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Jörn Kruse war Landesvorsitzender der AfD in Hamburg und Fraktionsvorsitzender in der Hamburgischen Bürgerschaft. Er blieb in der Partei, als viele andere Gründungsmitglied sich schon abwandten. Vor knapp zwei Jahren kam es doch zum Bruch. Im Interview erklärt der emeritierte Wirtschaftsprofessor, warum der rechtsradikale Flügel sich seiner Meinung nach gar nicht auflösen kann, für wie gefährlich er deren Gesichter Björn Höcke und Andreas Kalbitz hält – und warum er glaubt, dass moderate Konservative wie er selbst den Mitgliedern des rechten Flügels intellektuell überlegen seien.
DIE ZEIT: Herr Professor Kruse, offiziell hat der rechtsradikale Flügel der AfD sich Mitte der Woche aufgelöst, Sie bezweifeln das. Wie tief ist Ihr Einblick in die Aktivitäten des Flügels?
Professor Jörn Kruse: Mit den eigentlichen Haupttätern aus dem Osten, Herrn Kalbitz, Herrn Höcke und Konsorten, habe ich keinen persönlichen Kontakt. Aber ich kenne natürlich andere AfD-Leute immer noch, aus der Zeit der Parteigründung 2013 und kurz danach. Gelegentlich telefoniert man oder man schreibt sich eine E-Mail.
ZEIT: Sie haben auch ostdeutsche Kontakte?
Kruse: In Ostdeutschland weniger. Die meisten sind aus dem Westen. Und natürlich aus Berlin, das ist ja zur Hälfte so und zur Hälfte so, auch in der AfD.
ZEIT: Sie kritisieren schon die Vorstellung, es sei möglich, eine Organisation wie den Flügel aufzulösen. Warum?
Kruse: Das ist einfach lächerlich. Einen Beschluss zu fassen, man wolle den Flügel jetzt nicht mehr, hat null Wirkung. Nur jemand, der überhaupt keine Ahnung hat, was der Flügel ist, könnte auf die Idee kommen, eine solche Maßnahme könne etwas bewirken.
ZEIT: Was ist der Flügel denn?
Kruse: Man darf sich den Flügel nicht vorstellen wie eine strukturierte Organisation, etwa wie eine Parteigliederung. Es ist eher ein loser Zusammenhang mit zwei Führungsfiguren und einigen E-Mail-Verteilern.
ZEIT: Sie meinen Herrn Höcke, den Parteisprecher und Fraktionsvorsitzenden in Thüringen, und Herrn Kalbitz aus dem Bundesvorstand.
Kruse: Ja. Herr Höcke ist der, den die Flügelleute anhimmeln, was ich persönlich nicht verstehen kann. Viel gefährlicher ist der Herr Kalbitz, dem würde ich quasi alles zutrauen.
ZEIT: Werden diese Leute ihre Aktivitäten nach der offiziellen Auflösung fortsetzen?
Kruse: Ja, davon gehe ich aus. Ich glaube nicht, dass die sich durch die Aufforderung des Parteivorstands, ihr Netzwerk aufzulösen, irgendwie beeindruckt fühlen.
ZEIT: In der ostdeutschen AfD werden etwa 40 Prozent der Mitglieder zu den Anhängern des Flügels gezählt. Ist das plausibel?
Kruse: Für Ostdeutschland halte ich das für plausibel. Aber eben nur für Ostdeutschland.
ZEIT: Und worin bestehen die Aktivitäten dieses losen Gebildes?
Kruse: Man muss sich das nicht so vorstellen, als würden diese Leute laufend zusammensitzen, diskutieren und strukturierte Beschlüsse fassen. Die meisten Leute, die dem Flügel angehören, sind ja Leute – ich will jetzt nicht beleidigend werden – mit eher mittleren und unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten, etwas zu durchschauen und zu analysieren. Die freuen sich, wenn sie jemanden haben, der für sie vordenkt und so richtig auf den Putz haut. Da kommt viel aus dem Bauch.
ZEIT: Sie sprechen über 40 Prozent Ihrer ehemaligen ostdeutschen Parteifreunde?
Kruse: In welchem Maße die wirklich dem Flügel zugehörig sind, lässt sich ja schwer abgrenzen. Die fühlen sich dem mehr oder weniger zugehörig, einige zu 90 Prozent, einige zu 50 Prozent, einige zu 20 Prozent. Und je nach Thema sind die Leute da mehr oder weniger empfänglich und würden die entsprechenden Anweisungen der Flügelspitze entgegennehmen oder auch nicht.
"Wenn man noch etwas ändern will, muss man viel massiver vorgehen"
ZEIT: Was für Anweisungen?
Kruse: Das kann inhaltliche Fragen betreffen, aber auch die Verbesserung der eigenen Position, wenn es darum geht, staatliche Gelder zu verteilen, also Abgeordnetendiäten oder die Gehälter von Fraktionsmitarbeitern. Vor allem geht es darum, innerhalb der Partei die eigenen Leute auf Wahllisten zu bringen oder in einen Vorstand und vor allem die missliebigen Leute fernzuhalten, also die moderaten, die ja häufig auch intellektuell etwas besser ausgestattet sind.
ZEIT: Das heißt, wie gut dieses Netzwerk nach der offiziellen Auflösung noch funktioniert, wird sich erst zeigen, wenn die nächste parteiinterne Abstimmung ansteht?
Kruse: So ist es.
ZEIT: Was hat der Flügel denn in der Vergangenheit erreicht?
Kruse: Es sind mehr und mehr Leute in die AfD eingetreten, die von ihrer Gesinnung her normalerweise zur NPD gehören würden oder zu Pro Chemnitz und ähnlichen Organisationen. Das ist ein schleichender Prozess, der schon über Jahre so geht, auch weil die moderate Seite keinen klaren Trennstrich zieht.
ZEIT: Aber das hat sie doch gerade getan. Der Parteivorstand hat doch gerade den Flügel aufgefordert, sich aufzulösen.
Kruse: Selbst Alexander Gauland hat öffentlich gesagt, er wisse nicht, was dieser Beschluss für Folgen haben solle. Ein Trennstrich wäre es gewesen, wenn alle Flügel-Mitglieder aus der Partei ausgeschlossen worden wären. Aber das ist juristisch nicht möglich.
ZEIT: Gerade sagten Sie, der Flügel sei eine Struktur ohne feste Mitgliedschaften. Wie soll man dann Flügel-Mitglieder ausschließen?
Kruse: Das ist gerade deshalb natürlich nicht möglich. Erstens kann man die Leute nicht klar identifizieren und zweitens würden die Schiedsgerichte da nicht mitspielen, in denen viele sehr rechte Mitglieder sitzen. Die Schiedsgerichte würden sagen: "Ihr wollt das Mitglied XY ausschließen, woher wisst ihr denn überhaupt, dass er zum Flügel gehört?" Und dann müsste man sagen: "Hm, ja, so genau wissen wir das gar nicht."
ZEIT: Wenn der Parteiausschluss keine Option ist, hat der Bundesvorstand der AfD dann nicht alles getan, was er überhaupt tun kann?
Kruse: Der Parteivorstand hat schon in der Vergangenheit immer versagt, wenn es darum ging, einen Trennstrich irgendeiner Art zu ziehen. Man hätte sich von den Flügel-Leuten schon viel früher klar, konfrontativ und öffentlich distanzieren und sie damit auch ins Abseits stellen müssen.
ZEIT: Aber die klare öffentliche Distanzierung gibt es ja nun.
Kruse: Heute genügt das aber nicht mehr. Wenn man heute noch etwas ändern will, muss man sehr viel massiver vorgehen. Wenn die paar moderaten, konservativen und bürgerlichen Leute, die noch übrig sind, noch etwas retten wollen, dann müssten sie einen energischeren und mutigeren Schritt machen, einen, der wirklich Wirkung hat. Ich habe eine Spaltung vorgeschlagen. Es wird immer gesagt, das sei schädlich für die Organisation. Aber ich bin der Auffassung, das ist nur schädlich für die Rechtsradikalen. Wenn die AfD nur noch aus dem Flügel bestünde, dann würden sie im Westen sehr schnell aus allen Parlamenten rausfliegen. Das dauerte im Osten länger. Der Osten ist in der Gesamtpartei aber quantitativ nicht besonders relevant. Die haben absolut sehr viel weniger Mitglieder, als man so denkt, die sind nur sehr laut. Und alles, was sie sagen, wird durch die Medien im ganzen Land multipliziert, um der AfD zu schaden.
ZEIT: Es gab schon etliche Versuche, aus der AfD heraus neue rechts-konservative Parteien zu gründen: ALFA beziehungsweise die Liberal-Konservativen Reformer von Herrn Lucke, die Blauen von Frau Petry. Wieso sollte es diesmal klappen?
Kruse: Ob ich wirklich daran interessiert bin, dass es klappt, ist ja noch eine andere Frage. Ich bin mit der AfD weitgehend fertig. Aber wenn die AfD weg wäre, wäre endlich Platz für eine echte liberal-konservative Partei mit seriösem, bürgerlichem Habitus, die wir dringend brauchen. Was ich nur sagen will: Die Phase ist vorbei, in der es genügte, dem Flügel zu sagen, sie sollen den Begriff "Flügel" nicht mehr verwenden. Es ist insbesondere eine Aufforderung an die Leute im Westen, die viel zu passiv und strategielos sind. Wenn sich die westlichen Parteimitglieder in gezielter Weise organisieren würden gegen die Flügler, zum Beispiel durch Austritt und Neugründung, wäre das eine öffentliche Aktion, die dann auch Wirkung hätte.
ZEIT: Wir haben jetzt über drei mögliche Maßnahmen der moderaten Teile der AfD geredet. Die erste ist die Aufforderung des Parteivorstands an den Flügel, sich doch bitte aufzulösen, das finden Sie lächerlich. Die zweite wäre, alle Flügel-Leute auszuschließen, aber das ist juristisch nicht machbar, wie Sie selbst gesagt haben. Und der dritte Weg wäre die Neugründung einer konservativen Partei, was unrealistisch ist. Insgesamt klingt das eher, als gäbe es überhaupt keinen Ausweg.
Kruse: Die Neugründung einer konservativen Partei wäre nicht unrealistisch, wenngleich es in der Vergangenheit zweimal gescheitert ist, und zwar jeweils aus sehr speziellen Gründen, die mit Personen und Zeitpunkten zusammenhängen.
ZEIT: Sie sagen, Sie wüssten nicht, ob Sie dieser Partei überhaupt Erfolg wünschen sollen.
Kruse: Der jetzigen AfD kann ich keinen Erfolg wünschen, weil sie inzwischen rechts und rechtsradikal ist. Aber aus genau diesem Grund wird sie auch keinen Erfolg haben. Bei einer Neugründung, die den Geist des Gründungsjahrs 2013 atmet, würde ich das anders sehen.
Ein übriggebliebener der Professoren also. Ein Rest-Professor.