Und warum brauchen 42 Verhandlungstage ein ganzes Jahr?
Weil eine große Strafkammer eines Landgerichts nicht nur eine Sache bearbeiten muss, sondern viele. Beim Schwurgericht sind das häufig (eigentlich fast immer) Haftsachen, die nicht einfach liegengelassen werden dürfen, um den einen, besonders öffentlichkeitswirksamen Fall schneller beenden zu können. Eine Entlastung der Kammer durch Umverteilung der neu eingehenden Fälle oder Bildung einer sogenannten Hilfsstrafkammer (das ist eine im Geschäftsverteilungsplan bisher nicht vorgesehene, vorübergehend zur Entlastung der Schwurgerichtskammer eingerichtete neue Strafkammer) ist auch nicht immer unbegrenzt möglich, weil die anderen Kammern und Richter des Gerichts oft auch schon überlastet sind. Meist sitzt die Kammer also zeitgleich in mindestens zwei Hauptverhandlungen. Zwischendurch muss immer mal wieder beraten werden, um u.a. über die zahllosen Anträge von Ex-Mister Germany zu entscheiden. Um sich davon zu erholen, haben die Richter sechs Wochen Urlaub pro Jahr, in diesen sechs Wochen passiert also auch nicht viel.
Mein persönliches Extrem-Beispiel (das ich in meiner Lehrlingszeit miterlebt habe): Bei dem für uns zuständigen Landgericht saß die Schwurgerichtskammer monatelang gleichzeitig in zwei großen Kap-Sachen (= Kapitaldelikte, also Mord, Totschlag und alles, was irgendwie mit vorsätzlichen, todbringenden Taten zu tun hat), mit insgesamt vier Verhandlungstagen pro Woche. Eines der Verfahren betraf den Polizistenmord von Holzminden (siehe hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Polizistenmord_von_Holzminden#Gerichtsverfahren) und dieser Prozess wurde durch die Verteidigung (dagegen sind Adrians Verteidiger "Hafensänger") über insgesamt 180 Verhandlungstage verschleppt.
Im Extremfall kann es vorkommen, dass an einem Landgericht fast nur noch Haftsachen (haupt-)verhandelt werden und die "Nicht-Haftsachen" (die beim Landgericht meist auch keine Bagatellen sind) bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag liegenbleiben. Und wenn dort dann doch irgendwann mal verhandelt wird, bekommen die Angeklagten Strafrabatt wegen der überlangen Verfahrensdauer.
@Gerntroll
Bin gespannt ob er nach Abschluß des Verfahrens länger in U-Haft saß als das Urteil spricht. Also er noch Anspruch auf Haftentschädigung hat.
Das sollte nicht passieren. Der Antrag der Staatsanwaltschaft zeigt ja schon, im welche Richtung es geht. Selbst wenn das Gericht unter dem Antrag bleibt, sollte Herr Ursache noch einige Zeit karierten Sonnenschein und gesiebte Luft genießen dürfen. Ob die weitere Beweisaufnahme da wesentlich neue, andere Erkenntnisse liefert, bleibt abzuwarten. Erfahrungsgemäß ändert ein Wiedereintritt in die Beweisaufnahme meist kaum etwas am Ergebnis. Und das Gericht muss die Dauer der Untersuchungshaft ja eigentlich ständig im Blick haben. Wenn die U-Haft so lange gedauert hat, dass schon zwei Drittel der zu erwartenden Strafe abgesessen sind, wird - wenn "lege artis" vorgegangen wird - der Haftbefehl außer Vollzug gesetzt, selbst bei Kapitalsachen.