Spoiler
Von Sebastian Pittelkow, NDR, und Katja Riedel, WDR
Es ist ein ganz außerordentliches Dokument: 115 Seiten umfasst der Schriftsatz der AfD, mit dem sie an diesem Freitagvormittag dem Kläger entgegentritt, der gegen sie vor das Landgericht Berlin zieht. Es geht, mal wieder, um den ehemaligen Co-Chef des aufgelösten völkischen Flügels, Andreas Kalbitz.
Die AfD hat das Papier verfasst, um seinen Eilantrag abzuwehren, mit dem er seine verbliebenen Ämter in der AfD wieder wahrnehmen will, auch als Bundesvorstand. Kalbitz' Ausführungen seien "geprägt von Unwahrheiten, Verfälschungen, von Bagatellisierungen und Auslassungen", heißt es in dem AfD-Papier. Es sei "für die innerparteiliche Mehrheit und den Vorstand selbst kaum zumutbar […] sich mit einer solchen Persönlichkeit weiter in der Parteiarbeit assoziieren zu müssen".
Bisher deutlichste Abgrenzung vom Extremismus
Harte Worte für einen, der noch vor Kurzem einer von ihnen war, ein Mehrheitsbeschaffer und Strippenzieher. WDR und NDR liegen die Prozessunterlagen vor. Insbesondere der Schriftsatz der AfD hat es in sich. Es geht um eine höhere Ebene, die weit über den Fall Kalbitz und die bei seinem Parteieintritt verschwiegenen, mutmaßlichen früheren Mitgliedschaften in extremistischen Organisationen und Satzungsfragen hinausweist. Es geht um Grundsätzliches: Die AfD erstrebe nicht nur eine "irgendwie mobilisierende Einflussnahme auf Ansichten und Meinungen", sondern wolle mehr, nämlich mitregieren - so ist es in dem vor Gericht vorgelegten Schriftsatz ausführlich zu lesen.
"Solchen Zielsetzungen stehen extremistische Grundhaltungen von Parteimitgliedern entgegen. Sie wirken für die Verfolgung verfassungskonformer Zielsetzungen desintegrativ, zersetzend und verhindern letztlich die Besetzung von politischen Ämtern und die Gewinnung von Regierungsverantwortung", heißt es in dem Papier. Man wolle verfassungskonforme Ziele vertreten. Formulierungen, die klingen, als setze der Bundesvorstand nun jene roten Grenzlinien zum rechten Rand, die Parteichef Meuthen 2017, als seine damalige Co-Vorsitzende Frauke Petry sie gefordert hatte, noch vehement abgelehnt hatte.
In Sonderkonferenz abgesegnet
Verfasst hat den Schriftsatz Anwalt Joachim Steinhöfel. Abgesegnet hat ihn an diesem Montag der Bundesvorstand der AfD, die Parteispitze. Jörg Meuthen und Tino Chrupalla, die beiden zuletzt so konträren Parteichefs, hatten dazu kurzfristig eine Sonder-Telefonkonferenz einberufen. Mit "ja" votiert haben jene, die auch schon für einen Parteiausschluss Kalbitz‘ gestimmt hatten.
Abwesend sollen in der Konferenz laut Teilnehmern ausgerechnet jene Bundesvorstände gewesen sein, die gegen einen Ausschluss des Rechtsaußen gestimmt hatten: Chrupalla selbst, Alice Weidel, Stephan Brandner und Stephan Protschka, sie sollen bei der Abstimmung verhindert gewesen sein. Manche Parteivorstände halten das für einen seltsamen Zufall.
Verfassungsschutz und Medien als Referenzen
Der AfD-Schriftsatz enthält ein weiteres Novum, das kaum weniger politischen Sprengstoff birgt. Denn die AfD verweist immer wieder auf die Einstufung und Einordnung Kalbitz' durch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) sowie ein Gutachten der Behörde zum inzwischen aufgelösten völkischen Flügel. Sie fügt es sogar als Beleg für die eigene Argumentation im Anhang bei. Gegen das BfV und dessen Einstufung der AfD führt die Partei zahlreiche juristische Gefechte. In der Causa Kalbitz heißt es nun, dass dessen Fehlverhalten "durch die Erkenntnistätigkeit des BfV und die journalistische Berichterstattung … objektiviert worden" sei.
Auch Letzteres, nämlich journalistische Recherchen als Beleg für Glaubwürdigkeit heranzuziehen, ist ein Novum in der sonst so medienkritischen AfD. Fraglich ist, wie die AfD andere Passagen des BfV-Gutachtens künftig bewerten wird. Die Beobachtung des Flügels und die Einstufung als "erwiesen rechtsextremistische Bestrebung" betrifft bis zu 7000 der etwa 36.000 Parteimitglieder. Denn obwohl der Flügel strukturell aufgelöst ist, sind die ehemaligen Mitglieder weiter Teil der Partei.
Signal für Kursänderung
Vieles, was nun in der Causa Kalbitz schriftlich festgeschrieben und bei Gericht vorgelegt worden ist, stellt die AfD künftig vor die Herausforderung, dies auch auf andere Parteimitglieder und Grenzüberschreitungen anzuwenden: Kontakte zur innerhalb der AfD durchaus populären "Identitären Bewegung" oder zum als extremistisch eingestuften "Institut für Staatspolitik" etwa, wo selbst Alice Weidel bereits vorgetragen hat.
Namentlich Björn Höcke wurde durch den BfV-Präsidenten ebenso als rechtsextrem eingestuft wie Kalbitz. Parteiausschlussverfahren gegen Höcke sind jedoch bisher gescheitert. Am Mittwoch hatte ein Landesschiedsgericht in Sachsen-Anhalt mit dem Bundestagsabgeordneten Frank Pasemann einen weiteren starken Ex-Flügel-Politiker ausgeschlossen.
Kalbitz will Parteiämter zurück
Auch Kalbitz scheint die Tragweite der gerichtlichen Auseinandersetzung an diesem Freitag bewusst zu sein. Per Eilbeschluss will er sofort in seine verbliebenen Parteiämter zurückkommen, die er durch die Entscheidungen von Bundesvorstand und Bundesschiedsgericht, seine Mitgliedschaft für nichtig zu erklären, zunächst eingebüßt hat. Explizit geht es ihm nach seinem Rücktritt als Fraktionsvorsitzender in Brandenburg um seinen Sitz im Bundesvorstand sowie die Teilnahme an den Sitzungen, so ergibt es sich aus dem 43-seitigen Eilantrag, den sein Anwalt Andreas Schoemaker verfasst hat.
Bis zu einer finalen zivilrechtlichen Klärung von Kalbitz' AfD-Mitgliedschaft kann es Monate, wenn nicht Jahre dauern. In der Zwischenzeit will er politisch nicht unwiederbringlich an Boden verlieren - etwa weil er nicht mehr in Bundesvorstandssitzungen das Wort ergreifen und seine Positionen stärken kann, so wird es ausgeführt. Die AfD setzt dagegen, dass die Mehrheitsverhältnisse im Vorstand so eindeutig seien, dass Kalbitz' Stimme seit seinem Ausscheiden aus dem höchsten Parteigremium nicht ein einziges Mal ausschlaggebend gewesen sei. Sollte dessen Eilentschied erfolgreich sein, sei dies eine "unzulässige Vorwegnahme" der Hauptsache, ein Eingriff in die Souveränität der Parteien.