Ich bin hoffnungsloser Laie. Jedoch in meiner Vorstellung schaut sich das Gericht im Augenblick die Anklage und die Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft sowie die Äußerungen des Angeklagten an und entscheidet über die Eröffnung des Hauptverfahrens. Weitere Gutachten werden womöglich bei Bedarf während der Hauptverhandlung erstellt, aber jetzt doch nicht, oder?
Das stinkt doch zum Himmel, was der Manfred Fehling da behauptet.
"Hoffnungsloser Laie" ? Du hast das innerhalb des Strafverfahrens stattfindende Zwischenverfahren im Grunde völlig zutreffend dargestellt. Die beim Gericht eingehende Anklage wird dem Angeschuldigten (so heißt der ehemalige Beschuldigte ab Erhebung der Anklage) zugestellt und ihm wird noch einmal Gelegenheit zur Stellungnahme innerhalb einer vom Gericht gesetzten Frist gegeben.
Nach Ablauf der Frist entscheidet das Gericht über die Eröffnung des Hauptverfahrens. Im Grunde genommen wird dabei die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Anklage zu erheben, nach Aktenlage, also ohne Termin und im Normalfall auch ohne weitere Ermittlungshandlungen, geprüft. Das Gericht fragt sich dabei: "Ist eine Verurteilung wahrscheinlicher als ein Freispruch ?". Falls ja - und da genügt prinzipiell erst einmal eine Wahrscheinlichkeit von 51 Prozent - wird das Hauptverfahren eröffnet und der Termin bzw. die Termine zur Hauptverhandlung anberaumt. Ab dieser Entscheidung des Gerichts und nicht erst in der Hauptverhandlung wird der "Angeschuldigte" zum "Angeklagten".
"Im Normalfall ohne weitere Ermittlungshandlungen" bedeutet: es gibt auch Ausnahmen. Das Gericht kann nämlich nach § 202 StPO
zur besseren Aufklärung der Sache einzelne Beweiserhebungen anordnen. Das kann im Einzelfall auch bedeuten, dass ein Sachverständigengutachten eingeholt wird. In der Praxis kommen derartige Anordnungen des Gerichts aber relativ selten vor.
Relativ selten ist in der Praxis auch die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen liefern die Staatsanwaltschaften, von denen viele ebenso chronisch wie hoffnungslos überlastet sind, trotz allem eine relativ gute Arbeit ab und die mit der Erhebung der Anklage verbundene Einschätzung, dass es mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu einer Verurteilung kommt, ist fast immer zutreffend. Ferner können viele Dinge in so einem Strafverfahren tatsächlich erst in der Hauptverhandlung endgültig geklärt werden. Und schließlich gab es zumindest früher noch einen weiteren, nicht im Gesetz auffindbaren Grund. Damals gab es ein von der heutigen Praxis abweichendes Verfahren zur Berechnung der Arbeitsbelastung eines Richters. Die Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens, die ja durchaus auch einige Arbeit macht (die Ablehnung der Eröffnung muss man begründen, die Eröffnung bedarf keiner Begründung) zählte für die Statistik viel weniger als die Durchführung der Hauptverhandlung.
Wird die Eröffnung der Hauptverhandlung ganz oder teilweise (teilweise bedeutet z.B., dass das Gericht den Sachverhalt anders als die Staatsanwaltschaft rechtlich würdigt oder nur für einen Teil der angeklagten Handlungen den hinreichenden Tatverdacht bejaht), abgelehnt, kann die Staatsanwaltschaft dagegen Beschwerde einlegen. Darüber entscheidet das nächsthöhere Gericht, im Falle der Anklage zum Landgericht also das Oberlandesgericht.
Im vorliegenden Fall dauert das Zwischenverfahren schon einige Zeit. Die Akten dürften allerdings auch einen erheblichen Umfang erreicht haben und für die Hauptverhandlung sind außerdem angesichts zu erwartender "Prozessbeobachter" erhebliche Sicherheitsvorkehrungen notwendig, die das Gericht im Vorfeld organisieren und mit den beteiligten Stellen abstimmen muss. Und schließlich: Es wäre nicht überraschend, wenn auch das Landgericht Halle so sehr ausgelastet ist, dass es bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens und bis zum Termin zur Hauptverhandlung noch etwas dauert. Haftsachen wie die von Adrian sind zwar beschleunigt und bevorzugt zu bearbeiten, aber auch davon hat ein Landgericht in Strafsachen ja nicht nur eine einzige.
Vielleicht nochmal zu der Diskussion zum "direkten" oder "indirekten" Treffer. Diese Frage, zu der wir mangels Aktenkenntnis ohnehin nicht viel aus eigener Anschauung sagen können, kann aus meiner Sicht zumindest im gegenwärtigen Verfahrensstadium offen gelassen werden und ungeklärt bleiben. Wenn jemand mit einer funktionsfähigen Schusswaffe in Richtung eines Menschen schießt und dieser Mensch dann durch das Geschoss getroffen und verletzt wird, ist das erst einmal relativ eindeutig ein versuchtes Tötungsdelikt - und zwar unabhängig davon, ob der Schuss den Menschen direkt oder indirekt trifft. Denkbare Ausnahmen allenfalls: Die verwendete Waffe ist technisch so harmlos und ungefährlich, dass eine Tötung ausgeschlossen ist (Beispiel: diese lustigen Spielzeugpistolen, mit denen man in meiner Kindheit - kurz nach dem 1870/71er Krieg - Plastikstäbe mit Gummipfropfen vorne dran verschießen konnte) oder der Treffer ist wirklich nur ein reines, nicht billigend in Kauf genommenes Versehen (Beispiel: Schütze schießt nahezu senkrecht in die Luft und jemand wird durch das herabfallende Projektil getroffen). Beides liegt bei Urian zweifelsfrei nicht vor.
Was das ominöse Gutachten angeht: Entweder haben Adrians Unterstützer dieses frei erfunden (wäre nicht das erste Mal) oder aber sie haben ein tatsächlich vorliegendes Gutachten so verbogen und bewusst fehlinterpretiert, dass Adrian am Ende wie das unschuldigste Unschuldslämmchen dasteht. Jedenfalls möchte ich schon angesichts der Tatsache, dass Anklage wegen eines versuchten Tötungsdeliktes erhoben wurde, ausschließen, dass es tatsächlich ein Gutachten mit den von der Unterstützerszene behaupteten Feststellungen gibt.
Der Eröffnung des Hauptverfahrens wegen eines versuchten Tötungsdeliktes steht damit aus meiner bescheidenen Sicht rechtlich kaum noch etwas im Wege.