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Es gibt Tage, da erfasst mich wie so viele der Corona-Blues. Aber mit ein bisschen gutem Willen kann ich selbst dann das Licht am Horizont erkennen, das Gute in der Krise, das Positive im Schlechten. Am Dienstag zum Beispiel habe ich mein erstes "Webinar" mitgemacht: "Antisemitismus – Geschichte und Aktualität" beim Anne-Frank-Zentrum Berlin. Ein Seminar mit fast 40 weiteren Teilnehmerinnen und Teilnehmern am Laptop. Über die "Zoom"-App waren wir ruckelfrei und sicher mit den Seminarleitern verbunden. Statt auf harten Stühlen zu sitzen, durfte ich bequem auf dem heimischen Sofa die Füße hochlegen. Statt fünf Stunden Anreise quer durch Deutschland hinter mich zu bringen, reichten ein paar Schritte durchs Haus. Statt in einem Hotelbett lag ich am Abend in meinem eigenen. Meine Spesen beliefen sich auf ein paar Cent für die Stromkosten – und das Beste an allem: Es hat begeisternd gut geklappt.
Ich möchte die Corona-Situation nicht rosarot malen. Die Belastungen durch Homeschooling bei gleichzeitigem Homeoffice und wachsender Hausarbeit, die zunehmenden Job-Unsicherheiten und die erzwungene Distanz zu geliebten Menschen, wie sie ein Alfons Blum, der 84-Jährige aus Gera, so herzergreifend verdeutlicht hat, sind hart. Vergangene Woche habe ich an dieser Stelle selbst auf die besondere Belastungen von Frauen hingewiesen. Im Schatten all dessen gibt manches dennoch Anlass zu Hoffnung und bereitet dem Fortschritt den Weg. Mit dieser Kolumne möchte dazu beitragen, die Sinne dafür zu schärfen – im Großen wie im Kleinen.
Corona hat den Ausbau digitaler Angebote vorangetrieben
Nicht alles ist schrecklich, was die Corona-Krise hervorbringt. Man muss vielleicht bewusster danach suchen, und es wäre einfacher, aufzuzählen, was alles nicht gut ist. Der Ausbau digitaler Angebote gehört jedoch unzweifelhaft zu den Errungenschaften. Er schafft Bleibendes und eröffnet neue Möglichkeiten. Natürlich gab es Webinare schon vor Corona, nur hatte ich mich bisher nie für so ein Angebot angemeldet. Jetzt weiß ich: Es ist eine echte, funktionierende Alternative, wenn man keine Zeit hat, zu reisen. Sie sorgt für Abwechslung und schont Umwelt und Portemonnaie.
Mein griechisches Lieblings-Restaurant "Poseidon" in Duisburg etwa bietet neuerdings einen Lieferservice an. Fantastisch! Ich habe einen virtuellen Rundgang durchs Deutsche Museum gemacht, und mir die Raumfahrtabteilung angesehen. Spannend! Keine Ahnung, wann ich das ansonsten in der realen Welt geschafft hätte, oder ob ich es überhaupt getan hätte. Ich habe die Natur von einer neuen Seite kennengelernt. Corona hat mich dazu gebracht, sie als Schutzraum wahrzunehmen. In der Natur ist man sicherer vor dem Virus, weil die Ansteckungsgefahr dort im Vergleich zu geschlossenen Räumen deutlich geringer ist. Durch die Kontaktsperren war ich in den vergangenen Wochen viel draußen – zu Fuß oder mit dem Fahrrad in Wald und Flur. Was mir sonst oftmals bedrohlich vorkam wegen Pollenflug, Gewittern, Stürmen, Hitzewellen zeigte sich plötzlich von seiner behütenden Seite. Herrlich!
Corona steigert die Wertschätzung für soziale Berufe
Geradezu beruhigend ist es, wie Deutschland derzeit wieder mehr auf ältere Menschen achtet, sich verstärkt auf Kranke und Schwächere konzentriert, die bekanntlich durch Covid-19 besonders gefährdet sind. Es hat beinahe etwas Tröstendes, dass man in einer Gesellschaft lebt, in der das wieder hervorgekehrt wird. Das ganze Land ist gerührt vom Schicksal Alfons Blums. Wann sonst reden wir so viel über Ältere, Schwächere, Menschen mit Behinderungen und sind bewegt von ihren Situationen? Im Prä-Corona-Alltag fanden diese Erzählungen kaum statt, fast alles drehte sich immer um die Jüngeren, Fitten und Gesunden.
Hoffnungsfroh kann einen darüber hinaus die gewachsene Wertschätzung für wichtige soziale Berufe wie die Pflege stimmen. Wenn wir als Gesellschaft am Ball bleiben und den Druck hochhalten, gibt es vielleicht bald tatsächlich für die Beschäftigten bessere Bezahlungen, bessere Arbeitsbedingungen und für uns potenzielle Patient*innen ein ruhigeres Gefühl bei Krankenhaus-Aufenthalten.
Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie: Corona macht der Politik Beine
Die Corona-Krise stößt Reformen in offenkundig reformbedürftigen Bereichen an. Nehmen wir die Fleischindustrie. Nach dem Ausbruch des Coronavirus in mehreren Schlachtbetrieben und dem zunehmenden gesellschaftlichen und politischen Druck hat das Bundeskabinett am Mittwoch ein Verbot von Werkverträgen auf den Weg gebracht. Werkverträge bedeuten: Ein Unternehmer bekommt vom Auftraggeber eine feste Geldsumme und soll dafür zum Beispiel so viele Tiere schlachten, damit es am Ende zehn Tonnen Fleisch ergibt. Von dem Geld muss der Unternehmer dann alles bezahlen – Material, Logistik, Lohnkosten. Arbeiterinnen und Arbeiter (meist aus Osteuropa) werden angeheuert.
Je weniger sie verdienen und je weniger ihre Unterbringung in heruntergekommenen, überbelegten Wohnungen, wo Abstands- und Hygieneregeln Makulatur sind, kostet, desto mehr Geld bleibt am Ende für den Unternehmer übrig. Keine Frage: Dieses mangelhafte System der Werkverträge in der Fleischindustrie hätte die Politik schon früher abschaffen können. Nun ist es Corona, das den Schwung bringt und der Bundesregierung Beine macht.
Corona verschafft der Wissenschaft eine gehörige Aufwertung
Ist Ihnen übrigens aufgefallen, wie stark die Ausbildung unserer Kinder wieder in den Vordergrund gerückt ist? Wann haben wir uns zuletzt so viele Gedanken über Schule und Kitas gemacht? Wann konnte jemals ein YouTuber wie Rezo mit einem Video über Bildungspolitik derart reüssieren und einen Klickhit landen? Wir diskutieren derzeit vieles: Welche Chancen bietet die Digitalisierung in Schulen? Wie können wir eine bessere Bildungsgerechtigkeit erzielen? Was können wir tun, um sozial Schwächere nicht aus dem Blick zu verlieren? Wie verbessern wir die Hygiene auf völlig maroden Schultoiletten? Ohne Corona hätten wir das in der Form wahrscheinlich nicht getan.
Corona verschafft der Wissenschaft eine gehörige Aufwertung. Corona richtet den Fokus auf die soziale Stellung von Frauen, streut Salz in offene Wunden, weil viele von uns Frauen die Folgen der Krise ausbaden müssen. Die Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) verlangte diese Woche in den "Tagesthemen", Frauen, die "in der familiären Sorgearbeit sehr, sehr viel leisten" und Eltern ohne Platz für Kinderbetreuung finanziell zu entlasten. Die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt forderte im Gespräch mit der "FAZ" einen Geschlechtergerechtigkeits-Check, einen feministischen Impuls mit Blick auf die Corona-Hilfsmaßnahmen. Elke Hannack, Vorstand beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), mahnte, Frauen dürften nicht als Verliererinnen aus der Krise hervorgehen. Das sind gute Initiativen. Am Mittwoch beschloss das Bundeskabinett einen längeren Lohnersatz für Eltern und einen noch längeren für Alleinerziehende, die nicht arbeiten können, weil sie ihre Kinder betreuen müssen. Damit sind die Probleme zwar nicht gelöst, der Schritt geht aber in die richtige Richtung.
Corona entlarvt die Trumps und Bolsonaros dieser Welt
Nur wenn es gelingt, Aufmerksamkeit für bestimmte Probleme zu erzeugen, kann es gelingen, Regierende und ihre Chefinnen und Chefs zum Handeln zu bewegen. Corona hilft dabei. Wenn von dem Elan nur etwas die Krise überdauert, und wir künftig ein bisschen mehr Rücksicht auf Natur, Alte, Kranke, Dienstleister, Arbeiter, Kinder, Frauen nehmen, dann hat die Gesellschaft als Ganzes ein Stück weit gewonnen. 100 Prozent zurück zur Situation vor Corona – wer will das schon?
Und schauen Sie sich an, wie SarsCov-2 die Rechtspopulisten entlarvt. Die AfD hat seit Wochen zur Problematik nichts beizutragen und nichts zu bieten. Sie beschäftigte sich mal wieder mit sich selbst, derweil ihnen die Verschwörungstheoretiker (zumindest für den Moment) den Rang ablaufen – oder wie es mein Kolumnisten-Kollege bei t-online.de, Gerhard Spörl, formuliert hat: "Gegen die Aluhüte hat die AfD keine Chancen". Manch einstigem AfD-Sympathisanten dürfte gerade überdeutlich werden, wie sehr die Partei bloß große Töne spuckt, hinter denen nichts steckt. International zeigt das Versagen der Bolsonaros und Trumps dieser Welt auf tragische Weise – und auf Kosten tausender Toter –, dass sie nicht in der Lage sind, echte Krisen zu bewältigen, sondern diese mit ihrem dummen Gerede nur verschlimmern.
Corona macht mich demütiger
Kehren wir von der weltpolitischen Bühne zurück in die eigenen vier Wände. Zuhause bleiben ist nicht nur nervig. Derzeit erlebe ich eine familienintensive Zeit wie lange nicht mehr. Ich habe mehr "Quality Time" und mehr "Quantity Time" – also: Wir schenken uns größere Aufmerksamkeit, und das viel öfter. Ich habe mehr Zeit zum Reden mit Nachbarn und Freunden. Corona stimmt mich nachdenklicher, macht mich demütiger. Ich lebe bewusster, lebe vorsichtiger, weiß die eigene Gesundheit stärker zu schätzen als vorher.
Einkäufe sind weniger hektisch als sonst. Ich sehe entspanntere Menschen, die gelassen in Schlangen stehen und auf Einlass warten. Mein Terminkalender ist fast überflüssig geworden. Corona bedeutet zumindest teilweise eine Entschleunigung meines bisherigen Lebens, nach der ich mich lange gesehnt hatte. Fast 95 Prozent meiner öffentlichen Auftritte in diesem Jahr sind abgesagt. Das schafft Raum für Dinge, die sonst liegengeblieben wären: entrümpeln, Garten und Balkon hegen und pflegen, Hobbys.
Corona fördert Flexibilität und Kreativität
Die Krise fördert Flexibilität und Kreativität. Wenn etwas nicht im herkömmlichen Sinne klappt, überlegt man sich etwas Neues: Webinare, Webtalks, Insta Live-Formate etc. Der Liberal-Islamische Bund bietet virtuelle Ramadan-Treffen mit inhaltlichem Austausch an, sogar ein virtuelles Fastenbrechen haben wir. Privat habe ich ebenfalls die Videotelefonie mit mehreren Menschen gleichzeitig für mich entdeckt. Früher führte ich mit meinen drei Geschwistern ein Gespräch nach dem anderen, heute schalten wir uns einfach zusammen. Wir sind quasi im digitalen Zeitalter angekommen.
Und schließlich wachsen nach und nach die Freiheiten ja wieder an: Viele Kinder konnten in dieser Woche zum ersten Mal Freunde wiedersehen und zum ersten Mal für 90 Minuten wieder in die Schule, Sportvereine fahren langsam wieder hoch, fast alle Geschäfte und Restaurants sind wieder offen, erste Pflegeheime können wieder besucht werden. Die Verschwörungstheoretiker dürfen also wieder abdanken. Wir achten selbst auf die Wahrung unserer Grundrechte – und brauchen dafür keine absurde und spalterische "Theorien".
Die Coronakrise bleibt problematisch, und vermutlich gibt es nächste Woche an dieser Stelle wieder Kritischeres zu sagen. Heute allerdings standen die guten Nachrichten im Vordergrund.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.
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