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Die britische Verfassungsordnung ruht auf zwei Säulen. Die erste – weitaus wichtiger als in Deutschland – ist die Souveränität des Parlaments. Die britische Verfassung vertraut auf die Fähigkeit des Parlaments, die öffentliche Meinung zu vertreten. Dies beruht auf dem Glauben, dass das Parlament sich konkurrierende Positionen anhören und letztendlich vernünftige politische Lösungen finden wird, wenn ihm genügend Zeit dafür eingeräumt wird. Die zweite Säule ist die ungeschriebene Verfassung: eine Reihe von impliziten, aber gewöhnlich befolgten Normen, die die Beziehungen zwischen öffentlichen Institutionen regeln. Dazu gehört auch der Brauch, dass der Premierminister das Parlament niemals vertagen (oder aufheben) sollte, um sich dessen Kontrolle zu entziehen. Die zweite Säule garantiert das Wirken der ersten Säule: So kann das Parlament kaum souverän sein, wenn es nicht tagt.
Andere Verfassungen trauen den Politikern nicht
Vergangenen Monat sind diese beiden Säulen zusammengebrochen. Der Brexit hat die Parteien zur Bildung neuer Blöcke und Allianzen gezwungen und so das traditionelle Parteiensystem im Parlament zerstört: Das Parlament ist nun eine hoch instabile Institution, in der es nur Mehrheiten für nichts und niemanden gibt. Diese Entfremdung hat fatale Folgen für die impliziten Normen: Ungeschriebene Regeln greifen nur, wenn die ihnen unterliegenden Akteure ein gemeinsames Verständnis ihrer Bedeutung haben und bereit sind, ihnen nach Treu und Glauben zu folgen. In einer weniger polarisierten Zeit hätte diese Verfassungsordnung weiter funktionieren können. Aber sie war nicht stark genug, einem Premierminister zu widerstehen, der erklärtermaßen bereit ist, alle Regeln zu brechen, um ein Ziel zu erreichen: die Europäische Union bis zum 31. Oktober zu verlassen, "egal, was passiert".
Andere freiheitliche Verfassungen beruhen meist auf einer Prämisse, die der britischen Grundhaltung fundamental widerspricht. Sie gehen davon aus, dass Politikern nicht zu trauen ist und dass diese, wo immer sie können, die Regeln zum eigenen Vorteil auslegen werden. Infolgedessen werden die Regeln der Politik außerhalb des politischen Systems festgelegt und ihre Einhaltung – meist durch Verfassungsgerichte – überwacht. Die Grundannahme der britischen Verfassungsordnung ist hingegen, dass Parlament und Regierung aus ehrlichen und patriotischen Persönlichkeiten bestehen, auf die man sich verlassen kann und die die Regeln des politischen Systems einhalten. Zugespitzt könnte man sagen: Diese Verfassungsordnung wurde nicht mit Blick auf jemanden wie Boris Johnson entwickelt.
Am dem heutigen Dienstag entscheidet der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs, ob die von Johnson durchgesetzte Vertagung des Parlaments rechtens ist. Aber eigentlich entscheidet er über mehr und möglicherweise Epochales: Es geht darum, wie der Supreme Court die traditionelle Verfassungsordnung beurteilt und wie er seine eigene Verantwortung, diesen Rahmen aufrechtzuerhalten, definiert. Gegensätzliche Urteile vorhergehender Instanzen in England und Schottland verdeutlichen, dass viel auf dem Spiel steht.
Folgenschwerer Präzedenzfall
Sollte der Supreme Court dem englischen Gericht folgen, bliebe alles augenscheinlich beim Alten: Laut Urteil hat die Königin das Recht, das Parlament nach Belieben zu vertagen und sich dabei allein auf den Rat ihres Premierministers zu stützen – ohne parlamentarische Kontrolle. Es wäre aber ein folgenschwerer Präzedenzfall: Jeder Premierminister in politischen Schwierigkeiten hätte damit eine neue Waffe – die Möglichkeit, den Monarchen zu bitten, das Parlament zu schließen. Das ist keineswegs nur ein Gedankenspiel: Während das Parlament ein Gesetz beschlossen hat, das einen Brexit ohne Abkommen verhindern soll, hat der Premierminister bereits verkündet, alles zu tun, um dessen Umsetzung zu verhindern.
Das schottische Urteil geht in eine ganz andere Richtung. Das Gericht argumentiert, dass die Verfassung auch dem Premierminister Pflichten auferlegt – in diesem Fall, dass er die Königin ehrlich und ohne Hintergedanken beraten muss. Die schottischen Richter standen mit ihrer Meinung nicht allein, dass Johnsons Begründung unglaubwürdig war, die Vertagung des Parlaments habe nichts mit dem Brexit zu tun. Sollte der Oberste Gerichtshof dem folgen, würde er eine neue Rolle für sich reklamieren: die Überprüfung von Regierungshandeln auf Verfassungskonformität. Das wäre kein kleiner Schritt. Sollte er das schottische Urteil stützen, würde der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs näher an das Selbstverständnis europäischer Verfassungsgerichte heranrücken. Für diese ist die Vorstellung, dass politische Institutionen in der Verfassungshierarchie über ihnen rangieren, weitgehend unakzeptabel.
Ohne Mandat und ohne Mehrheit
In diesem Punkt könnte Großbritannien von Deutschland lernen. Deutschlands Verfassungsgeber hätten nicht im Traum daran gedacht, einer Regierung die Befugnisse zu übertragen, die Boris Johnson jetzt besitzt, ein Politiker ohne das Mandat einer Parlamentswahl und ohne parlamentarische Mehrheit. Stattdessen übertrugen sie die Verantwortung für wichtige Verfassungsfunktionen entweder unabhängigen Gerichten oder dem Bundespräsidenten. Letzterer ist ein politisch legitimierter Amtsträger, der Entscheidungen treffen kann, die in der Verfassung definiert sind – zum Beispiel, ob der Bundestag aufgelöst werden soll. Eigentlich soll die Königin diese Rolle im britischen System bereits heute ausüben. Doch beruht ihre Legitimität gerade darauf, sich aus der Politik herauszuhalten. Es ist also sehr unwahrscheinlich, dass sie sich in die Brexit-Querelen einmischt, egal, wo das Land hinsteuern sollte. Ohne eine eigene kodifizierte Verfassung hat Großbritannien schlichtweg niemanden, der das System aus dem Sumpf ziehen kann, in dem es sich derzeit befindet.
Britische Juristen sind stolz auf die ungeschriebene Verfassung und deren Langlebigkeit. Der Brexit aber hat im Königreich eine giftige Mischung aus unehrlichen Amtsträgern, unklaren Normen und einer äußerst polarisierten Politik heraufbeschworen. Die Hoffnung, dass das politische System seine Probleme alleine lösen kann, ist kühn. Es ist den Briten deshalb zu wünschen, dass ihr Oberster Gerichtshof mutig genug ist, um den gefährlichen Zustand, in dem sich das Land jetzt befindet, zu verstehen – und entsprechend zu handeln.
Dawsons und meine Einschätzung scheinen nicht weit auseinanderzuliegen.
Und wiederum haben wir allen Grund, den Müttern und Vätern unseres Grundgesetzes dankbar zu sein für die weise Einrichtung unseres Grundgesetzes und seiner Bestimmungen zu Regierung und Parlament, nicht zuletzt der Errichtung des BVerfG, das auch schon einiges geradegerückt hat!
(Allerdings auch nicht ohne den zuvor begangenen hemmungslosen Mißbrauch der Nazis praktisch aller verfassungsmäßigen Einrichtungen.)