@DC71 Nach meiner damaligen Wahrnehmung wollte Cameron einfach die nächste Wahl gewinnen, und zwar ohne auf einen Koalitionspartner angewiesen zu sein. Zur Erinnerung: Er regierte in seiner ersten Amtszeit ja mit den Liberalen zusammen, die immerhin ein paar m. E. interessante Reformen vorschlugen bzw. durchbrachten. Das Bestehen einer Koalition ist in GB allerdings über lange Zeiträume eher die Ausnahme als die Regel und wurde daher nicht nur von Cameron selbst als "Problem" angesehen.
Cameron sah seinen Gegner offenbar hauptsächlich auf der Rechten, UKIP, Farage usw. Also machte er entsprechend Wahlkampf, um UKIP das Wasser abzugraben. Dabei verfiel er auf die Idee. ein Referendum über den Verbleib oder Austritt aus der EU zu versprechen. Damit gewann er die Wahl und konnte fortan allein mit seiner Partei regieren.
Allerdings sind Wahlen kurzfristige Entscheidungen, die halten gerade einmal vier Jahre, falls nicht eine vorzeitige Auflösung des Unterhauses vorkommt, dann halten sie wesentlich kürzer. Die Frage eines Austritts aus der EU ist hingegen eine langfristige Entscheidung. Man sollte eine kurz- und eine langfristige Entscheidung nie miteinander koppeln, das kann nicht gut kommen. Solche Bedenken hatte Cameron aber offenbar nicht. Vielleicht dachte er auch, dass er im Wahlkampf viel versprechen könne, was er nach der Wahl nicht halten müsse. Es kam aber anders, er musste das Referendum letztlich wie versprochen durchführen. Zu stark war der Druck nicht nur vom politischen Gegner, sondern von allen Seiten. Es wäre auch schwer gewesen, ein solches Versprechen einfach nicht einzulösen.
Vielleicht dachte Cameron auch, das Referendum würde ein Selbstläufer. Immerhin war seine Taktik, die Unterhauswahl zu gewinnen, wie geplant aufgegangen. Nach meiner Wahrnehmung setzte er sich auch nicht besonders für ein Votum zum Verbleib in der EU ein, auch seine Regierung insgesamt war wohl eher lau, zumal auch unter den Tories etliche für einen Austritt waren (und noch sind), man also vermutlich diese Fraktion in der eigenen Partei nicht durch einen entschieden geführten Abstimmungskampf verprellen wollte.
Jedenfalls ergab das Referendum das bekannte knappe Ergebnis für den Austritt. Cameron blieb dann gar nichts Anderes übrig, als seinen Posten zu räumen. Seine Taktik ging also letztlich nicht auf. Dass May dann auch noch die Tory-Mehrheit verspielte, gehört nicht mehr zur Cameron-Erzählung. Jedenfalls ist die ganze Geschichte ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie man sich mit einer kurzfristigen und kurzsichtigen Taktik selbst erfolgreich in die Pfanne hauen kann.
Inzwischen bin ich über diese Meldung gestolpert, die aufzeigt, welche Perspektiven es noch zu geben scheint:
KEYSTONE/AP/FRANK AUGSTEIN
(sda-ats)
Ratlosigkeit in Westminster nach der dritten Ablehnung des Brexit-Abkommens im britischen Unterhaus. Mehr als die Hälfte der Tory-Abgeordneten forderten von Premierministerin May in einem Brief den Austritt Grossbritanniens aus der EU.
Spekulationen zufolge könnte es eine vierte Abstimmung über den von Premierministerin May und der EU ausgehandelten Deal geben. Auch Neuwahlen sind im Gespräch. Für Montag ist im Unterhaus eine weitere Runde von Probeabstimmungen über Alternativen zum Austrittsabkommen von Premierministerin Theresa May geplant. Auch der kommende Mittwoch ist bereits für diesen Prozess vorgesehen.
Die frühere britische Bildungsministerin Nicky Morgan brachte am Samstag in einem BBC-Interview die Möglichkeit einer Allparteienregierung ins Spiel. Es müsse eine Mehrheit im Unterhaus sichergestellt werden, um einen geordneten Ausstieg aus der Europäischen Union sicherzustellen, sagte die Tory-Politikerin.
Ihr Vorschlag löste ein geteiltes Echo aus. Morgan wird für die Nachfolge der Regierungschefin May gehandelt - neben mehr als einem Dutzend weiterer Kandidaten.
"Klima der Angst"
Der Labour-Politiker Ben Bradshaw beklagte, dass die Abgeordneten derzeit in einem Klima der Angst und Einschüchterung lebten. Er selbst führe immer ein mobiles Alarmgerät mit sich, nachdem 2016 seine Fraktionskollegin Joe Cox von einem Rechtsradikalen ermordet worden war.
Abgeordnete würden aus Angst vor Bedrohungen entgegen ihren eigenen Ansichten abstimmen, sagte Bradshaw im Deutschlandfunk. Es herrsche eine "schlimme Zeit in Grossbritannien".
Bei der ersten Abstimmungsrunde über Alternativen zu Mays Austrittsabkommen hatte es am Mittwoch für keinen der acht Vorschläge eine Mehrheit gegeben.
Sympathien für Zollunion mit der EU
Doch Beobachter halten es für möglich, dass sich die Abgeordneten kommende Woche auf eine der Varianten einigen könnten, die am besten abgeschnitten hatten. Dazu gehören die Vorschläge, dass Grossbritannien dauerhaft in einer Zollunion mit der EU bleibt oder dass die Briten in einem erneuten Referendum über das Brexit-Abkommen entscheiden.
Beides scheint nicht mehr ausgeschlossen. Brüssel hat bereits Offenheit für Verhandlungen über eine engere Anbindung Grossbritanniens an die EU signalisiert.
Auch die Hoffnungen auf eine zweite Volksabstimmung und eine Abkehr vom Brexit sind nicht ganz erloschen. 2016 hatte sich eine knappe Mehrheit der Briten in einem Referendum für den Austritt des Landes aus der EU ausgesprochen.
Ein Austritt ohne Abkommen ist ebenfalls weiterhin möglich, sollte London keine erneute Verlängerung des Brexits erreichen. Neuer Brexit-Tag ist der 12. April. Voraussetzung für eine lange Verschiebung wäre, dass die Briten an der Wahl zum Europaparlament Ende Mai teilnehmen. Beraten will die EU über einen Ausweg aus der Brexit-Krise bei einem Sondergipfel am 10. April.
Corbyn hofft auf Neuwahlen
Immer lauter werden in Grossbritannien die Rufe nach einer Neuwahl. Oppositionschef Jeremy Corbyn wartet schon lange auf die richtige Gelegenheit. Die Regierungschefin schien am Freitag nach ihrer erneuten Niederlage selbst diese Möglichkeit anzudeuten: "Ich fürchte, wir nähern uns den Grenzen dieses Prozesses in diesem Haus."
Doch dass die Tories May erlauben würden, die Partei ein weiteres Mal in eine vorgezogene Parlamentswahl zu führen, scheint zweifelhaft.