Was ein Aschaffenburger Richter nach dem Mauerfall in Chemnitz erlebte
"Es war erschütternd, die Schicksale zu sehen"
Der heutige Direktor des Aschaffenburger Landgerichts Andreas Burghardt arbeitete 1992 im Rahmen der sogenannten Aufbauhilfe in Chemnitz in Sachsen. Im Gespräch mit unserem Medienhaus schildert er, wie er als damals 31 Jahre alter Familienvater diese Zeit erlebte. Er erinnert sich unter anderem an verlassene Kindern im Bunker, braunen Schnee und Personalknappheit.
"Meine Eltern stammen aus der ehemaligen DDR, aus Erfurt. Das war Anlass für mich darüber nachzudenken, im Rahmen der sogenannten Aufbauhilfe kurzzeitig in der ehemaligen DDR tätig zu sein. Ich dachte daran, in Thüringen zu arbeiten - aber dann teilten die Bundesländer die Zuständigkeiten neu auf. Hessen betreute Thüringen, Bayern und Baden-Württemberg konzentrierten sich auf Sachsen. Als man mich fragte, ob ich dort tätig werden würde, dachte ich an Dresden. Das kannte ich, weil ich dort eine Tante hatte. Auch Leipzig war eine schöne Stadt. Letzten Endes landete ich in Chemnitz - nicht meine Wunschstadt. Alles, was man mir von Chemnitz erzählt hatte, war nicht so toll. Als ich dort war, fand ich das bestätigt.
Chemnitz war nicht die Perle Sachsen. Es ist aber doch sehr schön geworden. Ich habe noch Verbindungen dorthin aus dieser Zeit und bin etwa einmal im Jahr dort. Deswegen kann ich den Fortgang beurteilen. Aber damals, 1992, kurz nach der Wiedervereinigung, war es schwierig. Angefangen von den Straßenverhältnissen bis zur intensiven Heizung mit Braunkohle. Das war für uns ungewohnt. Es war eine heftige Zeit damals. Ich muss sagen, als ich im Januar ´92 nach Chemnitz gefahren bin, das erste Mal in der Behörde auf dem Gang stand und der Schnee fiel durch die braune Abluft und kam braun am Boden an, habe ich mich schon gefragt: »Mein Gott, was machst du hier?«. Aber dann kam der Frühling nach Chemnitz, es ist wider Erwarten erblüht und wurde immer besser.
Ausgedünnte Abteilungen
Ich war Richter am Landgericht bei der Großen Strafkammer in Aschaffenburg. In Chemnitz war ich als Abteilungsleiter der Jugendabteilung der Staatsanwaltschaft eingesetzt. Ich kam dorthin und fand die Behörde ziemlich ausgedünnt vor. Denn das damalige Bezirksgericht Chemnitz - oder vormals Karl-Marx-Stadt - hatte eine Zuständigkeit bis an die innerdeutsche Grenze. Es hatte dort sehr viele Verfahren wegen illegalen Grenzübertritts und Republikflucht mit ziemlich harten Urteilen gegeben. Kollegen, die daran beteiligt waren, wurden vielfach nach der Überprüfung aus dem Dienst entfernt. Wir hatten beispielsweise eine Abteilung, wo Bedarf für acht Leute gewesen wäre. Wir waren aber nur zu viert und hatten 3000 offene Verfahren, für jeden 750. Das war nach bundesrepublikanischen Vorstellungen ein Albtraum. In der Geschäftsstelle sollten vier Damen arbeiten, es war aber nur eine da. Es fehlte an allem: Regale, Mobiliar, Gesetzestexte. Auch die Infrastruktur war schwierig: Computer gab es natürlich noch nicht. Und es gab nur ein Zimmer, aus dem man nach draußen telefonieren konnte.
Es hatte sich durch die fehlenden Mitarbeiter viel angestaut. Es lief schleppend an, Leute aus dem Westen zu finden, die dort hingehen. Das war nicht jedermanns Sache. Man versuchte, den Personalmangel dadurch aufzufangen, dass man junge Leute dorthin setzte. Wir nannten die »Wossis«. Das waren Juristen aus dem Westen, deren Examensergebnis knapp unter der Einstellungsnote für die Justiz in Bayern lag, die aber beim Ministerium in Dresden angestellt wurden. Zuerst wurden sie aber für ein Jahr in der Bundesrepublik eingearbeitet bevor sie in die neuen Bundesländer kamen. Es wurden aber auch viele Kollegen aus der ehemaligen DDR übernommen, von denen ein Großteil für ein Jahr in Westdeutschland geschult wurde.
In der Zeit als ich dort war, wurde unsere Abteilung nach und nach aufgefüllt. Wir fuhren Montags oder Sonntagabends rüber und Freitagnachmittags wieder zurück. Wir arbeiteten manche Tage von morgens sieben bis abends zehn, um von den Aktenbergen runter zu kommen. Wir fuhren unheimlich viel herum. Bei der Staatsanwaltschaft muss der Staatsanwalt für die Verhandlungen zu den Außengerichten fahren. Wir hatten zehn Amtsgerichte im Erzgebirge verteilt, zu denen wir fahren mussten. Das war angesichts der kaputten Straßen beschwerlich.
Sorgen um »Bunkergruppe«
Besonders schwierig waren Verfahren, in denen uns die Beschuldigten Sorgen machten, weil sie völlig verwahrlost waren: Es gab damals in Chemnitz eine sogenannte Bunkergruppe. In einem Bunker aus dem letzten Weltkrieg hatten sich Kinder und Jugendliche gesammelt. Ihre Eltern waren nach der Maueröffnung verschwunden und hatten ihre Kinder einfach zurückgelassen. Das war für mich unfassbar. Einige dieser Eltern fand man in Westdeutschland. Es war erschütternd, die Schicksale dieser Kinder zu sehen. Es war ja fast schon ein Automatismus, dass diese Kinder Straftaten begingen, von irgendetwas mussten sie ja leben. Wir mussten sehen, dass die Kinder in Familien oder Heimen untergebracht werden. Es war ja alles im Umbruch, die Jugendämter wurden erst aufgebaut und die Leute hatten andere Sorgen, als fremde Kinder aufzunehmen. Es gab nicht die Möglichkeiten, die wir hier im Westen hatten. Die Strukturen waren alle zusammengebrochen.
Leben nicht mehr berechenbar
Für die DDR-Bürger war das Leben in der DDR berechenbar, und jetzt kam der totale Wechsel. Früher sorgte der Staat für alles - man hatte allerdings keine Freiheiten. Plötzlich aber mussten die Menschen für alles irgendwo hingehen: Arbeitslosengeld und Kindergeld beantragen, sich wegen der Miete kümmern. Das alles war vorher ein Automatismus. Wer keine Arbeit hatte, musste jetzt zum Arbeitsamt gehen. Es gab aber keine funktionierenden Arbeitsämter. Die Situation war schwierig - und dann kamen wir, die aus dem Westen.
Wir wurden manchmal als eine Art Besatzung angesehen, die das »Siegerrecht« mitbrachten. In meiner Nachbarschaft, ich wohnte damals zur Miete, sprach sich herum, was ich mache. Die Leute kamen und stellten Fragen. Auch wenn man es ihnen gut erklärte, merkt man, dass manche Leute wirklich verzweifelten, weil das alles für sie so neu war.
Manche Leute, die aus dem Westen kamen, prägten das Bild der Westler auch nicht unbedingt positiv. Viele gingen rüber, um Geschäfte zu machen. Polierten zum Beispiel ihre alten Autos auf und verkauften sie drüben. Es prägte sich den Menschen im Osten ein, dass sie übers Ohr gehauen wurden. Manche kommen sich dort noch immer vor wie Menschen zweiter Klasse. Ich weiß nicht, wer ihnen dieses Bild vermittelte. Das ist wohl auch eine Sache der persönlichen Erfahrung.
Wir versuchten, mit unseren damaligen Kollegen verständnisvoll umzugehen. Wir konnten uns an fünf Fingern abzählen, wie sie dachten. Es brauchte manchmal Zeit, bis man ihr Vertrauen gewonnen hatte. Wir hatte ja genug Gelegenheit, miteinander zu reden, wenn man stundenlang in der Behörde war. Es ging zwar primär um Arbeitsthemen, aber wir unterhielten uns auch über persönliche Sachen. Schwer war es für die Kollegen dort, dass immer wieder neue Leute aus dem Westen kamen, an die sie sich gewöhnen mussten. Es gab welche, die bis zum Schluss etwas argwöhnisch uns gegenüber waren. Aber das war die Minderheit. Kontakt zu Kollegen von damals besteht noch heute. Dadurch kann man sehr gut nachvollziehen, wie die Entwicklung dort ist. Sie haben viel aufgeholt. Schon damals konnte durch das Auffüllen des Personalbestandes gut gearbeitet werden. In der Geschäftsstelle hatten wir zum Schluss tatsächlich vier Damen, und die Abteilung war bis auf die üblichen Wechsel voll besetzt. In der Zeit ging viel vorwärts. In der Stadt und dem Umland gab es eine gewisse Aufbruchsstimmung. Die überwiegende Zahl der Leute war positiv gestimmt. Man hört heute auch Gegenteiliges. Aber das ist nicht die Mehrheit, und das war es damals auch nicht. Die Zufriedenen sind still zufrieden, die lauten Unzufriedenen prägen das Bild.
Zur Person: Andreas Burghardt
Andreas Burghardt wurde 1957 in Fulda (Hessen) geboren. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Seit Februar 2019 ist er Direktor des Aschaffenburger Amtsgerichts. Zuvor leitete er knapp 16 Jahre das Amtsgericht Obernburg (Kreis Miltenberg).
Von Januar 1990 bis Dezember 1994 war Burghardt Richter bei der Großen Strafkammer am Landgericht Aschaffenburg. In diese Zeit fiel seine 13-monatige Abordnung nach Chemnitz. Dort leitete er die Jugendabteilung der Staatsanwaltschaft. (fka)
Soko gegen Rechtsradikalität
Was es in der DDR nicht gab, waren Ausländer. Es gab in den Arbeitsbetrieben zwar Arbeiter aus Kuba, Vietnam oder sozialistischen Staaten in Afrika. Die hatte die DDR-Regierung eingeladen. Die waren aber mehr oder weniger kaserniert und wurden von den DDR-Bürgern nicht wahrgenommen. Das ist für die Leute immer noch neu. Und alles Neue jagt den Menschen Angst ein. So ist die Phobie dort vielleicht zu erklären. Schon als ich damals dort war, gab es viele rechtsextreme Ausschreitungen unter Jugendlichen und Heranwachsenden gegen andere Gruppen und gegen Gebäude. Wir hatten viele Verfahren wegen Landfriedensbruch.
Die Polizei in Sachsen, für die im Rahmen der Aufbauhilfe in erster Linie Baden-Württemberg verantwortlich war, arbeitete aber sehr effektiv. Die sogenannte Soko REX bekämpfte das Phänomen Rechtsradikalität ziemlich gut. Ich habe mich auch immer wieder deswegen erkundigt, als ich schon wieder hier war. Es ist halt dann wieder hochgekommen. Ich sprach erst vor kurzem mit jemandem dort darüber. Die Leute können es sich gar nicht so richtig erklären, warum das so ist. Vor allem in Sachsen und Thüringen, wo es den Menschen verglichen mit den anderen Ländern der ehemaligen DDR relativ gut geht. Man weiß eigentlich nicht, woher das Phänomen kommt.
Exzellente Polizeiarbeit
Die Polizei in der DDR ermittelte anders, als wir es kannten. Es brauchte viele Anläufe und Besprechungen, um unsere Bedürfnisse klar zu machen. Beispielsweise, dass wir eine Akte zu einem Verfahren rasch zurückbrauchen. Auf der anderen Seite arbeitet die Polizei der ehemaligen DDR bei Kapitalsachen wie Mord und Totschlag exzellent. Die waren superschnell und wirklich gut.
Ich hätte nie damit gerechnet, dass ich es erlebe, dass beide Staaten zusammenwachsen. Ich stamme aus der hessischen Rhön, wir wohnten 20, 25 Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt. In der Schule machten wir Ausflüge an die Grenze, das war furchtbar, das zu sehen. Damit sind wir aufgewachsen, damit haben wir gelebt - und ich hätte nicht gedacht, dass es mal anders kommt. Die Grenzöffnung kam für mich völlig überraschend.
Wenn ich nach 30 Jahren auf diese Zeit zurückblicke, muss ich sagen: Es war spannend und eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte. Im doppelten Sinn des Wortes: Historisch einmalig."
Aufgezeichnet von Katrin Filthaus