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Kehrtwende von Reclam
Mit der am Montagnachmittag verkündeten Entscheidung vollzieht Reclam eine Kehrtwende. Am Dienstag vergangener Woche hatte der Verlag auf Bluesky noch gepostet: „Wir haben die Veranstalter bereits abgemahnt. Da das Werk Victor Klemperers urheberrechtlich geschützt ist, benötigen sie für eine öffentliche Lesung unsere Genehmigung als Rechtsinhaber, die wir ihnen weder erteilt haben noch erteilen werden.“ Das Posting war zwar am Dienstag noch verfügbar – Gültigkeit hat es nicht mehr. Bereits am vergangenen Freitag hieß es nur noch, man prüfe, ob die Lesung genehmigt werden könne.
Wie der Volksverpetzer erfuhr, wurden unter anderem die Erben Klemperers in den Entscheidungsprozess einbezogen. Sie sollen sich gegen ein Verbot der von Dagen organisierten Lesung ausgesprochen haben. Der vom Verlag beauftragte Hamburger Medienanwalt Ralph Oliver Graef ließ sich mit der Aussage zitieren, die Versammlungsfreiheit sei ein hohes Gut: „Wir können die Veranstalter nicht unter Generalverdacht stellen.“ Die Freien Wähler würden „eine reine Lesung“ planen, „ohne Debatte, ohne politische Auseinandersetzung“, bei der das geschehene Unrecht und das Leid der Dresdner Juden im Mittelpunkt stehen solle.
Reclam behält sich rechtliche Schritte vor
Auch in der Reclam-Verlagsspitze herrschte nach lebhaften Debatten im Haus zuletzt die Auffassung vor, es gelte, sich in der Angelegenheit „politisch neutral“ zu verhalten. Vom Verlag wurden die von den Freien Wählern angekündigte Lesung und eine weitere, vom Staatsschauspiel Dresden und der Jüdischen Kultusgemeinde, letztlich gleichwertig betrachtet. Bei der Staatsschauspiel-Veranstaltung sollen am 9. November drei Schauspieler:innen in der Synagoge Dresden-Neustadt ebenfalls aus LTI, Klemperers Buch über die Sprache des Dritten Reiches, lesen.
Dass es Dagen, Steimle & Co. um das Symbolhafte der Veranstaltung – und letztlich eine perfide Vereinnahmung von Klemperer – geht, sieht Reclam ganz offenbar nicht, wenigstens nicht mehr. „Der Reclam-Verlag und der Gustav-Kiepenheuer-Bühnenvertrieb stehen für Diskurs, Diskussion und Reflexion“, heißt es in der Verlagserklärung vom Montag. „Wir halten eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Werk Klemperers für wichtig, denn Bücher sind für alle da.“ Die geplanten Lesungen „sollen das Verständnis für das Unrecht und das Leid, das die Nazi-Diktatur über Deutschland und die Welt gebracht hat, fördern und Klemperers Vermächtnis, insbesondere in seiner Heimatstadt Dresden, wachhalten“, hieß es weiter.
Zwar will Reclam einen Beobachter zu der Veranstaltung der Freien Wähler nach Dresden schicken. „Wir behalten uns rechtliche Schritte vor, sollte im Rahmen der von uns genehmigten Lesungen das Urheberpersönlichkeitsrecht und das Ansehen Victor Klemperers oder das Gedenken an die Opfer des Dritten Reiches verunglimpft werden“, heißt es. Verhindert wird das von Dagen organisierte Spektakel so allerdings nicht.
Wird Lesung im Landhaus stattfinden?
Ob die Klemperer-Lesung mit Steimle, Vaatz und Hermenau wie angekündigt im Landhaus – dem Sitz der städtischen Museen – stattfinden kann, war am Dienstag offen. Grundsätzlich stehen allen Stadtratsfraktionen für Veranstaltungen kostenfrei städtische Räume zu. Doch hatte Kultur-Bürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Linke) die Zusage für den Festsaal des Landhauses zurückgezogen, zunächst unter Hinweis auf den Einspruch des Verlags. Später sagte sie unter Hinweis auf Steimle grundsätzlich, sie befürchte eine Verunglimpfung der Holocaust-Opfer. Dafür stelle sie keine Räume zur Verfügung. Steimle sei „bekanntlich kein neutraler Vorleser“.
Klepsch bekräftigte ihr Veto auch nach Reclams Kehrtwende. Der „Sächsischen Zeitung“ sagte sie:
„Ich habe als Beigeordnete einen Amtseid abgelegt, der mich dazu verpflichtet, Schaden von der Stadt abzuwenden. Das ist im aktuellen Fall die rechtliche Grundlage meiner Entscheidung.“
Ob sich die Linken-Politikerin mit dieser Position im Rathaus durchsetzen kann, ist unklar. Nach Volksverpetzer-Informationen soll sich der Erste Bürgermeister Jan Donhauser, bis 2020 CDU-Fraktionschef im Stadtrat, inzwischen intern dafür ausgesprochen haben, den Freien Wählern für die Klemperer-Lesung den Festsaal des Landhauses zur Verfügung zu stellen. Donhauser ließ eine Anfrage dazu unbeantwortet. Auch Oberbürgermeister Dirk Hilbert (FDP) hat sich zum Streit bisher nicht öffentlich geäußert.
Unverständnis und Kritik
Rechte Medien hatten in den vergangenen Tagen lautstark dagegen getrommelt, dass Reclam den Freien Wählern zunächst keine Genehmigung für die Veranstaltung erteilen wollte. „Ein klarer Fall von Zensur“, hieß es bei „Tichys Einblick“. Die Kehrtwende des Stuttgarter Verlages wiederum löste dann Unverständnis und Kritik bei vielen aus, die wachsam auf rechtsextreme Bedrohungen blicken.
Der Autor Daniel Mullis schreibt derzeit an einem Buch über die „Regression der Mitte“, das im Frühjahr 2024 bei Reclam erscheinen soll. Er postete auf Bluesky:
„Lieber @reclamverlag, freue mich auf ein Buch bei euch. Da es darin um Erstarken der Rechten geht, erlaube ich mir den Kommentar, dass ihr hier meines Erachtens anders hättet entscheiden sollen. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut & Staat muss es schützen, Zivilgesellschaft aber sollte Grenzen klar ziehen.“