Die Rubrik "Ein rätselhafter Patient" ist eine meiner Lieblingsrubriken.
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Sonntag, 09.06.2019 19:33 Uhr Drucken NutzungsrechteFeedbackKommentieren
Die Augen sind gelb verfärbt, die Leber entzündet, die Beine geschwollen: Alles deutet darauf hin, dass der Mann an alkoholbedingter Hepatitis leidet. Doch der 38-Jährige aus dem indischen Bundesstaat Kerala beteuert, in seinem Leben nicht einen Tropfen Bier, Wein oder Schnaps getrunken zu haben.
Um andere Ursachen als Alkohol für die Entzündung der Leber auszuschließen, testen die Ärzte den Mann auf Hepatitis A, B, C und E, die durch Viren ausgelöst werden. Die Ergebnisse sind negativ. Auch andere Krankheitserreger, Drogen, Schwermetalle oder Pestizide, die die Symptome verursachen könnten, lassen sich nicht nachweisen. Eine Autoimmunerkrankung schließen die Ärzte ebenfalls aus.
Biopsie erhärtet den Verdacht
Weil sie nicht weiterwissen, entscheiden sich die Mediziner für eine Biopsie. Die Probe offenbart, wie schwer die Leber des Patienten bereits geschädigt ist. Das Organ ist vernarbt und entzündet. Außerdem hat sich Fett angesammelt. Die Ärzte diagnostizieren eine Leberzirrhose. Der Patient litt zuvor schon unter einer Fettleber, durch Alkoholmissbrauch entwickelte sich laut ihrer Annahme daraus zunächst eine sogenannte Alkoholhepatitis und dann die Zirrhose.
Sie zweifeln zunehmend an der Abstinenz ihres Patienten. Immer wieder konfrontieren sie ihn und seine Familie mit den eindeutigen Laborergebnissen. Sie ziehen einen Psychologen und einen Psychiater hinzu, die ihm doch noch die vermeintliche Wahrheit entlocken sollen. Doch der Patient bleibt dabei: Er lebt abstinent.
Der 38-Jährige erzählt jedoch, dass er sich vor Wochen an einen Homöopathen gewandt hatte, weil sich seine Augen gelb verfärbten. Ursache dafür war das sogenannte Gilbert-Syndrom, berichten die Ärzte im Fachblatt "BMJ Case Reports". Bei den Betroffenen ist ein Enzym defekt, das dafür sorgt, dass Abbauprodukte des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin ausgeschieden werden können.
Deshalb sammelt sich das gelbe Abbauprodukt Bilirubin an, Augen und Haut der Betroffenen können sich gelblich verfärben. Das ist jedoch in der Regel ungefährlich. Andere Beschwerden treten beim Gilbert-Syndrom, auch bekannt als Morbus Meulengracht, meist nicht auf. Eine Therapie ist eigentlich überflüssig.
Doch der Homöopath verordnete trotzdem Tabletten und eine Lösung. Nachdem der Patient die Mittel zwei Wochen lang eingenommen hatte, fühlte er sich schläfrig, lethargisch und sprach undeutlich. Der Homöopath reduzierte daraufhin die Menge der Lösung, erhöhte aber die Anzahl der Tabletten. Als sich nach zwei weiteren Wochen die Augen und der Urin des Patienten tiefgelb verfärbten und die Beine anschwollen, schickte der Homöopath ihn schließlich in das Krankenhaus in Kerala.
Dort analysieren die Mediziner nun die vermeintlich harmlosen Mittel mit einem Massenspektrometer und stellen fest: Der Patient lebte keineswegs abstinent, wie er selbst glaubte. Die homöopathischen Mittel enthielten eine Alkohol-Konzentration von 18,3 Prozent.
"Viele, viele Flaschen"
An sich ist das nicht gefährlich. Weinliköre wie Sherry oder Portwein enthalten ähnlich viel Alkohol. Doch die Leber des Patienten war bereits angegriffen und hatte sich zu einer sogenannten Fettleber entwickelt. Der Grund ist vermutlich die Ernährung des Patienten. Als er ins Krankenhaus kommt, liegt sein Body-Mass-Index bei über 35. Damit gilt er als stark übergewichtig.
Wie viel Alkohol der 38-Jährige in den vergangenen Wochen zu sich genommen hatte, lässt sich nicht mehr feststellen, weil er die leeren Verpackungen nicht aufgehoben hatte. Seine Frau berichtet jedoch von "vielen, vielen Flaschen".
Um die Leber des Patienten zu schonen, setzen ihn die Ärzte auf Diät und verabreichen ihm entzündungshemmende Medikamente. Die Werte verbessern sich daraufhin etwas. Doch eine Leberzirrhose ist nicht heilbar. Sie führt zu einem allmählichen Versagen der Leber, weil gesundes Gewebe abstirbt und durch Bindegebe ersetzt wird.
Langfristig braucht der 38-Jährige eine Organtransplantation. Weil niemand aus der Familie für eine Teilleber-Spende infrage kommt, rückt er auf die Warteliste für Spenderorgane von Verstorbenen.
Doch die Wartezeit ist zu lang. Der Zustand des Patienten verschlechtert sich wegen mehrerer Infektionen rapide. Sechs Wochen nachdem er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, stirbt der Patient an multiplem Organversagen.