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Am frühen Morgen des 3. Dezember 2020 klingelt bei A. G.* die Polizei. Die Beamten der Zuger Kantonspolizei tragen schusssichere Westen und durchsuchen die Wohnung des Ingenieurs. Der Besuch der Staatsgewalt, über den die «Sonntags-Zeitung» berichtete, kommt für den 65 Jahre alten gebürtigen Deutschen nicht überraschend. Der selbsternannte Therapeut und Reiki-Meister hat in den vorangegangenen Wochen zwei Verfügungen des Zuger Kantonsarztes missachtet.
Falsche Befreiungen für Maskentragpflicht verkauft
Ins Visier der Behörden gerät der Mann, weil er Maskenverweigerer professionell unterstützt. Wer sich von der Pflicht befreien will, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, zahlt 50 Franken und erhält von G. dafür ein Attest. Gemäss eigenen Aussagen hat er «haufenweise» solche Dispense ausgestellt. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Zug eine Strafuntersuchung gegen den Esoteriker eröffnet. Der Bundesrat hat inzwischen auch die Verordnung angepasst. Nur noch Ärzte dürfen ein Attest ausstellen.
G. lebt in einer Ortschaft, die jeder Schweizer aus dem Geschichtsunterricht kennt – in Morgarten. Dort, wo 1315 die erste Schlacht zwischen den Eidgenossen und den Habsburgern stattgefunden hat. Morgarten ist ein Ortsteil der Zuger Gemeinde Oberägeri. Diese muss momentan ausserplanmässig einen neuen Gemeindepräsidenten suchen. Ende November reichte Pius Meier seinen vorzeitigen Rücktritt ein. Der FDP-Politiker wurde Mitte März 2020 vom Coronavirus infiziert und leidet seither an Long Covid.
Pius Meier, Gemeindepräsident von Oberägeri, kann nach einer Erkrankung an Covid-19 sein Amt nicht mehr ausüben.
PD
«Ich hatte einen sehr schweren Verlauf und schwebte zwischen Leben und Tod», erklärt der bald 64-Jährige gegenüber der NZZ. In der frühen Phase der Pandemie fühlte sich Meier unwohl, ohne an den klassischen Symptomen wie Fieber oder Geschmacksverlust zu leiden. Sein Hausarzt schickte ihn in Quarantäne, in der Meier positiv auf Covid-19 getestet wurde. «Drei Tage später befand ich mich im freien Fall. Ich musste mit dem Rettungsdienst notfallmässig ins Spital eingeliefert werden und bin erst rund dreissig Tage später im Paraplegikerzentrum Nottwil wieder aufgewacht», erinnert er sich. Vor der Überführung nach Nottwil war er fast vier Wochen im Zuger Kantonsspital via Luftröhrenschnitt an ein Beatmungsgerät angeschlossen.
Die Krankheit macht Meier noch heute schwer zu schaffen. Anfang Oktober kehrte er mit einem 30-Prozent-Pensum in sein Amt zurück. Obwohl er keine körperliche Arbeit verrichtet habe, sei es ihm vorgekommen, als sei sein Kopf in einen Schraubstock eingezwängt. «Ich bin noch weit davon entfernt, an meine Leistungsfähigkeit vor Corona anzuknüpfen, und bin daher schweren Herzens zwei Jahre vor Ablauf meiner Amtszeit zurückgetreten», sagt Meier.
Wenn einer weiss, was das Virus anrichten kann, ist es Pius Meier. Dass es Corona-Skeptiker oder gar -Leugner gibt, kann er nicht verstehen: «Mein Schicksal ist der klare Beleg dafür, dass das Coronavirus keine Erfindung ist oder so harmlos ist wie eine normale Grippe. Es kann auch das Leben von Menschen gefährden, die nicht zu den Risikopersonen gehören.» Diese Botschaft will er mit dem offenen Umgang mit seiner Krankheit gegenüber der Öffentlichkeit vermitteln.
Den Maskenverweigerer A. G. kennt Pius Meier nur aus den Medien. Hingegen ist ihm der bekannteste in Oberägeri wohnhafte Corona-Verharmloser sehr wohl bekannt: Marco Rima. Seit der auch in Deutschland bekannte Komiker im vergangenen Herbst an einer Anti-Corona-Demonstration in Zürich auftrat, gehört er zu den Aushängeschildern dieser Szene. «Da die Todeszahlen tief blieben und die Horrorszenarien in den Spitälern nicht eintraten, hätte man wieder auf Anfang gehen müssen», erklärte Rima im vergangenen Oktober gegenüber der NZZ. «Wir müssen einsehen, dass es sich wohl um eine Art Grippe handelt.»
Pius Meier sagt dazu nur: «Wir leben zum Glück in einer Demokratie, und alle dürfen frei ihre Meinung äussern.» Dass in Oberägeri mehr Corona-Skeptiker leben als anderswo, glaubt der scheidende Gemeindepräsident nicht. Wenn man in den umliegenden Orten fragen würde, wäre die Stimmung wohl ähnlich. Auch dort gebe es Leute, die nicht wahrhaben wollten, dass es sich um eine sehr ernste Sache handle.
Goldküste im goldenen Kanton
Doch besonders ist die Berggemeinde auf rund 740 Metern über Meer auf jeden Fall. Die idyllische Lage sorgt dafür, dass das 6000-Seelen-Dorf in den letzten Jahrzehnten zum bevorzugten Wohnort für die Leute geworden ist, die im Finanz-, Rohstoff- und Kryptozentrum Zug gutes, ja sehr gutes Geld verdienen. Der Ausländeranteil liegt bei 26 Prozent, darunter viele vermögende Expats. Am Ägerisee ist eine Goldküste im ohnehin schon goldenen Kanton Zug entstanden. Davon zeugen die zahlreichen Villen und die Luxusautos, die durchs Dorf kurven.
Ein Kenner der Gegend nennt Oberägeri eine «paradoxe Gemeinde». Die Einheimischen würden die Neuzuzüger kritisch betrachten und würden das Ländliche und Traditionelle umso stärker betonen. Berührungspunkte zwischen den beiden Lebenswelten gebe es nur wenige.
Auffällig ist ausserdem, dass es in Oberägeri eine relativ starke Bewegung gegen die 5G-Technologie gibt. Zwischen den Trägern dieses Widerstandes und den lokalen Corona-Skeptikern gibt es starke Überschneidungen. Dahinter steckt die weltweit verbreitete These, dass Covid-19-Erkrankungen durch die Strahlung von 5G-Antennen zumindest begünstigt werden könnten. So erklärt der Therapeut A. G. auf seiner Website, dass er seine Atteste für Maskenverweigerer eigentlich verschenken wolle: «Als Gegenleistung erwarten wir eine Mitgliedschaft in unserem Verein «5Gfrei.ch», der den Kampf gegen die Mobilfunkbetreiber mit ihrer Strahlenverseuchung aufgenommen hat.»
Aus Protest Maske verweigert
Präsident der lokalen Interessengemeinschaft «IG 5G-freies Ägerital» ist ein anderer bekennender Corona-Skeptiker aus Oberägeri. Es handelt sich um Iwan Iten, den Wirt des Ausflugslokals Raten auf dem gleichnamigen Aussichtspunkt. Die Gaststätte wurde von den Zuger Behörden vor dem Shutdown im Dezember bereits zweimal geschlossen, weil der Wirt die Corona-Massnahmen bewusst und konsequent missachtet hatte. So trugen er und das Personal keine Masken.
Grund für die Schliessung war ausserdem, dass bei einer Vorführung des Filmes «Unerhört» 50 Personen im Restaurant waren, die keine Masken trugen. In dem Dokumentarfilm von Ex-«Arena»-Moderator Reto Brennwald kommen vor allem Corona-Skeptiker zu Wort – unter anderem der Komiker Marco Rima.
Dieser wiederum ist ein gern gesehener Gast im «Raten». Als die NZZ Rima im vergangenen Oktober im Restaurant Raten traf, klopfte der Chef des Restaurants Rima auf die Schulter und erklärte: «Kompliment, also wirklich. Das ist nicht einfach, sich so zu exponieren. Aber ich finde es wichtig, dass man hinsteht, auch solche Persönlichkeiten.»
Doch Iwan Iten, der Corona als «normales Grippevirus» verharmlost, exponiert sich selber auch gerne. Mit seiner Weigerung, eine Maske zu tragen, protestiert er gegen die Politik, die die von den Massnahmen getroffenen kleinen Leute im Stich lasse. Diese Meinung vertrat er an zwei Kundgebungen der Massnahmenkritiker im Kanton Schwyz. Dabei erklärte er, der Bundesrat reagiere unverhältnismässig. Es sei eine «Sauerei», dass die Regierung die Konsequenzen der Massnahmen nicht mittrage. Wenn man etwas gegen die Maske sage, werde man diffamiert, beklagte sich Iten.
Iwan Iten ist Pius Meier als Gegner von 5G-Antennen aufgefallen, der den lokalen Widerstand gegen die neue Technologie organisiert hat. «Die Skepsis gegenüber Corona und gegenüber der neuen Mobilfunktechnologie speist sich anscheinend aus einer ähnlichen Quelle», stellt der Gemeindepräsident von Oberägeri fest. «Ich will niemandem seine Meinung verbieten, doch es ist schade, dass gewisse Leute nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass eine Infektion mit dem Coronavirus auch bei jüngeren Leuten schwere Schäden hinterlassen kann.»
Es mag ein Zufall sein, dass in Oberägeri so viele bekannte Corona-Skeptiker wohnen und mit dem Schicksal ihres Gemeindepräsidenten konfrontiert werden. Das Virus wird viele Gemeinden in der Schweiz spalten und noch lange tiefe Narben hinterlassen. Oberägeri ist überall.