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Auch im Herbst 2020, in dem nichts so ist wie gewohnt, soll ein buntes Angebot bester Unterhaltungsmusik das laut Eigenwerbung „vielfältigste und längste Jazzfestival Deutschlands mit mehr als 80 Konzerten, knapp 40.000 Besuchern und 500 Künstlern aus 30 Nationen an 23 Spielstätten“ fortsetzen. Ungewöhnlich ist jedoch, dass diesmal schon vorher die Wogen hochschlagen. Denn im aktuellen Jahrgang der „Jazztage Dresden“ ist neben großen Namen wie Uschi Brüning und China Moses sowie allerlei eher jazzferneren Gästen und Selbstdarstellung (Klazz Brothers) erneut eine überraschende Position verzeichnet: Daniele Ganser. Der Schweizer Pastorensohn macht zwar gar keine Musik, sorgt aber seit Tagen heftig für Trubel. Er spielt kein Instrument und singt auch nicht (jedenfalls nicht öffentlich), hat also mit Jazz nichts am Hut, sondern soll und will einen Vortrag zum recht amusischen Thema „Geostrategie: Der Blick hinter die Kulissen der Macht“ halten.
Just am 25. Oktober, dem Tag jener Bewegung, die Dresden seit nunmehr sechs Jahren entweder in Misskredit bringt oder – je nach Perspektive – entlarvt. Keine Frage der Gesinnung, sondern des Geldes? Dieser promovierte Mann, vom Hochschul-Wissenschaftsbetrieb angeblich ausgeschlossen, stammt aus dem schönen Lugano, wo mit dem „Estival Jazz“ ja immerhin die (Wikipedia zufolge) „grösste Jazz-Veranstaltung Europas“ ausgerichtet wird. Also alles nur eine Frage der Gigantomanie? Mitnichten. Die „Jazztage Dresden“ erhalten eine nach regelmäßiger Forderung zugestandene Geldsumme öffentlicher Unterstützung, um mit ihren Programmen ein unterhaltungssüchtiges Publikum beglücken zu können. Just dieses wird nun aber mit dem Verschwörungstheoretiker Daniele Ganser konfrontiert.
Der 1972 geborene Autor und Historiker hat eine Reihe von Schriften etwa über Nato-„Geheimarmeen“ und „Hintergründe“ des 11. September 2001 publiziert. Dazu hat er bereits im vergangenen Jahr referiert, was „Jazztage“-Intendant Kilian Forster via Facebook nachträglich so rechtfertigt: „Der Auftritt von Daniele Ganser hat den Jazztagen letztes Jahr mehr geholfen als der Freistaat Sachsen und somit indirekt bei einer städtisch/staatlichen Förderung von 5 % des Gesamtetats auch die Jazzmusiker unterstützt. Somit war es nicht einmal eine Frage der Gesinnung, ihn wieder einzuladen.“ Keine Frage der Gesinnung, sondern des Geldes? Dabei unterstützt die Stadt Dresden die „Jazztage“ in diesem Jahr mit immerhin 45.000 Euro, der Freistaat Sachsen buttert weitere 40.000 Euro hinzu, obendrein soll es 45.000 Euro staatlicher Corona-Soforthilfe gegeben haben. Muss Ganser, mit dem Forster laut einer gestrigen Stellungnahme vorhat, „Brücken zu schlagen statt Gräben zu ziehen“, das Festival zusätzlich stützen?
Der Mann wird als „Verwaltungsrat“ des „Swiss Institute for Peace and Energy Research AG (SIPER)“ bezeichnet, einer aus vier Herren bestehenden Aktiengesellschaft, die sich unabhängiges Institut nennt und die Menschheit mit öffentlichen Vorträgen und Büchern beglücken will. Sein ehrenwertes Ziel sei Frieden, so steht es auf der eigenen Homepage, und auch in der Stellungnahme der „Jazztage“ ist vom „Ausloten von Grenzräumen“ sowie „eine(r) offene(n) Diskussion auch sehr unterschiedlicher Ansichten und Perspektiven“ die Rede – was freilich unter rein musikalischen Aspekten zu verstehen sein sollte.
Der Kollateralschaden ist immens: Gansers Vorträge haben nichts mit Jazz zu tun, sind aber im Rahmen der „Jazztage“ und – just am Gründungsdatum von Pegida – bereits ausverkauft. Dabei sollen die Veranstalter erst kürzlich noch postuliert haben, diesmal verstärkt auf regionale Künstlerinnen und Künstler zu setzen, um diese in den momentan schwierigen Zeiten zu unterstützen. Kein Wort davon, dass diverse Künstlerinnen und Künstler aufgrund von Reisesperren und Beherbergungsverboten vermutlich gar nicht erst nach Dresden reisen und hier auftreten können. Ob angesichts des Schweizer Alles-Neu-Deuters nun auch alle bisher geladenen Gäste und Ensembles nach Dresden kommen wollen, bleibt abzuwarten. Der neugegründete Jazzverband Sachsen erhob deutlich Protest und konstatiert, dass solch ein Vortrag nicht ins Konzept des Festivals passe. Kilian Forster will allerdings daran festhalten. Wirklich nur wegen des Geldes? „Das Entstehen von Kosten für die Jazztage aus diesem Vortrag ist ausgeschlossen“, beteuert der künstlerische Leiter. Wie viel Geld Gansers Unternehmen für diesen Vortrag auch immer zahlen mag, der sogenannte Kollateralschaden für die „Jazztage“ ist immens. Schon vor deren Beginn. Von Michael Ernst