Das liegt daran, dass wir unsere direkte Umwelt als naturgegeben ansehen, obwohl sie das nicht ist. Der kritische Verstand und die wissenschaftliche Weltbetrachtung als die allgemein anerkannte Basis unserer Gesellschaft sind aber allein in diesem Land gerade mal 70 Jahre alt.
Davor wurde hier einem Diktator gehuldigt und dessen hirnverbrannt-mörderischer Rassenwahn wider jeder Logik und Menschlichkeit umgesetzt. Und davor war es gottgegeben, dass die Menschen sich in Adel und Pöbel aufteilen sowie Eingeborene, die auf einer Stufe mit Tieren standen. Und noch etwas früher hat man Ghettos und Hexen verbrannt (wobei mir einfällt, dass die weitgehende Gleichberechtigung von Frauen erst vor etwa 50 Jahren durchgesetzt werden konnte). Verschwörungstheorien und religiöser Wahn begleiten die Menschen seit Jahrtausenden. Die Instrumentalisierung von Lügen und die Mechanismen der Aufstachelung und Hetze haben weitaus mehr Vorbilder als der kritische Geist.
Selbst ein uns so selbstverständlich erscheinender Begriff wie "Wahrheit" wurde früher deutlich anders verstanden. Unser heutiges Verständnis ist von der Schrift geprägt. Wir beweisen Wahrheit. Wir gehen die Argumente und Gegenargumente nacheinander durch und gewichten sie, um zu unserer Wahrheit zu gelangen. Dieses Verständnis hat sich aber erst nach der Einführung des Buchdrucks und der allgemeinen Bildung entwickelt. Davor war "Wahrheit" oft einfach nur eine passende Sentenz, eine Volksweisheit, ein Bibelspruch - ein Totschlagargument, das fast immer den Stärkeren begünstigte.
Die heutigen Spinner stehen also in einer jahrtausendealten Tradition der Menschheit, wohingegen wir mit unserem Verständnis eine eher ungewohnte Erscheinung sind. Und es gibt Kritiker, die mit guten Gründen von einem "Zeitalter der Argumentation" sprechen, das leider bereits wieder im Niedergang sein könnte.
Denn die Bindung unserer Wahrheiten und unseres Verständnis an das Medium der Schrift ist immens. Nur wird das Medium immer mehr von den neuen Medien überrollt, die ein ganz anderes Selbstverständnis induzieren. Die Wahrnehmung der Realität besteht nun aus Bild und Ton - möglichst grell und laut. Statt aus Argumentation werden die neue Wahrheiten schlicht aus Emotionen gebildet. Ich hab es gesehen - also ist es so.
Carl Sagan hat mal eine große Ode an den kritischen Verstand geschrieben und das Buch "Der Drache in meiner Garage" genannt. Wobei die große Mehrheit heute noch mit mildem Spott lächeln würde wenn jemand vom Drachen in seiner Garage erzählt. Wohingegen das Youtube-Video vom Drachen in meiner Garage garantiert einige Gläubige finden würde - und letztlich sogar eingefleischte Fans, die selbst dann nicht vom Glauben lassen würden wenn ich selbst zugeben, dass es nur ein Hoax war. Die nicht geringe Gefahr an dieser Erosion der Wahrnehmung der Realität ist, dass es irgendwann wieder reicht vom Drachen zu faseln, um eine Meute mit Mistgabeln in die Garage rennen zu lassen. Ach, aber wozu konstruiere ich hier eigentlich Beispiele?
Die mit den Mistgabeln sind schon vor den Reichstag und in den Kongress gerannt...