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Ja, die Fragen waren provokant. Aber sie waren berechtigt. Antisemitische Ressentiments sind unter AfD-Anhängern weit verbreitet. Das belegt eine Umfrage des Allensbach-Instituts aus dem Jahr 2018. In der Partei reihen sich die Einzelfälle aneinander. Der Bundestagsabgeordnete Frank Pasemann stellte sich im Oktober schützend vor einen Verlag, der Autoren veröffentlicht, die in der Vergangenheit forderten, man müsse sich "die Juden ein für alle Mal vom Hals schaffen" oder die den Holocaust als "US-amerikanisches Kulturprodukt" bezeichneten. Erst vergangene Woche hat ein AfD-Stadtrat aus Halle öffentlich Verschwörungstheorien verbreitet, es habe vor dem 11. September "Jew Calls" gegeben, mit denen Juden gewarnt worden seien. Deswegen seien so wenige von ihnen ums Leben gekommen. Sowohl zum Anschlag auf das World Trade Center als auch den beiden Weltkriegen stellte er Bezüge zu einer "jüdischen Weltverschwörung" her. Brandner selbst hatte bei Twitter Unverständnis darüber weiterverbreitet, dass Politiker nach dem Anschlag auf eine Synagoge in Halle ihre Trauer zum Ausdruck bringen. Warum sollte ein Journalist den Parteichef also nicht mit der Frage nach dem Antisemitismus in seiner Partei konfrontieren dürfen?
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"Jeder bedient die Meinung seiner Klientel"
Geben Weidel, Gauland und Brandner nicht ein schlechtes Bild ab, wenn sie so gereizt reagieren? Wäre es nicht klüger, souverän zu antworten, die Fragen nicht so an sich heranzulassen? Bei jeder anderen Partei wäre das vermutlich so. Doch die AfD hat ein anderes Konzept. Die Pressekonferenz verfolgten nicht nur die Augen, Ohren, Kameras und Mikrofone der klassischen Medien. Auch parteieigene Angebote übertrugen das Geschehen über Kanäle in sozialen Netzwerken. Und in dem Bereich macht der Partei niemand etwas vor. Dort erreicht die AfD mehr Menschen als jeder politische Mitbewerber. Und dort wird der Auftritt nicht als schrill, bockig oder arrogant wahrgenommen, sondern als mutig und kämpferisch. Das belegen die Kommentare unter den entsprechenden Videos in den AfD-eigenen Kanälen.
Das Problem, so lautet die einhellige Meinung, sei nicht das offensichtliche Fehlverhalten Brandners, sondern eine "Journaille", die sich gegen die AfD verschworen hat. Diese Einschätzung reicht hoch bis zum Chefkommunikator der Partei, dem Pressesprecher Christian Lüth, der kurz nach dem Auftritt twitterte: "Diese dummen Fragen stellte übrigens Markus Decker von der Frankfurter Rundschau" (dabei sei angemerkt, dass Decker für das Redaktionsnetzwerk Deutschland arbeitet). Versehen wird die Aussage mit dem Schlagwort #Lügenpresse. Aus der Strategie dahinter macht er gar kein Geheimnis. Zwei Tage nach dem Auftritt sagt er in der Bundespressekonferenz dazu: "Jeder bedient die Meinung seiner Klientel."
Die Aussage, es seien "dumme" Fragen, also unqualifizierte und solche, die nicht beantwortet werden müssten, ist ebenso wie die Behauptung, die Presse lüge, der Versuch, das Vertrauen in klassische Medien zu untergraben. Gleichzeitig schafft der politische Komplex rund um die AfD beständig eigene Quellen, die vorgeben, die eigentliche Version der Wahrheit wiederzugeben. Das sind oft Facebook- und Whatsapp-Gruppen oder Telegram-Listen. Es gibt aber auch Angebote, die für sich den Anspruch erheben, im Sinne eines Nachrichtenangebotes zu informieren, der "Deutschland-Kurier" etwa oder "PI News".
Diese Art von Meinungsfreiheit kann nur einem Zweck dienen
Die Dauerangriffe der AfD schüren das Misstrauen gegen etablierte Medien. So werden für Anhänger der Partei Angebote interessanter, die zwar nicht den Nimbus der Seriosität haben. Aber wenn ohnehin alle nur die halbe Wahrheit schreiben, warum sollte man sich dann nicht für ein Angebot entscheiden, das die eigenen Interessen in den Mittelpunkt rückt? In dem Fall also AfD-Kernthemen: angeblich grenzenlose Migration oder Islamisierung, eine drohende "Öko-Diktatur" oder "Gender-Gaga". Darüber schreiben diese Angebote ohne Unterlass - egal, wie groß die gesellschaftliche Relevanz tatsächlich ist. Zunehmend verabschiedet sich die AfD in ihre eigene Echokammer. Wie weit dieser Prozess gediehen ist, zeigt sich daran, dass hochrangige Vertreter der Partei selbst vor Wahlen klassischen Medien überhaupt keine Interviews mehr geben - weil sie sie einfach nicht mehr benötigen, weil sich ihr Klientel längst von diesen Medien abgekoppelt hat. So war es etwa mit Björn Höcke vor der Thüringen-Wahl. Und in dieser Parallelwelt der AfD lassen sich natürlich problemlos Botschaften verbreiten, die jeglicher Grundlage entbehren. So sagte Brandner kurz nach seiner Abwahl in einem Interview, das "PI News" verbreitet: "Würde gegen die AfD nicht ständig gehetzt werden, stünden wir längst auf 60 Prozent." Einiges spricht dafür, dass viele Menschen die Legende von der schweigenden Mehrheit glauben.
Auf die Meinungsfreiheit hat das verheerende Konsequenzen. Wer nicht im Sinne der Partei berichtet, wer wagt sie scharf zu kritisieren, wird als Lügner bezeichnet. Es ist die Maximal-Diffamierung für Menschen, die für sich in Anspruch nehmen, die Wahrheit zu verbreiten - Journalisten. Die AfD arbeitet daran, dass ihre Gefolgschaft sich vom klassischen Medienbetrieb abkoppelt und nur noch Informationen bekommt, die aus Parteisicht wünschenswert sind. In Teilen hat sie das bereits geschafft. Gleichzeitig ist Meinung aus Sicht der AfD nur dann frei, wenn negative Reaktionen darauf ausbleiben. Beabsichtigt man, in der Gesellschaft immer mehr Platz zu schaffen für einen ausgrenzenden, minderheiten- und menschenfeindlichen Diskurs, ist dieser Umgang mit Meinungsfreiheit freilich ein strategisch nachvollziehbarer Schritt.