vom 13.02.2023 über einen Stadtrundgang für Insider.
Spoiler
Mario, der in Wirklichkeit anders heisst, betreibt einen Telegramkanal mit rund 1300 Mitgliedern, in dem den ganzen Tag lang Artikel und Videos geteilt werden, die Verschwörungstheorien propagieren. Rund 30 Mitglieder haben sich an diesem Sonntagnachmittag bei knapp über null Grad und Nieselregen eingefunden, um dem von Mario geführten Stadtrundgang durch St.Gallen «mit Fokus auf Freimaurer-, Pharaonen-Symbolik und speziellen ‹Insiderplätzen›» beizuwohnen.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind bunt durchmischt. Unter ihnen befinden sich viele Paare, ein Baby im Kinderwagen, Teenager mit ihren Eltern, Damen und Herren in ihren Sechzigern. Auch sind zwei bekannte Vertreter der Ostschweizer Reichsbürgerszene anwesend – und ein Journalist, der sie inkognito begleitet. Sie alle trotzen dem garstigen Wetter, um sich von dem kleinen runden Mann mit neonfarbener Leuchtjacke die Welt erklären zu lassen.
Lückenlose Beweisführung
Die Schweiz dient laut Mario den herrschenden Pharaonen-Echsen-Aliens als wichtiges Zentrum der Macht. Die geradezu erdrückende Beweislage dafür wird etwa wie folgt dargelegt: Wie jeder weiss, nennt sich die Schweiz auf Französisch Suisse, was sich von «Son of Isis» ableitet. Isis ist eine Göttin der ägyptischen Mythologie, die unter anderem auch Herrin der Unterwelt ist. Es sei also kein Zufall, dass die ägyptische Mumie Schepenese in St.Gallen ausgestellt ist.
Wen wundert es da noch, dass auf einem der Sarkophage der Schepenese gespreizte Flügel abgebildet sind. Raben haben bekanntlich auch Flügel und sind laut Mario ein Symbol fürs Spionieren. Kein Zweifel also, dass wir unter der totalen Kontrolle von Pharaonen-Echsen stehen.
Der lückenlosen Beweisführung des Experten hat niemand etwas entgegenzusetzen und so watschelt die Gruppe langsam ins Innere der Stiftsbibliothek, um sich dort weiter erleuchten zu lassen.
Spätestens seit Corona sind Verschwörungstheorien (VT) mitten in der Gesellschaft angekommen. Kaum jemand hat heute nicht eine Person im Bekanntenkreis, die regelmässig «interessante» Links teilt. Pascal Wagner-Egger ist an der Universität Fribourg Dozent für Sozialpsychologie und forscht bereits seit 20 Jahren zu VT, und zu denen, die an sie glauben. 2021 hat er ein Fachbuch veröffentlicht, indem er die Forschung der letzten 20 Jahre zum Thema ausgewertet und zusammengefasst hat.
20 bis 30 Prozent der Menschen glaube an VT, sagt Wagner-Egger. Bei etwa 10 Prozent sei der Glaube stark ausgeprägt, diese Menschen glaubten an eine Vielzahl von verschiedenen Verschwörungstheorien. Während die erste Zahl seit einigen Jahren mehr oder weniger stabil bleibe, sei zu beobachten, dass immer mehr Betroffene einen stark ausgeprägten Glauben hätten. Eine Entwicklung, die mit der Coronapandemie ihren bisherigen Höhepunkt erreicht habe.
Wagner-Egger sagt:
«Die Hauptgründe sind das Internet und Social Media.»
Es habe schon immer Narren gegeben, die abstruse Ideen verbreiteten. Doch während sie dies früher nur in der Dorfkneipe getan hätten, könnten sie ihre Theorien heute in Rekordtempo über die ganze Welt verteilen und sich mit Gleichgesinnten vernetzen.
Teil einer erleuchteten Elite
Die Gruppe steht inmitten der jahrhundertealten barocken Stiftsbibliothek um den St.Galler Globus herum, während Mario erklärt, dass unser Planet in Wirklichkeit eine Scheibe sei. Man gaukle uns vor, dass die Erde rund sei, «um die Länder zu verstecken, von denen wir nichts wissen sollen, und damit die Afrikaner nicht merken, wie klein Europa im Vergleich zu ihrem Kontinent ist».
Der Journalist stutzt. Da der Rest der Gruppe die Zusammenhänge aber offenbar auf Anhieb verstanden hat, hält er den Mund. Ohnehin ist Mario bereits beim nächsten Thema. Er vergleicht gerade Corona mit dem Holocaust: «Früher rannten alle Adolf Hitler hinterher, heute Alain Berset.»
«Nicht alle!», entgegnet ein älterer Herr laut, worauf die Anwesenden kichern. Sie lassen sich schliesslich nicht von den Echsenmenschen einlullen.
Verschwörungsgläubige wiesen in der Regel leichte paranoide Züge auf und tendierten zu Narzissmus, sagt Sozialpsychologe Pascal Wagner-Egger. Wie Sektenmitglieder, hätten sie oft ein ausgeprägtes Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein.
«Ihr Verschwörungsglaube erlaubt ihnen, sich als Teil einer auserwählten, erleuchteten Elite zu fühlen.»
Ausserdem habe es auch etwas mit politischem und sozialem Kontrollverlust zu tun, sagt Wagner-Egger. Zwar gebe es zahlreiche Beispiele von reichen und sehr gebildeten Verschwörungsgläubigen, aber statistisch stammten sie hauptsächlich aus den niedrigeren sozialen Schichten mit geringem Bildungsgrad und tiefem Einkommen.
So seien VT auch sehr oft ein Rache-Diskurs gegen Eliten. Reiche und mächtige Menschen würden zum Sündenbock für die fehlende Kontrolle über das eigene Leben. Wagner-Egger sagt:
«Es ist psychologisch erfüllender, ein heroischer Freiheitskämpfer gegen eine böse Machtelite zu sein, als ein Durchschnittsbürger in finanziellen Schwierigkeiten.»
Auf dem Weg zur Kathedrale lernen wir, dass die Schweiz kein Staat, sondern eine Firma ist und vom US-Geheimdienst regiert wird, dass das St.Galler Wappen in Wirklichkeit ein Nazisymbol ist und, dass die Tore der Kathedrale so gross sind, damit die Riesen bequem ein und aus gehen können. Die gibt es nämlich – genauso wie Einhörner.
Kritisches Denken ist nicht ihre Stärke
Wer jemals mit Verschwörungsgläubigen gesprochen hat, weiss, wie gerne diese damit prahlen, wie kritisch sie seien. Sie würden eben Fragen stellen und nicht blind den Obrigkeiten vertrauen. Allerdings haben Studien von Pascal Wagner-Egger und anderen Sozialpsychologen ergeben, dass Verschwörungsgläubige tendenziell unterdurchschnittliche Fähigkeiten zum kritischen Denken aufweisen.
In der Psychologie nenne man das Phänomen kognitive Asymmetrie, erklärt Wagner-Egger. So seien Verschwörungsgläubige zwar extrem skeptisch gegenüber jeglichen «offiziellen Quellen», gleichzeitig aber völlig naiv und leichtgläubig bezüglich allem, was in ihr Weltbild passe. Während sie Informationen aus Medien und Politik kategorisch als Lüge abstempelten, werde jeder Satz und jedes Video aus Verschwörungschats auf Telegram unhinterfragt als Wahrheit akzeptiert.
Echte Verschwörungen existierten, sagt Wagner-Egger, beispielsweise der Watergate-Skandal in den USA oder die Affäre um die Crypto-AG in der Schweiz. Doch wahre Verschwörungen seien stets erst durch die akribische Recherchearbeit von Journalistinnen oder Staatsanwaltschaften ans Licht gekommen und ausserdem zweifelsfrei belegt worden. Verschwörungsgläubige hingegen würden zusammenhangslose Dinge, die sie als «Anomalien» wahrnehmen, bündeln und dann als Beweise werten. Wagner zitiert dazu einen Arbeitskollegen:
«Kein Verschwörungsgläubiger hat jemals eine Verschwörung aufgedeckt.»
Nicht nur lustig
Der Nieselregen hat sich mittlerweile in schweren Schneeregen verwandelt, der Parka des Journalisten ist völlig durchnässt. Die Menschentraube trottet auf ihrem Weg zum Kulturmuseum an etlichen Dreiecken, Halbkreisen und Abbildungen von Tieren vorbei; allesamt sind sie Beweise für eine grosse Verschwörung, in die nebst den Echsenmenschen nun auch die Freimaurer, der Vatikan und selbstverständlich die Juden verwickelt sein sollen.
Für die meisten Menschen sind VT in erster Linie belustigend. Doch sie bergen auch Gefahren. Die rechtsextremen Attentäter von Christchurch in Neuseeland und Halle in Deutschland glaubten an eine jüdische Weltverschwörung. Der Angriff auf das Capitol in Washington wurde ebenfalls durch den Glauben an verschiedene VT befeuert, allen voran jener der «gestohlenen Wahl» Trumps.
In der Schweiz verbreitet die wachsende Neonazigruppe Junge Tat den Verschwörungsmythos des grossen Austauschs. Gemäss diesem würden politische Eliten versuchen, durch Einwanderung die weissen Mehrheitsbevölkerungen in Europa und den USA zu ersetzen.
Vor dem italienischen Konsulat in der Katharinengasse erklärt Mario, dass die Sterne auf der Europaflagge eigentlich Pentagramme seien und die EU daher eine Organisation Satans. Daraufhin folgen derart antisemitische Aussagen, dass der Journalist sie wieder aus seinen Notizen streicht.
Ausserdem hat er kalte Füsse und ist trotz Marios bald zweieinhalb Stunden andauernder Auflistung von Beweisen für eine weltumspannende Verschwörung immer noch nicht zu hundert Prozent überzeugt. Tropfnass und durchfroren gibt sich der Journalist also dem Schicksal hin, für den Rest seines Lebens eine Marionette der zionistischen Pharaonen-Echsen-Aliens zu sein und lässt die Gruppe von Gläubigen vor der Kirche St.Mangen im Regen stehen.