Sorry, liebe Mitagenten, ich mußte vorhin doch mal kurz auflachen, als ich den folgenden Text las!
Spoiler
Screenshot "Bild live": Wann hört der Regel-Wahnsinn endlich auf?
Julian Reichelt nahm den ihm zugespielten Empörungsball volley:
Die Frage, Kai, ist doch gar nicht: Warum müssen wir uns daran halten? Die Frage ist: Warum darf der Staat uns das eigentlich vorschreiben? (…) Ich bin doppelt geimpft. (…) Das Risiko, dass ich mich anstecke oder dass ich jemanden gefährde, ist de facto nicht existent. Zumindest nicht in einem Ausmaß, dass der Staat irgendein Recht hätte, mein Verhalten zu regulieren.
Er spricht inzwischen in einer Selbstverständlichkeit darüber, dass er mir vorschreiben kann, was ich mir ins Gesicht zu kleben habe oder wo ich lang zu gehen habe, oder wie fern ich mich von anderen Menschen zu halten habe, dass man merkt, dieses Menschenbild – wir können den Leuten einfach ohne jegliche Grundlage sagen, wie sie sich zu verhalten haben – hat sich eingeprägt, und ich hab das Gefühl, die Politik hat sich an diese Art und Weise, mit uns umzugehen, gewöhnt und hat Freude daran gefunden.
Auch die damalige Aufforderung von Staatsministerin Dorothee Bär, sich trotz Impfung weiter testen zu lassen, fand Reichelt einen unglaublichen Skandal:
Das heißt doch in der Übersetzung: Die Politik möchte gar keinen Ausweg aus dieser Pandemie aufzeigen. Sie möchten diesen Zustand erhalten, in dem sie (…) vorschreiben kann, was ich mir ins Gesicht zu kleben habe. Und ich finde, dafür gibt es keine Grundlage mehr, und wir müssen weg von diesem Weltbild und von diesem Menschenbild, dass wir eine Regierung haben, die uns einfach nach Gutdünken unsinniges Zeug vorschreiben darf.
Reichelt sprach von der Bundesrepublik als einem „autoritären Staat“ und forderte:
Wir müssen weg aus diesem Inzidenz-Weltbild. Dass wenn irgendwo irgendwer eine Krankheit bekommt, die für die Geimpften gar keine Relevanz mehr hat, auch nicht mit der Delta-Variante (…).
Reichelt deklamierte:
Wir haben Corona besiegt.
„Wieder nicht vorbereitet“
Das war am 8. Juli. Gut vier Monate später explodiert in Deutschland nicht nur die Zahl der Infizierten; auch die Zahl der schwer Corona-Erkrankten nimmt zu, Kliniken stoßen an ihre Kapazitätsgrenzen, in manchen Regionen droht ein Kollaps des Gesundheitswesens.
Und „Bild“?
„Bild“ fragt heute: „Warum sind wir WIEDER NICHT VORBEREITET?“
Warum sind wir WIEDER NICHT VORBEREITET?
„Bild“ schreibt heute, dass Jens Spahn schon im Juli davor gewarnt habe, im Oktober könnte die Inzidenz-Marke von 800 überschritten werden. Doch statt etwas zu tun, „wurden Tests und Maskenpflicht zurückgefahren“.
„Bild“ prangert heute an: „Die Politik hat die Corona-Maßnahmen deutlich zurückgefahren. Und das, obwohl man ganz genau wusste, dass im Herbst die Zahlen explodieren.“
Der Autor
Übermedien-Gründer Stefan Niggemeier
Stefan Niggemeier ist Gründer von Übermedien und „BILDblog“. Seit vielen Jahren Autor, Blogger und freier Medienkritiker, früher unter anderem bei der FAS und beim „Spiegel“.
Das ist dasselbe Medium, das monatelang die Abschaffung der meisten Corona-Maßnahmen gefordert hat. Das gegen die Maskenpflicht wetterte. Gegen das Testen. Das ungefähr jede Warnung vor einer sich verschärfenden Situation als „Panikmache“ abgetan hat. Das behauptete, es handele sich um „Schreckenspropaganda, um einfach Menschen Angst zu machen“. Das dem immer wieder mahnenden Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach die Bezeichnung als Experte aberkennen wollte. Das versuchte, den Corona-Fachmann Christian Drosten zu diskreditieren.
Das im Juli, als Jens Spahn tatsächlich vor 800er-Inzidenzen im Herbst warnte, den Artikel darüber mit den Worten begann:
Kommt trotz aktuell niedriger Inzidenzen jetzt wieder Panikmache von der Regierung?
„Wahnsinn“
Den Ausschnitt aus der „Bild“-Live-Sendung, aus der die Zitate oben stammen, hat die Redaktion „Endlose Corona-Regeln: Wann hört der Wahnsinn auf?“ betitelt. Sie hat den Inhalt selbst so zusammengefasst:
Viele Menschen in Deutschland sind bereits gegen Corona geimpft – trotzdem fordern Politiker wie Jens Spahn und Karl Lauterbach weiterhin, dass die Bürger sich vorsichtig verhalten. Das findet BILD-Chefredakteur Julian Reichelt unmöglich.
Das Video verzeichnet allein bei Youtube fast 1,6 Millionen Aufrufe.
Den Gesundheitsminister, dem „Bild“ heute vorwirft, nicht genug gegen die vierte Welle getan zu haben, schrie „Bild“ damals an, weil er es gewagt hatte zu sagen, dass Abstandsregeln weiter gelten und Masken weiter getragen werden müssten.
Am 10. August forderte „Bild“ von der Kanzlerin auf der Titelseite „EINIGKEIT UND RECHT UND FREIHEIT“.
KANZLERIN, wir wollen EINIGKEIT und RECHT und FREIHEIT
Konkret unter anderem:
Gleiche Rechte für alle Menschen, Geimpfte und Ungeimpfte
Schluss mit Einschränkungen unserer Grundrechte
Wir wollen, dass jeder in die Kirche darf – oder ins Fußball-Stadion
Jeder kann sich impfen lassen, wir brauchen Ihre Vorschriften nicht
„Bild“ wütete gegen Maskenpflicht, Testpflicht und Auflagen für größere Veranstaltungen. „Bild“ sprach vom „Masken-Wahnsinn“:
Sobald jeder Erwachsene die Chance hatte, komplett geimpft zu sein, muss die Maskenpflicht fallen.
SO FREI WOLLEN AUCH WIR WIEDER LEBEN
„Bild“ berief sich bei seinen Forderungen auf Pandemie-Experten wie den Schauspieler Til Schweiger, die Sängerin Nena, den Textilproduzenten Wolfgang Grupp und den Historiker Hubertus Knabe. (Sowie FDP-Chef Christian Lindner.)
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Der Warnung von Kanzleramtschef Helge Braun „vor angeblich drohenden 100.000 Neuinfektionen pro Tag im Herbst“ setzte „Bild“ die Empfehlung von Til Schweiger entgegen, die Regierung solle den Leuten lieber erklären, wie sie ihr „Immunsystem optimieren“ können, zum Beispiel durch Sport und Bewegung.
Den öffentlich-rechtlichen Sendern ARD und ZDF warf „Bild“ „Corona-Propaganda“ vor – zum Beispiel weil die „Tagesschau“ berichtete, dass die Zahl der Covid-Patienten auf den Intensivstationen zunahm. „Bild“ setzte dem die Einordnung von Hubertus Knabe entgegen, „die staatlich finanzierten Medien betätigen sich wie in Diktaturen vor allem als Sprachrohr der Regierung“.
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„Falsch-Rechner“
Im September rechnete „Bild“-Meinungschef Filipp Piatov mit Helge Braun ab, weil der Ende Juli prognostiziert hatte:
Wenn sich Delta weiter so schnell verbreiten würde und wir keine enorm hohe Impfquote oder Verhaltensänderung dagegensetzen würden, hätten wir in nur neun Wochen eine Inzidenz von 850.
Neun Wochen später hielt der „Bild“-Mann dem Politiker vor, dass die Inzidenz nicht bei 850, sondern bei 70 liege, „Tendenz: fallend“.
Bitter: Helge Braun, einer der wichtigsten Köpfe hinter der deutschen Corona-Politik, hat sich um den Faktor ZWÖLF verrechnet.
Noch bitterer aber: Die Corona-Einschränkungen, die der falschen Rechnung folgten, bleiben trotzdem.
Absurd!
(…) trotz falscher Horror-Prognosen müssen Schüler weiter Maske tragen, müssen Bundesliga-Teams in halb leeren Stadien spielen, werden ungeimpfte Bürger aus Restaurants und Kinos ausgesperrt. (…)
Nennen wir die Dinge beim Namen. Die falschen Prognosen sind keine mysteriösen Fehlkalkulationen – es ist kalkulierte Panikmache.
Inzwischen liegt die Inzidenz immerhin bei 337, Tendenz: schnell steigend. Und inzwischen beklagt „Bild“ nicht mehr, dass Schüler weiter Maske tragen müssen, sondern dass Masken in den Schulen abgeschafft wurden.
„Voll-Alarm“
Noch am 4. November machte sich „Bild“ über den „Corona-Panik-Chor“ lustig:
Der Corona-Panik-Chor
Neben warnenden Äußerungen von Gesundheitsminister Jens Spahn, Bundeskanzlerin Angela Merkel und RKI-Chef Lothar Wieler stieß sich „Bild“ auch an einer Äußerung des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, der gesagt hatte: „Die pandemische Lage ist nicht beendet.“
„Bild“ erwiderte:
FAKT IST: Niemand hat die Pandemie für beendet erklärt.
Außer „Bild“.
Einer der Autoren jener Zeilen im November war „Bild“-Meinungschef Filipp Piatov. Das ist derselbe Piatov, der Anfang Juli geschrieben hatte:
Die Corona-Gefahr, wie wir Deutschen sie bislang kannten, ist vorbei!
Ein Kronzeuge von „Bild“ war damals Gerald Gaß (58), Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der „vor Alarmismus mit dem Begriff ‚4. Welle’“ warnte: „Das sorgt bei den Bürgern nur für die Angst, dass mit steigenden Fallzahlen die Intensivstationen wieder mit Covid-Patienten volllaufen.“ Dank der Impfung werde dies aber nicht eintreten.
„Bild“ machte sich diese Position zu eigen und kritisierte andere Politiker und Regierungsberater, die im Gegensatz dazu wieder „auf Voll-Alarm“ setzten.
Ebenfalls im Juli rief „Bild“ den Politikern zu: „Hört auf, ständig Angst zu schüren!“ („Andauernd wird gewarnt, gemahnt, Angst geschürt – als wären wir alle ungezogene kleine Kinder. Und als wäre die Coronalage noch genauso angespannt wie zu Jahresbeginn.“)
"Ich bin der festen Überzeugung, dass wir aufhören sollten, die Maske zu tragen"
Noch Anfang November fand „Bild“-Redakteurin Nena Schink, „dass wir aufhören sollten, die Maske zu tragen“. (Sie findet das immer noch.)
Monatelang wettert „Bild“ gegen die Politiker und Experten, die vor einem gefährlichen Corona-Herbst warnen. Nun, da die Lage für alle sichtbar eskaliert, fragt „Bild“, warum sie nicht das getan haben, wogegen „Bild“ die ganze Zeit gekämpft hat.
Man könnte versucht sein, das mit dem neuen Chefredakteur Johannes Boie zu erklären, aber für diese Art der Bigotterie braucht „Bild“ keinen Chefredakteurswechsel. Und zum Beispiel das Anprangern des angeblichen „Corona-Panik-Chors“ geschah schon unter seiner Leitung.
Julian Reichelt, der Chefredakteur, der die Berichterstattung von „Bild“ bis vor vier Wochen zu verantworten hatte, ist nicht mehr im Amt. Aber die anderen Leute, die immer wieder gegen Einschränkungen gewettert haben, sind es weiterhin, etwa Meinungschef Piatov und „Bild“-Live Chef Claus Strunz.
„Weiter so!“
Und einer der größten Fans von Reichelts Corona-Kurs war der Vorstandsvorsitzende von Axel Springer, Mathias Döpfner. Er muss sich seit Wochen für eine private Nachricht rechtfertigen, in der er Reichelt genau deswegen als den letzten aufrechten Journalisten in Deutschland bezeichnet hat, „der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehrt“. Seit diese Nachricht öffentlich wurde, versucht Döpfner sie als Ironie abzutun, jedenfalls entspreche sie nicht seiner Meinung und sei halt nur so privat dahingesagt.
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Nicht nur privat so dahingesagt hat er allerdings seine Unterstützung für den publizistischen „Bild“-Kurs Reichelts. Wörtlich sagte er im März vor der Belegschaft:
Ich halte die publizistische Rolle, die Julian in den vergangenen Jahren gespielt hat, für extrem richtig und extrem wichtig für dieses Land.
Sein Kurs habe breiteste Unterstützung im Vorstand, im Aufsichtsrat und in den Shareholder-Committees. Döpfner rief Reichelt: „Weiter so!“ zu. Noch in der Pressemitteilung, in der das Unternehmen die Absetzung von Reichelt als Chefredakteur bekannt gibt, ließ sich Döpfner mit den Worten zitieren: „Julian Reichelt hat BILD journalistisch hervorragend entwickelt.“
Dieser journalistische Kurs von „Bild“ hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Menschen glauben, die Pandemie sei beendet, das Tragen von Masken sei überflüssig, das Verlangen von Tests sei völlig abwegig und hinter all den Maßnahmen stünden nur ein übergriffiger Staat und Politiker, die einfach ihre sadistische Lust ausleben wollen, die Bürger zu gängeln. Letztlich hat dieser journalistische Kurs von „Bild“ auch dazu beigetragen, dass die Corona-Lage jetzt noch schlimmer ist, als sie sein müsste.