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«Diesmal ist ihre Energie im Raum viel deutlicher zu spüren», schwärmt eine junge Frau. Mit ihrem üppigen Make-up und den Glitzerkleidern wirkt sie wie das pure Gegenteil der Gleichaltrigen, über die sie gerade spricht: Christina von Dreien. So nennt sich die Frau mit den ungekämmten Haaren und dem abwesenden Blick, die im Stadtsaal Wil auf der Bühne sitzt und fünf Stunden lang über Spiritualität spricht. Die «Energie», von der sich hier viele so begeistert zeigen, spiegelt sich nicht in von Dreiens Auftritt. Sie sitzt mit eingesunkenen Schultern da, spricht langsam und schleppend, nur selten sucht sie den Augenkontakt mit ihrem Publikum.
So unscheinbar die 18-Jährige wirkt, so durchschlagend ist ihr Erfolg. Bis zu zweihunderttausend Menschen schauen ihr via Youtube zu, wenn sie auf dem Sofa sitzt und esoterische Theorien zum Besten gibt. Vor rund zwei Monaten ist ihr drittes Buch, «Bewusstsein schafft Frieden», erschienen – seither belegt es auf der Schweizer Sachbuch-Bestsellerliste Spitzenplätze. Aber nicht nur in ihrem Heimatland, sondern auch in Deutschland und Österreich hat sich von Dreien eine solide Fanbasis geschaffen. Seit neustem gibt es ihre Bücher auch in Englisch, Französisch und Italienisch. Dazu kommen Seminare, in denen Christina von Dreien als Alleinunterhalterin auftritt. Damit verdient die Frau, die noch jünger aussieht, als sie ist, gutes Geld. Allein an diesem Samstag haben rund 500 Leute je knapp 200 Franken bezahlt, um dem selbsternannten Medium im Stadtsaal von Wil zuzuhören. Total sind das fast 100 000 Franken.
Kein «Normalo», sondern ein spirituelles Wunderkind
Wer Christina – ihre Fans nennen sie nur beim Vornamen – sehen will, der wartet. Zwei Stunden vor Beginn des Seminars sichern sich erste Besucher bereits Plätze ganz vorne im grossen Saal. Als die junge Frau schliesslich auf die Bühne kommt, fragt sie ihre Organisatorin zuerst: «Wann sind die Pausen?» Eine halbe Stunde am Morgen, eineinhalb Stunden am Mittag, noch eine halbe Stunde am Nachmittag: Der Teenager zieht sich während des Auftritts oft und ausgiebig zurück. Sie müsse sich erholen, so die Begründung der Organisatorin. «Wir Normalos können uns ja gar nicht vorstellen, wie das für Christina ist, mit all den Energien, die sie wahrnimmt.» Die Fans nicken verständnisvoll.
Christina – so zumindest erzählen sie und ihre Mutter es den Anhängern – ist alles andere als ein «Normalo». Deswegen verwendet sie nicht ihren bürgerlichen Namen Christina Meier, sondern nennt sich von Dreien, nach dem Weiler Dreien im Toggenburg, wo sie aufgewachsen ist. Christinas früh verstorbene Zwillingsschwester begleitet sie laut ihrer Mutter Bernadette Meier als Lichtwesen. Das verleihe ihr allerlei Gaben – unter anderem könne sie mit Toten und mit Tieren sprechen.
Die Heilpraktikerin und frühere Spitzensportlerin Bernadette Meier hat die ersten beiden Bücher der «Christina»-Serie geschrieben, sie schuf das Narrativ des spirituellen Wunderkinds. In einzelnen Youtube-Sendungen war sie dabei. Zudem verwaltete sie lange alles Geschäftliche, organisierte, beantwortete Medienanfragen. Die dominante Rolle der Mutter weckt Argwohn. Der Sektenexperte Hugo Stamm schrieb in seiner «Watson»-Kolumne: «Christina trifft keine Schuld. Diese trägt die Mutter, die ihre Tochter in die Rolle der Heilsbringerin drängt und ihr die Jugend stiehlt.»
Dieser Darstellung widerspricht Wolfgang Jäger, der Geschäftsführer der auf Spiritualität ausgerichteten Zürcher Buchhandlung «Im Licht». Er habe zuerst auch gemeint, dass die Mutter überehrgeizig sei und Christina pushe. «Aber das stimmt nicht. Christina weiss genau, was sie will. Und sie hat ein starkes Sendungsbewusstsein.» Seit ihre Tochter letztes Jahr volljährig geworden ist, hält sich Bernadette Meier ohnehin vermehrt im Hintergrund. In Wil ist Christina von Dreien dafür von einem grossen Team umgeben. Sie hat eine Event-Managerin, eine Fotografin, eine Technikerin, einen Verleger und diverse weitere Unterstützerinnen – es sind fast ausschliesslich Frauen. Auch im Publikum sitzen deutlich mehr Frauen als Männer, die Mehrheit über 40 Jahre alt.
Mit Verschwörungstheorien Politik betreiben
Die Event-Managerin setzt sich neben von Dreien an einen Tisch, der mit einem bodenlangen schwarzen Tuch bedeckt ist. Die nächsten Stunden hält sie ihre Augen geschlossen und lächelt verklärt. Die Begründung für ihre Anwesenheit: Für das «Medium» sei es einfacher, wenn jemand das Energiefeld halte. Ein Seminar in St. Gallen im letzten Jahr musste beinahe abgesagt werden, weil am Morgen ein «Unlicht» Christina heimgesucht haben soll. Schliesslich kam sie mit viel Verspätung und verweinten Augen auf die Bühne. Solche dramatischen Szenen fehlen nun in Wil. Aber auch hier blickt von Dreien meist auf die Tischplatte vor sich oder ins Leere. Erwartet sie eine Reaktion, hebt sie den Kopf und verzieht einen Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. Wie auf Kommando lachen einige Zuschauer leise, andere applaudieren.
Von Dreien nutzt ihre Bekanntheit nicht nur, um krude Glaubenssätze zu verbreiten – etwa dass in unterirdischen Höhlensystemen noch intelligente Dinosaurier lebten. Sie betreibt mit ihren Verschwörungstheorien auch Politik. Teilweise tut sie das unterschwellig, meist aber ziemlich offensichtlich. Derzeit weibelt sie vor allem gegen 5G und gegen Organspenden. Im letzten Frühling wollte sie einen Meditations-Flashmob gegen 5G auf dem Bundesplatz starten, sagte ihn aber im letzten Moment ab. In Wil liegen auf einem Tisch vor dem Seminarraum Flyer, die vor den Gefahren der neuen Technologie warnen – wer will, kann gleich verschiedene Petitionen unterschreiben. Von Dreien will das nicht selbst organisiert haben, lässt die Unterschriftensammler aber gewähren.
Auch zu anderen Religionen äussert sich die Esoterikerin in ihren Vorträgen. Sie teilt Menschen nicht in «gut» oder «böse» ein. Etwas Gutes, «einen Funken Licht», hätten alle in sich. Viele seien aber von «Programmen» beherrscht. Das wiederholt sie wie ein Mantra. Unter anderem ist für von Dreien das Christentum ein solches Programm, «das einem etwas eintrichtern will, das man sicher nicht ist». Trotzdem schreibt die evangelische Informationsstelle Relinfo auf ihrer Website, von Dreien wirke nicht nur in esoterischen Kreisen, sondern «mittlerweile tief in kirchliche Kreise hinein».
«Naturwesen» statt Hostels und Partys
Über von Dreiens Kopf prangt eine riesige Leinwand, auf der ihr Gesicht in Nahaufnahme zu sehen ist. Sie erzählt von einer Reise nach Südamerika. Dabei klingt sie anfangs wie jede andere Jugendliche, die zum ersten Mal etwas von der Welt gesehen hat: naiv-begeistert. Doch von Dreien wäre wohl nicht zum neuen Star der Esoterikszene avanciert, würde sie von Hostels und Partys berichten. Stattdessen spricht sie von den vielen «Naturwesen», denen sie begegnet sei, und präsentiert eine Theorie: Die Leute in Südamerika seien «noch nicht so weit wie wir hier».
Wer «aufgewacht» ist, glaubt an von Dreiens Theorien. Er arbeitet an sich selbst und trägt damit langfristig dazu bei, dass die Menschen durch ihr Bewusstsein Frieden schaffen. «We Are Peace», so lautet Christinas Motto. Dafür sollen die Menschen in «Mitteleuropa» als leuchtendes Beispiel vorangehen. Denn in Südamerika und anderen Teilen der Welt seien die meisten Menschen noch immer in «Vollnarkose». Von Dreien schüttelt scheinbar ungläubig den Kopf. «Fast alle denken, es gebe nur ein Leben und dieses habe keinen Sinn.» Es folgt der Blick ins Publikum, ein hochgezogener Mundwinkel – und das Gelächter kommt erneut. Die junge Frau nimmt es wohlwollend zur Kenntnis und sagt: «Wenn ich das alles hier in Paraguay sagen würde, hätten die Leute das Gefühl, dass ich nicht alle Tassen im Schrank habe.»
«Kein Guru, der einem vorschreibt, wie man zu leben hat»
Christina von Dreien erreicht nicht nur den harten Kern der Esoterik-Szene. Sie zieht auch Menschen in ihren Bann, die sich zuvor kaum mit Spiritualität beschäftigt haben. Und das, obwohl ihr Auftritt wenig charismatisch wirkt und sie keine rhetorischen Feuerwerke zündet. Oder gerade deswegen? Martin Frischknecht, Journalist beim Magazin «Spuren» und Kenner der Esoterikszene, sagt, dass Mädchen an der Grenze zum Erwachsenenalter eine Wirkung entfalten könnten, die sich kaum rational erklären lasse. Er spricht vom «Jeanne d’Arc-Phänomen». «Christina von Dreien hat – wie auch Greta Thunberg – diese verletzliche und unschuldige Ausstrahlung, sie ist noch unverbraucht vom Gezerre dieser Welt.» So werde die vermeintliche Schwäche zu einer Stärke. «Viele Menschen trauen ihr zu, dass sie ihnen Orientierung für ihr Leben bieten kann.»
Eine Besucherin um die 50 sagt in Wil: «Mich überzeugen Christinas Offenheit und die Einfachheit ihrer Botschaften.» Von Dreien sei nicht fundamentalistisch. «Nicht so wie irgendwelche Gurus, die einem vorschreiben wollen, wie man zu leben hat.» Sie gebe schlicht Tipps, schlage vor, wie man Spiritualität leben könne.