Mariam Lau über den Umgang mit der afd. Erhellend und erschreckend zugleich:
Spoiler
Seit der Bundestagswahl im Herbst 2017 ist die AfD mit fast 100 Mann im Bundestag vertreten. "Demokratiesimulation" hat Alexander Gauland das Geschehen dort einmal genannt. Was hat ihr Einzug mit denen gemacht, die bei der AfD immer "Systemparteien" heißen und wegsollen? Was haben sie gelernt, wie hat sich die Alltagskultur des Hauses verändert?
"Der Umgang mit der AfD ist klarer geworden", sagt Britta Haßelmann, die Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen. "Jeder weiß ja jetzt, wer sie sind und mit welchen Methoden die arbeiten. Wir – die Parlamentarischen Geschäftsführer der anderen Fraktionen – verständigen uns häufig, damit nicht fünfmal auf eine Forderung von denen geantwortet werden muss, sondern eben nur noch einmal. Wir vertrauen uns da." Auf diese Weise ist in den vergangenen Monaten oft persönliche Nähe entstanden, wo politisch noch immer größte Distanz herrscht.
Man kann das an FDP-Haudegen Wolfgang Kubicki und der Grünen Galionsfigur Claudia Roth sehen. Beide sitzen im Präsidium des Bundestags, sie leiten die Sitzungen, erteilen Ordnungsrufe, wenn die Geschäftsordnung nicht eingehalten wird, prägen also den Stil des Hauses. Jeder Abgeordnete, der ans Rednerpult tritt, beginnt normalerweise mit den Worten: "Herr Präsident" oder "Frau Präsidentin". Die Abgeordneten der AfD verzichten manchmal auf diese Formel. Claudia Roth gehört in der AfD zu den meistgehassten Figuren, allein die Nennung ihres Namens kann AfD-Politiker in Rage versetzen.
Kubicki erzählt in seinem Büro im 5. Stock des Jakob-Kaiser-Hauses, wie er manchmal, wenn seine grüne Amtskollegin die Plenarsitzung leitet, das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgt. "Die Vertreter der AfD provozieren Claudia Roth bis aufs Blut. Wenn ich in meinem Büro mitbekomme, dass sich so etwas anbahnt, renne ich rüber ins Plenum und versuche mitzuhelfen, dass sich die Situation entspannt." Er will ihr beistehen und rät Roth, härter durchzugreifen, Ordnungsrufe zu erteilen, ruhig zu bleiben. Das Präsidium ist das einzige Gremium des Bundestags, in dem die AfD nicht vertreten ist. Der Partei ist es in vier Anläufen bisher nicht gelungen, einen ihrer Abgeordneten zum Vizepräsidenten wählen zu lassen.
Plötzlich macht ein Goebbels-Zitat die Runde
"Mittlerweile ist offensichtlich, dass die AfD-Vertreter nicht ins Parlament gegangen sind, um hier mitzuarbeiten, sondern um es verächtlich zu machen", sagt Kubicki. Unter den Bundestagsabgeordneten kursiert seit einiger Zeit ein Zitat von Joseph Goebbels aus dem Jahr 1928. Damals hatte der NSDAP-Politiker gesagt: "Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen (...) Wenn die Demokratie so dumm ist, uns für diesen Bärendienst Freifahrkarten und Diäten zu geben, so ist das ihre Sache. Wir kommen nicht als Freunde, auch nicht als Neutrale. Wir kommen als Feinde! Wie der Wolf in die Schafherde einbricht, so kommen wir."
Kubicki will aber nicht als wehrlos dastehen: "Das Schöne ist, die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags hat viele Möglichkeiten, jederzeit für geordnete Verhältnisse zu sorgen." Die Zahl der Ordnungsrufe erreichte 2019 einen Höchststand. Das Haus hat übrigens auch eine eigene Polizei, 170 Beamte und Beamtinnen. Sie haben die Polizeigewalt in allen Räumen, zu jeder Tages- und Nachtzeit.
Verblüffend wenig strategischen Umgang mit der AfD
Wer zum Umgang mit der AfD im Bundestag recherchiert, macht eine überraschende Entdeckung. Obwohl es viele Abgeordnete gibt, die das Goebbels-Zitat für eine exakte Beschreibung dessen halten, was sich vor ihren Augen im Plenarsaal abspielt, obwohl sie also eine Riesengefahr für die Demokratie in Deutschland sehen, gibt es verblüffend wenig strategischen Umgang mit der AfD. Antworten auf die Reden der AfD im Plenum kommen oft aus der Situation heraus, sind spontan und emotional.
Berühmt wurde der Ausbruch des Grünen-Fraktionschefs Anton Hofreiter. In einer Rede zur doppelten Staatsbürgerschaft hatte der AfD-Innenpolitiker Gottfried Curio den Doppelpass "entartet" genannt. Curio sprach kalt und ruhig. Hofreiter dagegen schrie, mit hochrotem Kopf: "Schämen Sie sich! Schämen Sie sich!" Hilflos erschien diese Wut. "Fast wirkt es, als sei die AfD längst an der Regierung, habe längst die Macht ergriffen, und man selbst ist die Opposition, der nichts bleibt als Schreien", so hat es der Autor Thomas Wagner beobachtet. Es ist, als greife man ratlos nach dem Stück, das man schon kennt: Deutschland in den Dreißigerjahren.
Keiner Partei ist diese Rolle so auf den Leib geschrieben wie der leidgeprüften, gegen ihren eigenen Untergang ankämpfenden Sozialdemokratie – und unter den SPD-Abgeordneten womöglich niemandem so sehr wie Martin Schulz. Er war es, dem der damalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi bei einer Auseinandersetzung im EU-Parlament vor vielen Jahren die Rolle eines KZ-Aufsehers empfahl. Schulz sieht sich als kampferprobt, hat als Parlamentspräsident in Straßburg auch schon die Gendarmerie des Hauses eingeschaltet, wenn sich Hetzredner nicht unterbrechen lassen wollten: "Salvini, Le Pen, Goldene Morgenröte, Alessandra Mussolini: Dagegen war Berlusconi harmlos!" Auch Schulz hat mit einem Auftritt im Bundestag für Furore gesorgt. In einer Debatte im Herbst 2018 über den Mord an Daniel H. und die anschließenden rechtsextremen Straßenaufzüge in Chemnitz hatte Gauland gesagt, Hass sei keine Straftat und habe "zweitens seine Gründe". Schulz stand auf für einen Zwischenruf: "Eine ähnliche Diktion hat es in diesem Hause schon einmal gegeben." Die stetige Schuldzuweisung an Migranten sei ein "tradiertes Mittel des Faschismus". Und Gauland, der den Nationalsozialismus ein paar Wochen zuvor als "Vogelschiss" bezeichnet hatte, gehöre auf den "Misthaufen der deutschen Geschichte".
Das Bundestagsprotokoll verzeichnet an dieser Stelle Applaus von fast allen Seiten außer der AfD, sogar einige FDP-Abgeordnete waren mitgerissen. Schulz’ Parteifreund Johannes Kahrs eilte anschließend ans Rednerpult und rief der AfD zu: "Hass macht hässlich. Schauen Sie doch mal in den Spiegel!"
Das war das politische Fortissimo, die maximale Eskalationsstufe. An wen richten sich solche Interventionen, wozu dienen sie? Ein Lagerfeuer soll erzeugt werden, das wärmt: dort die Hässlichen, die Nazis, hier wir, die wir die Geschichte auf unserer Seite wissen. Schulz sagt, er habe in den Reaktionen "den Stolz der eigenen Leute gespürt". Man spricht also zu sich selbst. Das tut die AfD auch. "AfD-Leute sind halbwegs höflich und freundlich, wenn keine Kamera läuft", erzählt die Grünen-Abgeordnete Renate Künast. "Aber wehe, wenn sie am Rednerpult stehen. Dann fangen sie an zu holzen, fürs Fernsehen und für ihre YouTube-Videos." Keine Partei reicht in den sozialen Medien auch nur annähernd an den Erfolg der AfD heran. Alice Weidels Facebook-Auftritt hat 280.000 Abonnenten, der des SPD-Fraktionschefs Rolf Mützenich gerade mal 3500.
In den ersten Monaten nach dem Einzug der AfD ins Parlament hörte man oft, die Bundestagsdebatten seien interessanter geworden. Es gebe jetzt Kontroversen, wo vorher nur Konsens geherrscht habe. Inzwischen ist dieses Argument verstummt. Auch ein Herzinfarkt ist "interessant" – das ist jetzt eher die Stimmung.
Der Umgang des Hohen Hauses ist rauer geworden, hat etwas Lauerndes bekommen. Früher wurde in den großen Fahrstühlen, die im Reichstagsgebäude ständig zwischen Plenar-und Fraktionsebene auf und ab fahren, wild durcheinandergeschwatzt. Heute herrscht dort manchmal eisige Stille.
"Hoho, wen will die denn heute aufreißen?"
Vor allem die FDP, deren Sitze im Plenarsaal stellenweise nur 40 Zentimeter von denen der AfD entfernt sind, erlebt ihr blaues Wunder, besonders die Frauen. "Hoho, wen will die denn heute aufreißen?" sei ein in Variationen häufig gehörter Kommentar, erzählen FDP-Abgeordnete. Oder AfDler imitieren mit den Armen ein Flügelschlagen wie von einem aufgescheuchten Huhn, wenn jüngere weibliche Abgeordnete während ihrer Reden keine Nachfragen zuließen. Die FDP-Abgeordnete Agnes Strack-Zimmermann berichtet: "Ich bin mit zwei großen Brüdern aufgewachsen. Ich bin Rheinländerin, ich kann mich wehren. Aber einmal trug ich eine schwarze Lederjacke. Da fragt mich dieser AfD-Mann, Jürgen Braun: 'Oh, heute in Leder? Wo haben Sie denn die Peitsche?' Da hab ich zu dem gesagt: 'Und Sie? Haben Sie Notstand zu Hause?' Aber andere, speziell jüngere Frauen, können das nicht so. Allein das Gelächter. Es ist einfach unappetitlich."
"Sie können nicht unter Feuer stehen und die andere Wange hinhalten"
Nicht jeder AfD-Abgeordnete würde ihr da widersprechen. Stephan Brandner wurde als Rechtsausschussvorsitzender abgewählt wegen Tweets, die mit der Würde des Amtes nicht vereinbar schienen: Mal postete er ein volles Bierglas neben einem Säbel, mal zeigte er sein Unverständnis darüber, dass Politiker nach dem Anschlag in Halle mit Kerzen in Moscheen und Synagogen "herumlungerten". Nach der Abwahl sollte eigentlich der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, vor die Presse treten. Aber der weigerte sich angeblich, für Brandner geradezustehen. So kam es zu einer desaströsen Pressekonferenz Brandners mit den Fraktionschefs Weidel und Gauland, bei denen einigermaßen unbeherrscht auf die Presse eingeprügelt wurde. Ein AfD-Mann, der nicht namentlich zitiert werden möchte, berichtet: "Wir können uns von keinem unserer Leute distanzieren, nicht einmal von einem wie Brandner. Sie können nicht unter Feuer stehen und die andere Wange hinhalten."
Andere Parteien mögen darüber wetteifern, wer der überzeugendste Antifaschist ist – das kann die Union nicht. Für sie ist der Einzug der AfD in den Bundestag eine politische Herausforderung, eine Anklage: Hatte man sich den Aufstieg der Rechtspopulisten nicht selbst zuzuschreiben, weil man nach rechts überhaupt nicht mehr sprechfähig war?
Der frühere Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU), der vor einigen Jahren im Unfrieden mit Angela Merkel aus dem Kabinett geschieden war, beklagt die Konturlosigkeit der Unionspolitik. "Es hat sich so eine Runder-Tisch-Mentalität entwickelt", sagt Friedrich, der als einer der Bundestagsvizepräsidenten den AfD-Leuten noch nie einen Ordnungsruf erteilt hat. "Alle scheuen den Konflikt. Dabei ist eine lebendige Demokratie dringend auf klare Konturen und politische Führung angewiesen." Aber diese Stimmungslage hat sich bei der Union inzwischen weitgehend verflüchtigt. "Am Anfang haben bei uns viele gedacht: Da sind doch alte CDUler drunter, vielleicht nehmen die noch einmal Vernunft an", sagt der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, Michael Grosse-Brömer. "Mittlerweile glaubt das keiner mehr."
Dennoch verblüfft es gerade bei der Union, wie wenig Energie dort auf die Frage nach dem besten Umgang mit der AfD verwendet wird. Sarkastisch vermerkt ein Unionsabgeordneter, man habe halt in dieser Frage so wenig eine strategische Ausrichtung wie in irgendeiner anderen. Einer, der nicht zitiert werden möchte, sagt über die AfD: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Leute jemals in Deutschland regieren werden – es sei denn, sie würden uns alle erschießen."