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Eigentlich ist alles wie immer. Vier Versammlungen sind laut Behörden für Samstag, einen Tag vor dem Volkstrauertag, im oberfränkischen Wunsiedel bislang angemeldet. Das örtliche „Wunsiedel-ist-bunt“-Bündnis wirbt auf Plakaten in der Stadt um Beteiligung. Mit der italienischen Ska-Band Los Fastidios ist die Gruppe angekündigt, deren thematisch passender Song „Antifa Hooligans“ seit mehreren Jahren in der Halbzeit bei Heimspielen des FC St. Pauli gespielt wird. Erstmals seit vielen Jahren könnte jedoch die Neonazi-Szene fehlen – und die Stadt im Fichtelgebirge ein Jahr ohne geschichtsrevisionistische Aufmärsche erleben.
Angefangen hatte alles 1987 mit der Erlaubnis des evangelischen Kirchenvorstandes, die Leiche des im August im damaligen Kriegsverbrechergefängnis Spandau gestorbenen Rudolf Heß auf dem örtlichen Friedhof im Grab von dessen Eltern beizusetzen. Eigentlich hatte der ehemalige Stellvertreter Adolf Hitlers, der sich im hohen Alter das Leben nahm, wenig Verbindungen in die Stadt, es soll aber sein Wunsch gewesen sein, neben den Eltern begraben zu werden.
Michael Kühnen, Christian Worch, Jürgen Rieger
Das Grab auf den örtlichen Friedhof wurde aus mehreren Gründen schnell zur Kultstätte von Nazis sowie Neonazis. Er war der Stellvertreter Hitlers, aufgrund bereits damaliger Strafgesetze durfte Heß jedoch nicht öffentlich gedacht werden. Als einziger der engsten Führungsmannschaft des NS-Regimes gab es von ihm eine Grabstätte, die Asche der hingerichteten Mitstreiter war aus Sorge vor Wallfahrtsorten verstreut worden. Heß hatte in englischer Kriegsgefangenschaft keine Möglichkeit mehr, sich – anders als Göring oder Himmler – von Hitler abzusetzen. Der mysteriöse Flug nach England kurz vor Beginn des Vernichtungskrieges gegen die damalige Sowjetunion bot die Gelegenheit, Hitler und die Nazis als angeblich dem Frieden verschriebene Macht darzustellen und die Kriegstreiber auf anglo-amerikanischer Seite.
An der Organisation der Rudolf-Heß-Märsche, die zeitweise wegen Verboten auf andere Städte oder das Ausland auswichen, waren mit Michael Kühnen, Christian Worch oder Jürgen Rieger das Who is who der deutschen Neonazi-Szene beteiligt. 2003 setzte sich der damalige CSU-Bürgermeister Karl Willi Beck zu linken Gegendemonstranten auf die Straße, die den Zug von etwa 3.800 Neonazis blockieren wollten.
Grab aufgelöst
Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte wie in den Vorjahren die zunächst von den Behörden verbotene Demonstration wieder erlaubt. Die im März 2005 beschlossene Änderung des Volksverhetzungsparagrafen erleichterte in der Folge wieder das Verbot der Märsche. Unter Strafe gestellt wurde mit der Ergänzung nun das öffentliche Billigen, Verherrlichen oder Rechtfertigen der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft, worunter Aufmärsche für den ehemals zweiten Mann im NS-Staat subsumiert werden konnten. Im November erklärte das Bundesverfassungsgericht die Regelungen für vereinbar mit dem Grundgesetz. Die Entscheidung ging als „Wunsiedel-Entscheidung“ in die Rechtsgeschichte ein. 2011 wurde das Grab in Einvernehmen mit den Angehörigen schließlich aufgelöst.
Allerdings wurde Wunsiedel die Neonazis nicht los, was auch die begrenzte Wirkung strafrechtlicher Verbotsmöglichkeiten zeigte. Schnell etablierte sich aus der bayerischen Kameradschaftsszene ein Aufmarsch heraus, der zumindest soweit formal von den Heß-Märschen losgelöst war, dass er gerichtsfest durchgeführt werden konnte. Zudem bot sich für die Szene der Termin am Samstag vor dem Volkstrauertag an, um sich in die Tradition des „NS-Heldengedenkens“ zu stellen.
„Dein Heldengrab ist überall“
Der Versammlungsbehörde blieb nur die Möglichkeit, Anspielungen auf Heß zu untersagen, was zu einer Art Katz-und-Maus-Spiel führte, denn schon allein beim Vorlesen des Versammlungsbescheids musste der Name genannt werden. Belustigend nahmen die Teilnehmer auch meist das Verbot des Slogans „Yes, Yes, Yes“ auf, weil irgendwer in der Behörde meinte, so könnten Rufe nach Heß kaschiert werden. Die Neonazis fanden allerdings reichlich andere Möglichkeiten. Wunsiedel wurde von den Neonazis zur „Märtyrerstadt“ erklärt. Mitgeführt wurde zudem ein Hochbanner mit der Liedzeile „Dein Heldengrab ist überall“, was einem Heß gewidmetem Lied entstammt. Eingegriffen wurden von Seiten der Behörden deshalb nie.
Höhepunkt des zivilgesellschaftlichen Widerstandes war eine Aktion aus den Reihen der Aussteigerhilfe „Exit“, die auf satirische Art den „Trauermarsch“ der Neonazis in einen Spendenlauf umwidmete. Der Dritte Weg als Veranstalter änderte in den Jahren darauf das Setting. Die Route wurde verändert und der Aufmarsch als Fackelzug in die Dunkelheit gelegt. Die Versammlung bekam einen rein internen Charakter, mit dem für die Opferungsbereitschaft der Anhänger geworben wurde, die im Dienste des Volks wie „die Ahnen“ bereit sein sollten, ihr eigenes Leben zu opfern, weshalb man sich auch nicht von deren Taten distanzieren wollte. Gegen Ende wurde hierzu immer den Verbänden der Wehrmacht gehuldigt, inklusive der Waffen-SS.
Weitere „Trauermärsche“ eingestellt
Eine Absage von Wunsiedel würde zu einem allgemeinen Trend der neonazistischen Szene passen. Mehrere geschichtsrevisionistische Aufmärsche, die an Jahrestagen alliierter Bombenangriffe stattfanden und die in der Vergangenheit teilweise vierstellige Teilnehmendenzahlen erreichten, entfielen zuletzt ersatzlos. So wurden in den letzten Jahren geschichsklitternde Aufmärsche in Remagen, Lübeck oder Bad Nenndorf bereits eingestellt, lediglich zur alljährlichen Demo in Dresden reisen weiterhin einige Hundert Neonazis.
Der Dritte Weg leidet, wie auch Fachjournalist Jan Nowak in „Der Rechte Rand“ feststellte, seit einiger Zeit an Mobilierungsproblemen. Zur zentralen Demonstration am 1. Mai 2022 in Zwickau kamen nicht mehr Teilnehmer als zur Versammlung der als Resterampe wahrgenommenen „Neuen Stärke“, die optisch deutliche Ähnlichkeiten zum Dritten Weg aufweist. Auch die Beteiligung an den vergangenen Wunsiedel-Demonstrationen war zuletzt stark rückläufig. Gerade mal 120 Teilnehmende wurden 2022 noch gezählt. Zum 1. Mai verzichtete die Kleinpartei erstmalig seit vielen Jahren auf eine zentrale Demonstration und lud vielmehr zu einem laut Jan Nowak „freudlos wirkenden Fest an den vier Bürostandorten“ ein.