Jetzt habe ich doch das Bedürfnis, hier mal einzusteigen. Zunächst: Der Herr Prantl kommt in der "Berliner Zeitung" sicher etwas zugespitzt rüber, seinen wesentlichen Aussagen würde ich aber zustimmen. Es handelt sich auch nicht um eine verfassungsrechtliche Minderheitenposition. Eine kurze Recherche fördert zahlreiche tendenziell gleichgerichtete Beiträge führender Verfassungsrechtler*innen aus unterschiedlichen politischen "Lagern" zutage: Neben H.-J. Papier finde ich auf die Schnelle (!) Oliver Lepsius, Christoph Möllers, Udo Di Fabio, Josef F. Lindner, Andrea Kießling, Friedhelm Hufen, Thorsten Kingreen, Uwe Volkmann, die sich mit unterschiedlicher Akzentsetzung kritisch geäußert haben. Auch wenn diese Namen außerhalb der VDStRL ("Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer") nicht allgemein bekannt sind, handelt es sich um gewichtige Stimmen, denen zuzuhören sich regelmäßig lohnt.
Nun soll hier aber keinem argumentum ad auctoritatem das Wort geredet werden. Worum geht es also in der Sache?
1. Zunächst: Worum geht es nicht?
a)
Natürlich können Grundrechte im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes oder, falls alle Stricke reissen, im Rahmen der Notstandsgesetze eingeschränkt werden.
Das ist aber reine Theorie, denn eine Notstandssituation im Sinne des Grundgesetzes haben wir nicht. Die "Notstandsgesetze" zielen nicht primär auf die Grundrechte, sondern auf die Situation eines handlungsunfähigen Parlaments. Das Parlament ist aber uneingeschränkt handlungsfähig. Was wir haben, ist eine "epidemische Lage von nationaler Tragweite", die der Bundestag nach Maßgabe des Infektionsschutzgesetzes festgestellt hat und zusätzliche Befugnisse des Gesundheitsministeriums begründet (§ 5 Abs. 2 IfSG).
b)
Das GG formuliert Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat, im konkreten Fall das Recht auf Körperliche Unversehrtheit, der Bürger hat also das Recht, vom Staat nach Möglichkeit gegen eine Pandemie und ihre Auswirkungen geschützt zu werden.
Der Staat gewährt da nichts gnädig.
Stimmt: Um gnädiges Gewähren geht es nicht. Es geht aber auch nicht um die Grundrechte als Abwehrrechte, soweit Gefahren für Leben und Gesundheit durch eine Erkrankung im Raum stehen. Denn Gegenstand der Abwehr ist der staatliche Eingriff. Das Virus verbreitet sich aber völlig ohne staatliche Hilfe. Im Raum steht daher eine von der Abwehrfunktion zu unterscheidende SCHUTZPFLICHT. Die gibt es auch, funktioniert aber etwas anders. Das sei hier nicht ausgebreitet. Die Pointe ist aber, dass der das Abwehrrecht auslösende Eingriff (zB Ausgangssperre, Betriebsschließung) mit der Schutzpflicht kollidiert. Und da ist darauf zu achten, dass die kollidierenden Positionen KONKRET abgewogen werden. Bei der Gegenüberstellung von Leben und Berufsfreiheit "gewinnt" natürlich immer das Leben. Man muss trotzdem sehr genau im Einzelfall hinsehen, welcher "Vorteil" bei der Pandemiebekämpfung um welchen Preis erkauft wird. Da gibt es einen Beurteilungsspielraum des Staates. Aber offenkundiger Unsinn wie die 15 km-Regel, die "Einpersonen-Regel" (und mE auch Ausgangssperren) funktionieren dann am Ende doch nicht.
2. Bei Prantl geht es aber noch um etwas anderes.
Nämlich die Frage, WER zur Entscheidung berufen ist. Prantl will hier eine stärkere Parlamentsbeteiligung.
Nach Art. 80 GG können Grundrechte zeitlich beschränkt eingegrenzt werden, z.B., wenn die Maßnahmen gegen die Pandemie erforderlich, wirksam und verhältnismäßig sind.
Das ist auch etwas ungenau, weil Art. 80 GG die Regelungsbefugnis der Verwaltung auf Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen betrifft, die dann auch zu grundrechtsrelevanten Regelungen (zB die komplette Straßenverkehrsordnung) ermächtigt. Um eine spezifische Ermächtigung zu grundrechtsrelevanten Regelungen geht es dabei indes nicht. Diese Befugnis ist - im Gegenteil - begrenzt, weil nach der sog. "Wesentlichkeitsrechtsprechung" des Bundesverfassungsgerichts die für die Grundrechte wesentlichen Regelungen vom Gesetzgeber, nicht von der Verwaltung getroffen werden müssen. Und das führt bei Ausgangssperren o.ä. schon zu ernsten Problemen, die mittlerweile um die Frage kreisen, ob und wie bei der Ermächtigung zu Verordnungen dieser Rechtsprechung entsprochen werden kann (die Staatsrechtlerin Anna Leisner-Egensperger ist dem jüngst im Kontext eines Gesetzesvorschlags der FDP zur Impfpriorisierung sehr detailliert nachgegangen) und ob die aktuellen Verordnungsermächtigungen dem genügen.
Und an der Stelle muss man sagen: Der Bundestag war (und ist) im Dauerschlaf: Zunächst wurden Verordnungen rechtstechnisch über § 32 IfSG (Alt) erlassen, der u.a. auf § 28 IfSG verweist, obwohl allgemein bekannt war, dass § 28 IfSG auf eine Pandemie gar nicht zugeschnitten ist. Die Gerichte haben das aber zunächst mitgemacht, dabei aber vorausgesetzt, dass das Parlament hier alsbald "nachbessert". Als dies Ende 2020 immer noch nicht der Fall war, haben verschiedene Gerichte signalisiert, dass sie demnächst die Verordnungen nicht mehr durchwinken würden. Daraufhin hat der Bundestag eine ziemlich spezifische Ermächtigung zu Verordnungen erlassen (§ 28a IfSG), die von Schwurblerseite bekanntlich als "Ermächtigungsgesetz" bezeichnet wurde, um historische Assoziationen zu wecken. In Wahrheit ist die Schaffung einer VO-Ermächtigung aber ein eher banaler Vorgang. Allerdings ist eine offene Frage, ob diese Regelung den erwähnten Anforderungen der "Wesentlichkeitsrechtsprechung" entspricht, weil offen ist, inwieweit dem bei sehr weitgehenden Regelungen durch eine Verordnungsermächtigung entsprochen werden kann (ich würde mit Anna Leisner-Egensperger sagen: Ja, das geht) und welchen Anforderungen diese dann genügen muss. Diese sind dann naheliegenderweise hoch, weshalb das OVG Münster bereits mit Blick auf die Schließung von Fitnesscentern angedeutet hat, dass man an der Stelle noch Diskussionsbedarf hat (den man dann nicht in einem Eilverfahren erledigen wollte).
3. Zusammenfassend: Vulgärpopulismus nach Söder-Art ("Keine Shoppingtouren vor Menschenleben", ähnl. RegBgm Müller von Berlin: "Wie viele Tote ist uns ein Shoppingerlebnis wert?") verfehlt die Probleme meilenweit. Man kommt nicht umhin, Abwägungen im Einzelfall vorzunehmen. Dazu gehört eine öffentliche Diskussion im Parlament, wie sie in Berlin jetzt vorgesehen ist. Mit einsamen Entscheidungen der Ministerialbürokratie in irgendwelchen Hinterzimmern, mit denen die Ergebnisse der Besprechungen der MPK mit der Kanzlerin mehr schlecht als recht in Verordnungen gegossen werden, haben wir bislang eher nur so mittelgute Erfahrungen gemacht. Eine Entscheidung wie die des Weimarer Amtsrichters wäre gar nicht möglich gewesen, wenn die von ihm beanstandeten Vorschriften sich in einem Parlamentsgesetz befunden hätten.
Falls sich jemand für Details interessiert, verlinke ich hier einen Beitrag von Thorsten Kingreen, der in einer juristischen Ausbildungszeitschrift (Zielgruppe daher Studierende) erschienen ist ("Das Studium des Verfassungsrechts in der Pandemie"). Schon fast ein halbes Jahr alt (in Pandemiezeiten eine Ewigkeit), aber im Grundsätzlichen weiter gültig.
https://www.degruyter.com/view/journals/jura/42/10/article-p1019.xml#ref_j_jura-2020-2602_fn_040_w2aab3b7c34b1b6b1ab1b1b4b3b7b7Aa