieser Begriff ist Nazijargon." – Darauf vermerkt das Protokoll: "Zuruf von der AfD: 'Quatsch!'" Kurz darauf, um 0.29 Uhr, endet die Sitzung am Freitag.
Die Anträge der Grünen und der FDP zur Anerkennung der NS-Opfergruppen werden in den Ausschüssen weiter beraten.