Eigentlich unverständlich, dass die Corona-Aluhüte so wenig von der WHO halten, die haben doch sehr, sehr lange Zeit ihre Ansichten bezüglich Masken geteilt und Studien geflissentlich "übersehen".
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10. Juli 2020, 18:00 Uhr
Coronavirus:Das Masken-Drama
Gesundheitsbehörden ignorierten lange Hinweise auf die Wirksamkeit von Mund-Nasen-Bedeckungen. Das dürfte viele Leben gekostet haben.
Von Christina Berndt, Markus Grill und Frederik Jötten
Die Corona-Pandemie ist schon seit zwei Wochen ausgerufen, da postet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Video auf Twitter, das die Ausbreitung des Virus gefördert haben dürfte, statt sie zu bekämpfen. "Wenn Sie keine Atemwegssymptome wie Fieber, Husten oder eine laufende Nase haben, brauchen Sie keine medizinische Maske zu tragen", sagt darin April Baller, Medical Officer der WHO. Ernst fährt sie fort: "Masken können ein falsches Gefühl der Sicherheit vermitteln, und sie können sogar eine Infektionsquelle sein, wenn sie nicht korrekt benutzt werden."
Masken als Gefahr denn als Schutz: Das ist die Botschaft der westlichen Gesundheitsbehörden im Frühjahr 2020. Das Robert-Koch-Institut (RKI) und die Centers for Disease Control (CDC) in den USA äußern sich ähnlich, und auch viele Wissenschaftler vertraten diese Position, zum Teil bis heute: Menschen ohne Symptome sollten die Finger von Masken lassen. Mittlerweile sind mehr als eine halbe Million Menschen an Covid-19 gestorben, mehr als zwölf Millionen haben sich angesteckt. Was hätte verhindert werden können, wenn die Autoritäten die Menschen frühzeitig zum Maskentragen bewegt hätten?
Recherchen von NDR, WDR und SZ legen nahe: sehr viel. Schließlich folgerten Fachleute schon Anfang Februar aus den ersten Ansteckungen in Deutschland, dass auch Infizierte ohne Symptome das Virus weiterverbreiten können. Und immer mehr Studien belegten, wie stark sich das Tragen von Masken auf die Zahl der Infizierten auswirkt. Allein in Italien wurden durch das Tragen von Masken 78 000 Infektionen verhindert und in New York City 66 000, analysierten US-Wissenschaftler.
"Das ist absolut plausibel", sagte Dirk Brockmann, Professor für epidemische Modellierung von Infektionskrankheiten an der Humboldt-Universität Berlin und am RKI. Die Masken müssen dazu keineswegs perfekt sein. "Wenn sie frühzeitig gegen Covid-19 eingesetzt werden, können bereits Masken, die nur 50 Prozent aller Infektionen verhindern, die Ausbreitung stoppen."
Dieser Meinung ist auch Klaus-Dieter Zastrow, Professor für Hygiene an der Technischen Hochschule Mittelhessen in Gießen, von 1987 bis 1995 Leiter des Fachgebiets Übertragbare Krankheiten beim Bundesgesundheitsamt und bei der Nachfolgebehörde RKI. "Mit Masken für alle wäre die Pandemie im Keim erstickt worden. Es ist ein Skandal, dass sich WHO und RKI dagegengestellt haben. Stattdessen hätte die Botschaft sein müssen: Ziehen Sie sich irgendetwas über Mund und Nase, alles ist besser als nichts."
Dass dies funktioniert, legt ein Video nahe, das Mitte April im New England Journal of Medicine erschien und um die Welt ging. Es ist bei den US National Institutes of Health entstanden, in einem dunklen Raum. Das Bild ist schwarz, dann sagt ein Mann mit tiefer Stimme "stay healthy" (bleib gesund) - und auf dem Bildschirm erscheinen grüne Punkte. Es sind Tröpfchen, die ein Laser sichtbar macht. Jeder sieht: Schon beim Sprechen sondern Menschen Speichelpartikel ab. Und je lauter der Mann spricht, desto mehr grüne Punkte erscheinen. Dann setzt er eine einfache, noch dazu feuchte Baumwollmaske auf. Nun bleibt das Bild dunkel. So laut er auch spricht, er verbreitet keine Tröpfchen mehr.
Jena und der Erfolg der frühen Maskenpflicht
Auch Sabine Trommer hat sich das Video angeschaut - und fühlte sich bestätigt. Die Ärztin ist die Teamleiterin Hygiene der Stadt Jena und hat eine Pioniertat maßgeblich beeinflusst: Als erste deutsche Stadt verfügte Jena am 31. März, dass alle Bürger vom 6. April an im öffentlichen Raum Mund und Nase bedecken sollten. Der Erfolg war durchschlagend. Anders als im nahen Erfurt oder Gera fielen die Infektionszahlen in Jena nun steil ab. "Wir hatten seit der Einführung der Masken fast keine Fälle mehr", sagt Trommer.
Die WHO aber riet weiter von Masken ab. Sie sagte: 1. Menschen gehen mit Masken nicht richtig um, dadurch steige das Infektionsrisiko. 2. Das Tragen von Masken könne dem Virus sogar nützen, weil andere Maßnahmen gegen die Pandemie vernachlässigt werden könnten. 3. Es gebe keine Beweise für den Nutzen bei Sars-CoV-2.
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat dafür kein Verständnis. Er plädierte schon zu Beginn der Pandemie für Masken. "Es gab etliche Studien, die schon Jahre zuvor gezeigt hatten, dass Masken einen erheblichen Anteil von Viren zurückhalten und auch die Flugweite der Tröpfchen günstig beeinflussen."
Tatsächlich gibt es nur wenige Studien, die den Nutzen von Masken direkt beim Coronavirus belegen. Doch schon Jahre zuvor haben zahlreiche Forschungsarbeiten vor allem aus Asien gezeigt, dass Masken gegen die Erreger der Sars-Epidemie von 2003 und der Mers-Ausbrüche von 2013 bis 2016 wirken, also gegen eng mit Sars-CoV-2 verwandte Coronaviren. Im Westen wurden die Arbeiten ignoriert.
Asiatische Experten äußerten früh Kritik. "Die WHO empfahl den Menschen, keine Masken zu tragen - aber ich muss da widersprechen", sagte etwa Kim Woo-Ju, Professor am Korea University College of Medicine, am 28. März auf Youtube: "Während Sars und Mers haben die Masken gezeigt, dass sie wirken." Und David Hui von der Chinese University of Hong Kong sagte dem Time Magazine, es sei unbestreitbar, dass das Maskentragen gegen Infektionskrankheiten wie Covid-19 hilft: "Wenn man vor jemandem steht, der krank ist, bildet die Maske eine Barriere für Tröpfchen."
Für den angeblichen Schaden von Masken liefert die WHO keine Belege
Während der WHO die Studien, die den Nutzen von Masken belegten, nicht genügten, gab sie sich bei den angeblichen Gefahren mit Mutmaßungen zufrieden. Belege für potenzielle Schäden - etwa, dass sich Menschen in die Augen fassen, nicht mehr ordentlich die Hände waschen oder keinen Abstand mehr halten - konnte sie auf Anfrage von NDR, WDR und SZ nicht liefern.
"Die Argumentation ist absurd", sagt Lauterbach, "als würde ein Autohersteller sagen: Wir wissen zwar, dass Sicherheitsgurte bei alten Modellen wirken, aber für unser neues Modell wissen wir das nicht, es gibt überhaupt keine Studien." Für Lauterbach steht fest: "Wenn die zuständigen Stellen früher für Masken geworben hätten, hätte das Tote verhindern können - weltweit und in Deutschland vermutlich auch."
Sabine Trommer dachte ähnlich - und handelte. "Auf wie viel Evidenz will man in einer Notsituation auch warten?", fragt sie. Um den potenziellen Gefahren zu begegnen, begleitete der Krisenstab Jenas die Einführung der Mund-Nasen-Bedeckungspflicht mit einer Infokampagne. An fast jeder Laterne klebten Aushänge über den richtigen Umgang mit den Masken, und dass man Händewaschen und Abstand nicht vernachlässigen darf.
Erst nach einer Meta-Studie änderte die WHO ihre Empfehlung
Die WHO aber änderte erst ihre Ansichten, als die Evidenz nicht mehr zu übersehen war. Sie hatte eine neue Studie bei Holger Schünemann in Auftrag gegeben. Er ist Professor an der McMaster University und Direktor der kanadischen Cochrane Collaboration. Er wertete alle Studien zur Frage aus, ob Masken gegen Sars, Mers oder Covid-19 helfen - es waren insgesamt 29, und viele von ihnen waren Jahre alt. Diese Meta-Analyse erschien Anfang Juni im Lancet und erstaunte Schünemann selbst, wie er sagt. "Nach unserer Analyse reduzierten Masken das Risiko, sich zu infizieren, um überraschende 80 Prozent." Masken schützen also nicht nur andere, sondern auch den Träger selbst. Durch den frühen Gebrauch von Masken hätte es deshalb weltweit "möglicherweise zu einer großen Verminderung der Todesfälle kommen können", sagt Schünemann.
Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung änderte die WHO am 5. Juni ihre Empfehlungen. Seither rät sie zum Masketragen, wenn es ein Infektionsgeschehen gibt und Abstand schwierig einzuhalten ist. Doch auf Anfrage bleibt sie dabei: "Der breite Einsatz von Masken durch gesunde Menschen ist bisher nicht durch wissenschaftliche Evidenz von hoher Qualität unterstützt, und es gibt möglichen Nutzen und Schaden zu berücksichtigen."
Das RKI zeigte sich in einem Punkt nicht ganz so unbeweglich wie die WHO über lange Zeit. Mitte März hatte sein Präsident Lothar Wieler noch in einer Pressekonferenz gesagt: "Wenn Sie draußen als Mensch mit einer Maske rumlaufen, suggerieren Sie einen Schutz davor, aber es gibt keine Evidenz dafür." Doch am 3. April rückte er von seiner Position ab. "An Orten, an denen man den Abstand nicht einhalten kann, zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln oder im Supermarkt, da könnte das Tragen einer solchen Maske vermutlich dazu führen, dass man das Risiko senkt, andere anzustecken", sagte Wieler dann über Mund-Nase-Bedeckungen aus Stoff. Erst zu diesem Zeitpunkt hätten sich die Hinweise dazu verdichtet, teilt das RKI auf Anfrage mit.
Den Schutz für den Träger aber akzeptierte Wieler nicht. Bis heute schreibt das RKI auf seiner Webseite, es gebe bei einfachen Mund-Nase-Bedeckungen "für einen Eigenschutz keine Hinweise." Das Institut begründet auf Anfrage seine Haltung damit, dass in Schünemanns Arbeit nur Studien zu chirurgischen Masken und zu höherwertigen, FFP2-ähnlichen Masken ausgewertet wurden.
Allerdings gibt es auch für den Nutzen einfacher Masken genügend Hinweise aus Laborstudien. So hatten englische Forscher bereits 2013 die Schutzwirkung von Haushaltsmaterialien untersucht. Sie ließen Probanden mit und ohne einen Mundschutz husten, den sie selbst aus einem alten T-Shirt genäht hatten. Die Selfmade-Masken hielten immerhin 70 Prozent der Viren zurück. Auch den Eigenschutz testeten die Forscher, hier hielten diese Masken die Hälfte der Partikel ab. Die gute Filterwirkung normaler Stoffe belegen auch neuere Studien. Sie lag bei Baumwolle, Naturseide und Chiffon meist über 50 Prozent, stieg bei dichter gewebter Baumwolle auf 79 bis 98 Prozent.
Einen Effekt auf die Ausbreitung von Viren haben Stoffmasken also auf jeden Fall - und wohl auch einen schützenden Effekt für den Träger. Denn ob und wie krank ein Mensch wird, der mit Sars-CoV-2 in Berührung kommt, hängt von der Zahl der Viren ab. "Meistens ist ein Viruspartikel nicht ausreichend, um eine Infektion zu verursachen", sagt Sars-Mitentdecker Yuen Kwok-yung. "Es braucht 40 bis 200 Viruspartikel, die auf das Nasenepithel, in die Augen oder den Rachen gelangen." Fachleute gehen davon aus, dass Menschen, die weniger Sars-CoV-2-Viren abbekommen, weniger schwer oder gar nicht erkranken.
Wissenschaftliche Studien nach höchsten Ansprüchen gibt es zum Maskentragen bei Sars-CoV-2 allerdings tatsächlich kaum. Man kann Menschen während einer Pandemie schlecht in zwei Gruppen einteilen und der Hälfte von ihnen befehlen, immer eine Maske aufzusetzen, und der anderen das Maskentragen verbietet. Doch Bevölkerungsstudien können das Problem lösen. So haben Forscher die Entwicklung in 15 US-Bundesstaaten mit Bezug auf ihre Masken-Erlässe verglichen. Demnach seien bis Ende Mai Hunderttausende Covid-19-Fälle durch Masken verhindert worden - unabhängig vom Typ der Masken, von der Art des Gebrauchs.
Das RKI hätte es also auch so halten können wie die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie, die am 20. Mai festhielt: "Nicht medizinische Mund-Nasen-Masken bieten einen nachgewiesenen Fremdschutz. Ein Selbstschutz ist nicht nachgewiesen, aber wahrscheinlich." Doch das RKI blieb bei seiner zögerlichen Haltung zum Eigenschutz - weil die Evidenz fehle.
Die Folgen der Kommunikation dürften jedenfalls bis heute nachwirken, wie zuletzt die Diskussion um das Weglassen der Maske zugunsten schönerer Shoppingerlebnisse gezeigt hat. Nora Szech forscht am Karlsruhe Institute of Technology über Anreize menschlichen Verhaltens. "Für die Motivation, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen, ist es immer besser, wenn die Menschen wissen, dass sie damit auch etwas für sich selbst tun", sagt sie.
Womöglich hat beim Zögern von WHO und RKI auch westliche Arroganz eine Rolle gespielt. "Im Westen hätten wir uns in der Frühphase der Epidemie den generellen Maskengebrauch von asiatischen Ländern abschauen sollen", sagt Szech. Stattdessen sagte Lothar Wieler am 18. Februar in der österreichischen Fernsehsendung Zeit im Bild: "Das ist ein kultureller Hintergrund, das sieht man in China und in Asien generell häufiger bei solchen Atemwegserkrankungen, aber es ist generell nicht nützlich." Nora Szech konstatiert: "Wir waren nicht offen genug für die Erfahrungen der anderen."
Im Zuge der Berichterstattung über die Corona-Aluhüte an der B96 haben es auch die Enten mal wieder in die "Lügenpresse" geschafft.
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Politik
Sonntag, 12. Juli 2020
Corona-Protest mit Reichsfahne Reise ins Tal der Entfremdeten
Von Sebastian Huld, Bundesstraße 96
Seit Wochen versammeln sich entlang der Bundesstraße 96 Menschen zu einem "Stillen Protest" gegen Corona-Maßnahmen. Die Aktion mit dem Schwerpunkt Bautzen irritiert: Reichsfahnen wehen, vor einer Diktatur wird gewarnt. Was ist hier los?
Die Spree macht es möglich: Wer vom Berliner Regierungsviertel aus nur lange genug gegen den Strom schwimmt, kommt irgendwann in Bautzen an. Man muss davon ausgehen, dass vielen Menschen im Dreiländerdreieck, tief im Osten Sachsens, dieses Bild gefällt. Denn von "denen da oben" halten viele Menschen stromaufwärts der Hauptstadt herzlich wenig. Davon können sich seit einigen Wochen auch Besucher der Region überzeugen, wenn sie die Bundesstraße 96 zwischen Bautzen und Zittau entlangfahren.
Jeden Sonntag zwischen 10 und 11 Uhr versammeln sich hier Menschen an der Straße zum "stillen Protest", lauter kleine unangemeldete Versammlungen im Tarnkleid eines spontanen Spaziergangs. Dabei geben sich die Demonstranten keine Mühe, ihre Verabredung zu leugnen. Fahnen und Transparente schwingend stehen die Menschen in Gruppen zusammen. Mal nur eine Hand voll Menschen, manchmal auch Dutzende, wie etwa an diesem Sonntag am Parkplatz des Ausflugslokals Erntekranzbaude bei Oppach.
Schwarz-Rot-Gold in der Minderheit
Wogegen sich der Protest hauptsächlich richtet, nämlich gegen die Corona-Maßnahmen, ist weniger offensichtlich. Manche halten ein Schild hoch mit Aufschriften wie "Informiert euch!", "Die Gedanken sind frei" und - in Ablehnung des Mund-Nasen-Schutzes - "Sachsen zeigt Gesicht". Was der Reisende auf der Fahrt durch diese herrlich sattgrüne Hügellandschaft aber vor allem zu sehen bekommt, sind Fahnen. Von denen sind nur die wenigsten schwarz-rot-gold. In der Mehrheit handelt es sich um Reichsflaggen in schwarz-weiß-rot; darunter bedruckte Abwandlungen, auf denen der Kaiser prangt oder die mit Begriffen wie "Stolz" und "Ehre" oder dem Reichskreuz bedruckt sind.
Auch zu sehen: Fahnen des Königreichs Sachsen, deutsch-russische Freundschaftswimpel und vereinzelt AfD-Fähnchen. Hinzukommen vereinzelte Slogans gegen den Ausbau des Mobilfunkstandards 5G und QAnon-Symbole, einer im Internet populären Verschwörungstheorie.
Richtig reden will niemand
Am Ortseingang von Kleinwelka sind am Parkplatz eines Imbisses gleich neun solcher schwarz-weiß-roten Fahnen aufgereiht. Fünf stille Protestler stehen dahinter, Männer und Frauen in den 50ern und 60ern, die eigentlich nicht mit der Presse reden und schon gar nicht ihre Namen darin lesen wollen. Das Misstrauen sitzt tief. "Die da oben" sind hier nicht nur Merkel und Co., sondern auch "die Medien". Kurze Wortwechsel ergeben sich dennoch. Bei allem Misstrauen sind die Protestler eben auch Sachsen, ein zumeist sehr freundliches und redseliges Völkchen.
"Mit Rechtsextremismus hat das nichts zu tun", erklärt mir ein 52-Jähriger, der mit seinem Sohn im Grundschulalter am Parkplatz von Kleinwelka steht. Er stehe hier wegen der seiner Meinung nach unsinnigen Masken, wegen der als übergriffig empfundenen Maskenpflicht. Überhaupt: Er sei schon länger unzufrieden, sagt der Installateur. Die Politiker seien unfähig, der Einkommensunterschied zwischen Hartz-IV und einem Vollzeitjob sei zu gering. Stört es ihn nicht, dass er hier hinter Reichsfahnen protestiert? "Ich stehe nicht zu den Fahnen, ich stehe an der B96", sagt er. Wo die Fahnen herkommen, wisse er nicht. Und Rassist sei er schon gar nicht. Aber: "Ich bin stolz, Deutscher zu sein."
Ebenfalls in Kleinwelka erklärt mir eine Frau, worum es ihrer Ansicht nach bei dem "Stillen Protest" geht: "Es geht um Souveränität", sagt sie. "Und um Weltfrieden." Deutschland sei kein freies Land und immer noch besetzt. "Sind Sie eine Reichsbürgerin?", frage ich. Empört über meine vermeintliche Ahnungslosigkeit bricht die Rentnerin das Gespräch ab. Ich solle mich erst einmal im Internet informieren. Nur so viel: Sie habe erst am Vortag in Berlin an der "Staatenlos Demo" von Rüdiger Hoffmann teilgenommen. Hoffmann ist ein Netzaktivist, der die Bundesrepublik als von den USA beherrschte GmbH darstellt; nach gängigen Kriterien ein Reichsbürger.
Eine Stunde, 45 Kilometer
Es ist gar nicht so leicht, ein repräsentatives Meinungsbild von den "Stillen Protestlern" abzufragen. Schließlich ist das ganze pünktlich kurz nach 11 Uhr wieder vorbei. Weil jeder Versuch der Kontaktaufnahme unweigerlich Diskussionen über die Echtheit der Corona-Gefahr und die Wahrhaftigkeit der Medien nach sich zieht, ist die Stunde schnell vorüber und die 45 Kilometer lange Strecke nach Zittau ist gerade mal zur Hälfte abgefahren.
Der Rückhalt für die Protestgrüppchen am Straßenrand scheint groß: Immer wieder hupen vorbeifahrende Motorräder und Pkw. Die Demonstrierenden bestehen auch zumeist aus Familien und Grüppchen einander Bekannter. Fröhlicher Provinz-Protest, wären da nicht diese Fahnen. Entlang der B96 reiht sich ein schönes Dörfchen an das andere. Die Gärten stehen in voller Blüte, alles wirkt sehr gepflegt. Nicht so wohlhabend wie im Süden Deutschlands, es gibt mehr Leerstand und kaputte Fußwege. Der Landkreis Görlitz, in dem Zittau liegt, ist der einkommensschwächste der Republik. Im Landkreis Bautzen geht es den Menschen nicht viel besser. Beide Kreise sind tiefkonservativ, CDU und AfD dominieren das Geschehen, die anderen Parteien spielen kaum eine Rolle.
Ist "Brown Under" rassistisch?
Doch nicht nur ökonomisch ist die Region etwas abgelegen vom Rest Deutschlands. Kein anderes Bundesland hat so viel Probleme mit Rechtsextremismus, insbesondere damit, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen. Als "Tagesspiegel"-Reporter Sebastian Leber in der vergangenen Woche über die B96-Proteste berichtete, bezeichnete er in Anlehnung an das australische Down Under die Region um Bautzen wegen des virulenten Rechtsextremismus als "Brown Under". Daraufhin beklagte Bautzens SPD-Bürgermeister Alexander Ahrens einen "Rassismus" gegenüber Sachsen. Das Land tut sich schwer mit Kritik, so war es schon unter dem langjährigen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf, der behauptet hatte, seine Bürger seien "immun" gegen Rechtsextremismus.
Die Region um und östlich von Dresden wurde zu DDR-Zeiten wegen des schlechten Empfangs von bundesdeutschem Funk gerne als "Tal der Ahnungslosen" bezeichnet. Den Menschen blieb nur das Staatsfernsehen. Das ist in Zeiten des Internets anders, und man könnte konstatieren, es handelt sich inzwischen eher um das Tal der Entfremdeten. Die Demonstranten trauen "der Politik" entweder wenig oder alles Schlechte zu. Sie spüren offensichtlich einen Druck, sich dagegen wehren zu müssen.
Für jeden etwas dabei
In einem Protest-Aufruf per Zeitungsannonce veröffentlichen Protestaufruf heißt es: "Für ein freies und selbstbestimmtes Leben / Für die Beendigung der Corona-Diktatur / Für die Abschaltung von 5G Krank-Netzen / Für eine souveräne Berichterstattung / Für Frieden und Freiheit". Diese so breiten wie vage formulierten Forderungen erklären vielleicht, warum für so viele Protestteilnehmer etwas dabei ist. In der fast 3000 Mitglieder starken, geschlossenen Facebook-Gruppe "Stiller Protest B96" warnen die Mitglieder vor einem Impfzwang, manipulativen 5G-Funkwellen und einer Entfremdung der Menschen durch Maskenzwang. Angst vor einem neuen Sozialismus trifft auf Globalisierungsskepsis und Kapitalismuskritik. Auch spirituelle Ansätze liefern Argumente für eine diffuse Angst vor einer beginnenden Diktatur.
Zugleich wehren sich die Mitglieder vehement gegen Rassismus- und Rechtsextremismusvorwürfe. Sie wittern hinter entsprechenden Berichten -Leber wurde sogar bedroht - eine Strategie von Politik und Medien, ihren Protest zu diffamieren und Sympathisanten abzuschrecken. Demnach begreifen sie ihre Flaggen, die dem Kaiserreich huldigen, vor allem als Ausdruck ihrer Distanz zur Bundesrepublik Deutschland und ihren Eliten.
Dergleichen Ansichten finden sich auch woanders in Deutschland, zumal der "Stille Protest" auch an anderen Stellen der B96 in deutlich kleinerem Ausmaß stattfindet - die Bundesstraße endet in der Ostseestadt Saßnitz. Zwischen Bautzen und Zittau aber kochen bei vielen völlig normal wirkenden Bürgern Wut und Ohnmachtsgefühle. So hat die Corona-Krise einen schon länger existenten Missstand deutlich gemacht: Deutschland und sein östlichster Zipfel sind einander sehr fremd.
Quelle: ntv.de