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Berlin - Barbara Hendricks ist ein Urgestein des Deutschen Bundestages. Seit 1994 ist die SPD-Politikerin Mitglied des höchsten deutschen Parlaments, zunächst in Bonn, ab dem Umzug 1999 im historischen Reichstagsgebäude im Herzen von Berlin. Die ehemalige Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit hat also schon viel gesehen im Parlamentsbetrieb. Neu für sie hingegen ist der raue und teilweise asoziale Ton im Parlament, seit die selbsternannte Alterative für Deutschland im Jahr 2017 in Fraktionsstärke in den Bundestag einzog.
SPD-Politikerin Barbara Hendricks berichtet von versteckten Beleidigungen aus Reihen der AfD
In einer ruhigen wie eindringlichen Rede vom vergangenen Freitag (20.11.2020) prangert Hendricks die Atmosphäre an, die gemeinsam mit den Rechtspopulisten, die Faschisten in ihren Reihen dulden, in den Bundestag einzog. „Wir hatten in all den Jahren ganz unterschiedliche Mehrheiten“, beginnt Hendricks ihre Rede, „wir hatten eine Fülle von Herausforderungen zu bestehen, die wir nicht immer einstimmig vorangebracht haben. Aber doch in einem prinzipiellen Einvernehmen darüber, was der Wert der Demokratie ist und wie man sich in diesem Hause sowohl arbeitsmäßig als auch persönlich verhält.“
Hendricks berichtet, dass es mit diesem prinzipiellen sozialen Einvernehmen vorbei ist, seit die AfD ins Parlament gewählt worden ist: „Seit 2017 hat sich nicht nur die Arbeitsweise, sondern auch die Atmosphäre in diesem Haus grundlegend gewandelt. Wir wissen das, aber wir wollten uns nicht daran gewöhnen.“ Direkt an die AfD gewandt spricht die SPD-Politikerin den rüden Umgangston der Rechtsradikalen an. „Wir wissen, dass sie insbesondere Kolleginnen, die in ihrer Nähe sitzen beleidigen.“ Dies, so Hendricks, täten die AfD-Abgeordneten besonders perfide - nämlich nur so laut, dass die Beleidigten sie hören, allerdings leise genug, dass die ungehobelten Äußerungen nicht ins Protokoll aufgenommen werden könnten.
Hendricks zur AfD: „Wir wissen, dass in ihren Reihen Nazis sind“
Die ehemalige Bundesministerin schildert weiter, dass es Mitglieder der Bundesregierung „fast nicht mehr aushalten“, in der Nähe der AfD, deren Fraktion genau gegenüber der Regierungsbank platziert ist, zu sitzen, so schlimm seien die Provokationen aus den Reihen der rechtsradikalen Partei. Ihren Worten folgen lautstarke Pöbeleien aus den Reihen der AfD. Doch Hendricks spricht unbeirrt weiter: „Wir wissen, dass in ihren Reihen Nazis sind und wir wissen, dass in ihren Reihen Menschen sind, die so tun, als seien sie Nazis um der Provokation willen.“
Damit trifft Hendricks einen Nerv. Armin-Paulus Hampel platzt der Kragen, vehement brüllt der AfD-Abgeordnete dazwischen und erntet zwei direkt aufeinanderfolgende Ordnungsrufe von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Dass Hampel mit seinem aggressiven Geschreie („Herr Präsident, das geht nicht. Ich lasse mich nicht als Nazi beschimpfen!“) gleichzeitig wie jemand wirkt, der sich vom Nazi-Vorwurf persönlich angesprochen fühlt und im selben Atemzug Hendricks Ausführungen frei Haus mit einem Beleg unterstreicht, scheint er nicht zu merken.
Ordnungsrufe und die AfD
Allein zwischen 2017 und Ende 2019 hat es im Bundestag 19 Ordnungsrufe gegeben. Das sind mehr als in den vier vorherigen Legislaturperioden zusammen. Damit hat die AfD dafür gesorgt, dass in zwei Jahren mehr Ordnungsrufe verteilt werden mussten, als in zwölf Jahren zuvor.
Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner hatte es im Frühjahr 2020 auf drei Ordnungsrufe während einer Rede gebracht. Als Mitglied des Landtages in Thüringen brachte er es in drei Jahren auf 32 Ordnungsrufe.
Der Ordnungsruf ist ein Mittel der Sitzungsleitung um den Bundestagspräsidenten, mit dem einzelne Mitglieder verwarnt werden können. Ein dritter Ordnungsruf kann zum Ausschluss aus der Debatte führen.
AfD-Mitarbeiter droht: „Euch kriegen wir auch noch, ihr Körnerfresser“
Barbara Hendricks lässt den Hampel auflaufen: „Ziehen Sie sich den Schuh an oder nicht.“ Erst als Parlamentspräsident Schäuble ihm den dritten Ordnungsruf androht, fährt der AfD-Mann runter. Hendricks hat ihren Punkt gemacht. Doch was sie dann sagt, ist bedrückend. „Was sie nichts selbst erledigen“, so Hendrick erneut direkt an den rechten Rand des Parlamentes gewandt, „das lassen sie durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erledigen, die sie ganz offenbar unter dem Gesichtspunkt auswählen, wer denn wohl der skrupelloseste sei.“
Die SPD-Politikerin spricht von „Kolleginnen aus anderen Fraktionen“, die sich „nicht mehr trauen, abends spät auf den Fluren alleine unterwegs zu sein, weil sie von Mitarbeitern der AfD-Fraktion bedrängt werden.“ Aus den Reihen der AfD hört man einen Mann laut und aggressiv auflachen. Dann erzählt Barbara Hendricks von einem Mitarbeiter der AfD, der in der Bundestagskantine auf die Bestellung eines vegetarischen Gerichtes mit den Worten „euch kriegen wir auch noch, ihr Körnerfresser“ reagiert haben soll. „Das ist eine Bedrohung im strafrechtlichen Sinn“, fügt Hendricks hinzu.
Klima im Bundestag seit dem Einzug der AfD „stark verschlechtert“
Die Ausführungen des Parlamentsurgesteins Hendricks passen in ein Bild, an dem auch das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ in einem ausführlichen Artikel malt. Unter der Überschrift „AfD-Mitarbeiter verbreiten Angst und Schrecken im Regierungsviertel“ zählen Maik Baumgärtner und Ann-Katrin Müller verschiedene Schilderungen auf, welche die beiden Journalisten aus Quellen aus den Reihen der Mitarbeiterschaft der demokratischen Bundestagsfraktionen erhalten haben. Da ist der Fall einer Mitarbeiterin der SPD-Abgeordneten Andrea Nahles, die seit einem Text gegen Rassismus in der SPD-Parteizeitung „Vorwärts“ bedroht und belästigt wird und das Ziel einer Hetzkampagne im Internet wurde.
Marquardt nennt das Klima im Bundestag, dem sie selbst einmal als Abgeordnete angehörte, „stark verschlechtert seit dem Einzug der AfD“. Angestellte der Fraktionen der SPD, der Grünen und der Linken berichten von Pöbeleien und Drohgesten der AfD-Mitarbeiter, die unter anderem aus den Kreisen der verfassungsfeindlichen „Identitären“ und des rechtsterroristischen Bundeswehrsoldaten Franco A., rekrutiert worden seien. Gegen einen weiteren AfD-Mitarbeiter wird juristisch ermittelt, er soll einen Brandanschlag in der Ukraine in Auftrag geplant und finanziert haben.
Angestellte der AfD bauen auf den Fluren des Bundestages Drohkulissen auf
Gerade die Angestellten der demokratischen Fraktionen im Bundestag, die sich gegen Rechtsextremismus einsetzen, fühlten sich bedroht, schreibt „Der Spiegel“. Eine Mitarbeiterin berichtet, dass sie seit den Aggressionen der AfD-Mitarbeiter die Tür von innen verschließe und es vermeide, nachts alleine auf den Gängen des Bundestages unterwegs zu sein. Eine andere Mitarbeiterin berichtet gegenüber dem Nachrichtenmagazin von zwei AfD-Männern, die in der Tür stehen und solange starren, bis „man aufsteht und die Tür zumachen muss.“ Sie nennt es Machtspiele.
Der nächste Mitarbeiter berichtet, dass die gemeinsamen Runden der Angestellten aller Fraktionen von Mitarbeitern der AfD gestört werden, sie dazwischenreden, andere auslachen und einschüchtern. Er nennt eine konstruktive parlamentarische Arbeit unter diesen Umständen „kaum möglich“. Die Grünenpolitikerin Claudia Roth, Vizepräsidentin des Bundestages und Vorsitzende der Mitarbeiterkommission, zeigt gegenüber dem „Spiegel“ Verständnis für die „wachsende Besorgnis in der Belegschaft“, aus deren Reihen ihr von hasserfüllten Mails und expliziten Drohanrufen berichtet worden sei.
Der „Messermann“ der AfD arbeitet im Reichstagsgebäude
Und auch Mitarbeitende der Bundestagsverwaltung bleiben nicht verschont. Nachdem laut „Spiegel“-Angaben ein AfD-Mitarbeiter die Telefonnummer der für die Ausarbeitung des Migrationspaktes zuständigen Mitarbeiterin veröffentlicht hatte, sei diese so lange mit Drohanrufen belagert worden, bis sie um ihre Versetzung gebeten habe.
Besonders heikel ist ein Absatz über einen „Messermann“ in der AfD. Der Mitarbeiter des AfD-Abgeordneten Harald Weysel soll mit dem Europaausschuss des Bundestages nach Brüssel gereist sein. Dort soll der Sicherheitsdienst der Europäischen Kommission sein Messer konfisziert haben, mit dem er durch die Sicherheitsschleuse wollte. Der AfD-Angestellte habe argumentiert, dass er das Messer auch mit in den Bundestag nehme, es dort aber bei den Sicherheitsleuten am Eingang abgebe. Nur: Als Angestellter muss er gar nicht durch die Schleuse im Reichstag, er verfügt über einen Hausausweis. Waffen sind im Bundestag nicht generell verboten. Die Bundestagsverwaltung sieht sich jetzt wohl gezwungen, an dieser Stelle nachzubessern. (Mirko Schmid)