Von dem man jedoch nach der durchaus süffisanten Besprechung durch den Kommentator des StGB nicht unbedingt einen allzu positiven Eindruck gewinnt (wo ist der OT-Schalter hin, jetzt könnt' ich ihn gebrauchen...):
Spoiler
Der Vorsitzende des Deutschen Richterbundes macht Wahlkampf mit einem Buch, in dem er die Justiz in Deutschland als fast schon gescheitert beschreibt. Hat er recht?
Von Thomas Fischer
17. August 2017
Schon im Titel kommt es auf hoher Welle daher: Vom Ende der Gerechtigkeit handelt das soeben erschienene Buch des Juristen Jens Gnisa, und es wird begleitet von erheblichem Presseecho über des Autors "Zweifel am Rechtsstaat". Das Internet findet kaum Worte für das ganze Ausmaß der Kritik. Erstaunlich ist aber: In all den Vorab-Meldungen kein Wort über Lösungsvorschläge. "Ich verzweifle am Rechtssystem", verrät Gnisa stattdessen im Spiegel. Warum dann noch ein Buch? Wir erfahren es erst ganz am Schluss: Justiz und Recht sind gefährdet, so Gnisa, aber "die wirklichen Fehlentwicklungen wurden bisher nicht thematisiert" (S. 287 f.). Und schlimmer: "Noch nie (!) wurden die Ursachen und Strukturen der Erosion des Rechtsstaats zusammenhängend dargestellt" (S. 288). Es handelt sich somit, wie sich aus diesem als Nachwort ("Die Geschichte hinter dem Buch"; S. 287; leider ohne jede Andeutung von Geschichte) angefügten Vorwort des Autors ergibt, um ein Titanenwerk ohne Beispiel, sozusagen eine analytische Erstbesteigung.
Vorwort
Der 1963 in Bielefeld geborene Jens Gnisa studierte ab 1983 in Bielefeld Jura, wurde 1993 Richter am Landgericht Paderborn, später Beisitzer in einem Familienrechtssenat des Oberlandesgerichts Hamm. Seit 2007 ist er, so das Handbuch der Justiz, Direktor des Amtsgerichts Bielefeld, eines Gerichts mit etwa 30 Richterstellen. Herr Gnisa nennt es "ein großes deutsches Amtsgericht" (S. 287), was nicht falsch ist, denn "groß" ist ja ein relativer Begriff. Solange das Gericht zwar groß, aber noch nicht wirklich groß ist, ist man bedauerlicherweise kein "Präsident" (und Dienstvorgesetzter), sondern nur "Direktor", was aber doch auch schon etwas Schönes ist. Die Wikipedia-Forschung erwähnt außerdem, Herr Gnisa habe einmal (als Vertreter) "faktisch" ein Landgericht geführt – das hat gewiss ein dankbarer Rechtssuchender dort vermerkt. Vor allem aber ist der Autor seit 2016 Vorsitzender des "Deutschen Richterbundes", einer sich als eine Art Gewerkschaft verstehenden Organisation, der ungefähr 16.000 deutsche Richter und Staatsanwälte angehören.
Der Untertitel des Bielefelder Erstlings lautet: "Ein Richter schlägt Alarm". Damit ist jedenfalls schon mal die Marschrichtung auf die Hitpararade der sogenannten "Sachbücher" festgelegt. Es geht um das, was vom Autor als "Zustand der Justiz in Deutschland" bezeichnet wird. Was das sein soll, erfährt man leider nicht genau; das Thema ähnelt in seiner Durchdringungstiefe dem "Zustand der Meteorologie im Saarland" oder dem "Zustand des Vermessungswesens in Bremerhaven". Will sagen: Es kommt darauf an, was man unter "Zustand" versteht. Beziehungsweise auf was man den "Zustand" bezieht. Eines wird aber schon im Vorwort klar: Gnisa geht es ums Große & Ganze, um den "Verfall des Rechtssystems".
Als Mitarbeiterin besonders aufgeführt ist die (dem Rechtswesen fernstehende) Journalistin Petra Thorbietz. Sie "hat die Argumente in eine für Nicht-Juristen lesbare Form gebracht" (S. 288). Wie man diese Methode der Transformation von Gedanken in Leistung im Sport nennt, ist mir momentan entfallen. Und beim Versuch, mir vorzustellen, wie die Argumente des Autors vor dem Thorbietzschen Doping ausgesehen haben mögen, versagt mir die Fantasie.
Gerechtigkeit
Der Deutsche Richterbund (DRB), genauer: Bund der Richter und Staatsanwälte, ist eine berufsständische Organisation, in der die große Mehrzahl der deutschen RichterInnen und StaatsanwältInnen organisiert ist. Es gibt auch andere (Neue Richtervereinigung [NRV]; Fachgruppe Justiz bei ver.di), aber die gelten als weniger seriös, weil irgendwie "links" und also "politisch". Da loben wir uns den DRB: Seit 50 Jahren Arm in Arm mit dem (jeweiligen) Rechtsstaat, total unpolitisch, überparteilich und – klar – "streng rechtsstaatlich". Der Beitrittsantrag zum DRB liegt, bildlich gesprochen, der Ernennung zum Richter oder Staatsanwalt schon bei, gemeinsam mit dem Antrag der Krankenversicherung Debeka: Wer nicht Mitglied ist, gehört irgendwie nicht wirklich zu uns.
Überhaupt wird ja das "Strenge" am Rechtsstaatlichen in rechtspolitischen Texten immer gern betont, damit nicht am Ende jemand auf die Idee kommt, der Autor sei etwa rechtsstaatlich irgendwie unstreng, also nachlässig oder desinteressiert. Deshalb muss, was auch immer von den Polizeiministern an unvorstellbaren Maßnahmen zur weiteren Steigerung der Sicherheit vorgeschlagen wird, alles stets "streng rechtsstaatlich" sein oder zumindest nach drei Jahren von "unabhängigen Richtern" (also keinesfalls von den abhängigen!) "streng rechtsstaatlich" geprüft werden, damit es auch schon heute streng rechtsstaatlich zugeht und das Bundesverfassungsgericht erkennt, dass die Praxis vorläufig gar nicht anders als verfassungsgemäß sein kann, da sie ja schließlich einer strengen rechtsstaatlichen Kontrolle unterliegt. In der Wartezeit schreiben die Experten vom Amtsgericht oder von der Deutschen Polizeigewerkschaft schon mal Bücher über die Albernheit der "Überbetonung" der Rechtsstaatsidee. Die allenthalben obwaltende "strenge Prüfung" ist eines der großen Geheimnisse der deutschen Rechtsstaatskunde. Seit ich 1988 in die Justiz eintrat, interessierte mich, wann sie vorzunehmen sei und wann auch eine unstrenge, rechtsstaatswidrige oder nachlässige genüge. Leider habe ich es nie erfahren. Womöglich hätte ich mir viel Arbeit sparen können.
Nicht dass die Justiz etwas gegen sogenannte, tatsächliche oder eingebildete "Linke" hätte, jedenfalls wenn die Haare gepflegt sind und nicht irgendwelche Schwierigkeiten in den Präsidialräten gemacht werden, die über die Beförderungen mitbestimmen. Aber Sie können ja mal – nur beispielsweise – versuchen, als Mitglied der Neuen Richtervereinigung Vorsitzender eines OLG-Senats zu werden. In Bayern, wo katholische Toleranz herrscht und daher auch ein Justiz-Staatssekretär Mitglied des Richterbunds sein darf, werden zur Weihnachtsfeier im romantisch verschneiten Fischbachau überhaupt fast nur Mitglieder des Richterbundes eingeladen, und der Herr Staatsminister hält eine Weihnachtsrede, in der er zwischen "wir" (die Justiz) und "die Opposition" unterscheidet. In Nordrhein-Westfalen ist es bekanntlich jahrzehntelang ebenso zugegangen. In Hessen und Niedersachsen hingegen wogt seit Jahrzehnten der Kampf der Titanen in strenger Neutralität zwischen den anthropologischen Grundelementen Schwarz und Rot. Der Bürger ist begeistert; der Herr Amtsgerichtsdirektor beißt gemeinsam mit dem Herrn Oberbürgermeister einmal jährlich in die original Bratwurst.
Zurück zum Deutschen Richterbund: Das Schöne an den Gewerkschaften des Öffentlichen Dienstes ist immer wieder, dass der Chef (Präsident, Direktor, Vorsitzende, Personaldezernent) und seine Untergebenen sich abends total gleichberechtigt bei der Gewerkschaftsversammlung treffen. Dort kämpft die Proberichterin gemeinsam mit ihrem Dienstvorgesetzten für die Zurückdrängung der (seiner) Macht der Justizverwaltung. Wenn sie das sieben Jahre lang durchhält und parallel sieben Jahre lang die Schriftführerin beim Juristinnenbund macht, ist die Beförderung auf einen nach R 3 besoldeten Posten praktisch nicht mehr zu stoppen.
Der Deutsche Richterbund ist, volksnäher ausgedrückt, eine ziemlich staatstragende Organisation mit allerbesten Verbindungen überallhin, wo es um Recht, Gesetze, Rechtspolitik und Rechtsstaatsverwaltung geht. Daher traut man seinen Augen nicht, wenn der Vorsitzende dieser Organisation vier Wochen vor der Bundestagswahl verkündet, in Deutschland sei "das Ende der Gerechtigkeit" gekommen.
Aber ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht, so richtig ernst meint der Herr Gnisa das vielleicht ja auch gar nicht. Dem Spiegel sagte er diese Woche vorsichtshalber, das Ende sei noch nicht ganz gekommen, sondern nur nahe, "wenn wir so weitermachen wie jetzt". Das ist natürlich eine Prognose, die der liebe Leser und RTL-II-Gucker aus ungefähr zehntausend "Alarm"-Meldungen kennt. Da weiß man, was man hat, da greift man zu: Gerade gestern ist doch wieder eine Rechnung von der Versicherung oder vom Vermieter hereingeflattert. Da wird wahrscheinlich der Rechtsstaat versagt haben. Hilf uns, Gnisa!
Wen der Alarm schlagende Richter mit "wir" meint, wird bis zum Ende nicht ganz klar: Seinen Richterbund meint er jedenfalls nicht, weshalb er ja auch bescheiden als "ein Richter" auftritt und die DRB-Connection brav der Promotion-Abteilung des Herder-Verlags überlässt. Das klingt, als würde Herr Montgomery das Buch: "Ein Hausarzt macht sich Sorgen" veröffentlichen oder Herr Zetsche das Werk "Ein Autofahrer in Angst". Bei Jens Gnisa ist "wir" ein irgendwie deutscher oder jedenfalls aber "normaler" Mensch in seiner abstrakten Gesamtheit. Der Begriff kann aber, amöbenhaft, jederzeit beliebig auf "wir Richter", "wir Bürger", "wir Rechtspolitiker", "wir Journalisten" und Ähnliches ein- oder ausgestülpt werden. Ganz am Ende, auf Seite 282, erfolgt die ultimative Umarmung: "Was wir alle ändern müssen". Da trifft sich das ganze Deutschland im Amtsgericht Bielefeld.
Kapitel 1: Diagnose
Das Ende der Gerechtigkeit lautet der Titel. Der Leser sucht nach Erläuterungen, was sich Autor Gnisa wohl unter Gerechtigkeit vorstellt, denn diese ist bekanntlich ein schillernder Begriff, auf den jeder und jede gern ihr ganz persönliches Licht wirft. Man müsste also, als eine Art "idealer Gesamtrichter", schon ein wenig über Moral, Ethik, Recht, Fairness, Ausgleich, Gegenseitigkeit, Freiheit, Pflicht sagen, bevor man eine "Gerechtigkeit" beschreibt, deren "Ende" gekommen ist.
Bei Jens Gnisa folgt der Abschnitt "Was ist Gerechtigkeit?" erst auf den Seiten 92 bis 102 und umfasst damit etwa ein Dreißigstel des Buchs. "Ich", spricht der Richter Gnisa, "habe mich stets bemüht, ein gerechtes Urteil zu finden." Vielleicht hat er dann – im Hinblick auf das stete Bemühen – das Werk Arbeitszeugnisse leicht gemacht gelesen und vorsichtshalber ergänzt: "Mir fällt kein Fall ein, in dem ich mein Urteil … im Nachhinein selbst nicht mehr für gerecht gehalten hätte" (S.92). Ja super! Aber die beste Nachricht kommt noch: "Fast allen Richtern geht es ähnlich … Die Gerechtigkeit ist für sie kein großes Thema – weil sie damit im Reinen sind. Sie haben andere Sorgen…" (S. 92). Alles paletti in Bielefeld. Nichts anderes hatten wir erwartet.
Ein bisschen Gerechtigkeits-Definition kommt dann aber doch noch: "Jeder soll die gleiche Chance auf Glück, Freiheit und Wohlstand haben" (S. 94). Mit dieser etwas überamerikanisierten Glücksverheißung war’s das dann leider schon. Das weitere Kapitel "Was ist Gerechtigkeit?" befasst sich mit "ungerechten" Entscheidungen (Ecclestone, "Kölner Raser-Fall", amerikanischen Schadenersatz-Prozessen). Am Ende weiß der Leser so viel über Gerechtigkeit wie auf Seite 1. Denn für den Autor Gnisa ist dieser Begriff kein Gegenstand von Zweifeln oder Erklärungen: Er weiß einfach intuitiv, was gerecht ist, und prüft an diesem zuverlässigen Maßstab in bunter Folge die Dummheiten der anderen, die ihrerseits auch schon alles zu wissen meinen, aber natürlich falschliegen, da sie ja nicht Gnisa heißen, der Immergerechte.
Um den versprochenen "Alarm" so recht ins Volk zu tragen, muss ein Missstand her, denn dieser ist das Paradies der Alarmschläger und Aufgewühlten. Die Missstände machen denn bei Gnisa auch den weitaus größten Teil des Werkes aus. Ganz vorne: der Ausländer-Missstand. Kapitel folgt auf Kapitel, in denen der Zusammenbruch des Rechtsstaats anhand von Gefälligkeits-Attesten für simulierende Ausreisepflichtige, erschlichener Sozialhilfe, ahnungslosen Obergerichten, verzweifelten Polizisten, die nachts nicht abschieben dürfen, und vielen anderen Skandalen geschildert wird.
Das Wunder von Paderborn
Es folgen: "Köln war die Wende", nordafrikanische Banden, libanesische Banden, rumänische Banden, Scharia-Polizei, "die Furcht wird größer", "freie Fahrt für Pädophile". Auch die "No-go-Areas" dürfen nicht fehlen, in die sich kein Polizist mehr traut, was allerdings die Jungs von der Polizei weit von sich weisen.
Es folgt der "Populismus". Der ist ganz schlimm und wird bevorzugt von Menschen wie Martin Schulz (SPD) sowie von Wolfgang Thierse (SPD) betrieben: "Noch nicht einmal Donald Trump" habe sich derart drastisch geäußert wie Thierse über das "Pfandbon-Urteil" gegen die Kassiererin "Emmilie". Solche "Volksverdummung durch Politiker" (S. 73) ist für Herrn Gnisa, wie überhaupt der Populismus, vollkommen fernliegend; daher findet er auch die Empörungs- und Alarmbücher von Norbert Blüm schrecklich. Als Beispiel für verfehlten Populismus kommentiert er Forderungen nach rechtlichen Sanktionen gegen Konzern-Vorstände: "Schlechte Arbeit ist kein Pflichtverstoß, solange man nach Kräften tut, was man eben kann" (S. 75). Aha.
Nun kommt doch noch eine Prise Ungerechtigkeits-Missstand in der Justiz: Gibt es etwa zu milde Urteile gegen Täter, "die die westliche Werteordnung verachten"? Jens Gnisa weiß es nicht genau, referiert aber mal vorsichtshalber ausführlich die Empörung der einfachen Leute von der Straße. Die Medien bringen natürlich wieder alles durcheinander (S. 78 ff.), insbesondere die Daily Mail (?) und der Daily Telegraph (?). Und Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung haut sowieso immer daneben.
Ganz schlecht weg kommen auch die Politiker (S. 85 ff.): Sie "respektieren das Recht nicht", missachten die Gewaltenteilung, jammern über falsche Gesetzeslücken statt über die richtigen. Gina Lisa und Feministinnen, Ministerinnen auf Abwegen und so weiter und so weiter.
Bei dieser Gelegenheit flicht sich wieder eine lehrreiche Geschichte aus dem Richterleben im OLG-Bezirk Hamm ein: "Ich bin", so bekennt Gnisa, "sehr oft (!) als Strafrichter nach dem Lesen einer Akte mit einer bestimmten Meinung in die Hauptverhandlung gegangen – wahrscheinlich ist der Angeklagte schuldig, Bewährung kann er keine mehr bekommen…" Bevor sich jetzt an dieser Stelle ein Angeklagter oder Strafverteidiger zu früh freut, dass es Paragraf 24 Absatz 2 Strafprozessordnung gibt (Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit), erfahren wir, dass Richter Gnisa alle seine Vorurteile und Befangenheiten rechtzeitig höchstpersönlich erkannt, korrigiert und sodann ausnahmslos richtig und gerecht geurteilt hat. Es handelt sich hier um das sogenannte Wunder von Paderborn.
Kapitel 2: Analyse
Nun werden noch einmal ein paar Grundlagen-Erkenntnisse über Gerechtigkeit eingestreut: "Gerechtigkeit ist ein moralisches Konstrukt" (S. 108), hat Herr Gnisa herausgefunden. Und hat auch gleich ein überzeugendes Beispiel für eine falsche Auffassung von Gerechtigkeit zur Hand: "Wenn Winterkorn eine hohe Rente bezieht, will man das nicht. Das ist aber nicht ungerecht, das ist Missgunst" (S. 108). Für die Grammatik – wir erinnern uns – ist Journalistin T. verantwortlich.
Jetzt aber schnurstracks zum Eingemachten: "Während meines Studiums", so Gnisa, "meldete sich eine Studentin in einem Seminar und meinte, das gefundene Ergebnis sei ungerecht. So sollte ein Jurist nicht denken. Denn der Begriff Gerechtigkeit steht nicht im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB), hat also keinerlei rechtlichen Ansatz" (S. 109).
Diese Erklärung könnte man, glaube ich, schon mit Blick auf Paragraf 138 BGB (Sittenwidrigkeit) oder Paragraf 242 BGB (Grundsatz von Treu und Glauben) als etwas zweifelhaft ansehen, von den ziemlich elaborierten Wissenschaften der Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie ganz zu schweigen. Das Verwaltungsrecht wimmelt ja geradezu von "Abwägungs"-Klauseln, im Verfassungsrecht geht es um "Grundordnungen" weit jenseits des Wortlauts, und auch das Strafrecht verlangt vom Rechtsanwender keineswegs bloß Kenntnisse im Lesen und Schreiben, sondern auch die Überlegung, was sich wohl hinter Begriffen wie Verhältnismäßigkeit, Widerrechtlichkeit, Unbefugtheit oder "Abwägung der betroffenen Rechtsgüter" im Einzelfall verbergen könnte.
Für solche Bedenklichkeiten hat Autor Gnisa aber wenig Verständnis. Er stellt ihnen kurzerhand die bislang unbekannte Gnisa-Theorie entgegen. Sie lautet, wörtlich, abschließend und ungekürzt: "Wertungsfreier Sachverhalt – strikte rechtliche Prüfung – Ergebnis. Alles andere sieht der Jurist als Ideologie oder ›schlichtes Gewäsch‹ an. Moralische, philosophische Vorstellungen oder Gefühle haben vor Gericht nichts zu suchen" (S. 110). Das gibt einigermaßen gut den Stand der justiziellen Erkenntnis des Jahres 1877 wieder, als die sogenannten Reichsjustizgesetze in Kraft traten. Dass sie im Jahr 2017 ausreichen könnte, das deutsche Rechtssystem weg vom Ende und vom Niedergang hin zur Gerechtigkeit zu führen, mag allerdings fraglich sein.
Aber Gnisa ist flexibel: "Wer kein (…) Programm hat, setzt auf ›Gerechtigkeit‹, was immer das heißen mag", streut er plötzlich ein (S. 112). Hat ihn die Ahnung ereilt, "Gerechtigkeit" könne ein Begriff sein, mit dem sich möglicherweise auch außerhalb Ostwestfalens schon jemand beschäftigt hat? Wer vorschnell glaubt, hier deuteten sich Selbstzweifel an, wird eines Besseren belehrt: "Als böse gelten raffgierige Steuerhinterzieher, aber auch – für mich schon eher nachvollziehbar – Kinderschänder…" (S. 113). Ach ja: Der wertungsfreie Sachverhalt. An dieser Stelle könnte man etwas über Wertungsfreiheit oder Sachverhalt oder Wahrheitserkenntnis sagen, wenn man denn schon "erstmals ... die Strukturen erläutern" möchte. Aber selbst wenn es dazu nicht gereicht hat, wollen wir den Fachmann für Alleswissen und Gesetzeswortlaut doch fragen: In welcher Vorschrift stand, Richter Gnisa, doch gleich das Wort "Schänder" im Wortlaut?
Kapitel Zweieinhalb: Unsere Justiz
"Mich schmerzt immer noch (?) jede Aufhebung durch ein höheres Gericht, jeder Brief eines Opfers, das sich falsch verstanden fühlt" (S. 117). Herrn Gnisa, so erfahren wir hier, "lassen die Dinge nicht kalt". Warum sollten sie auch? Aber was "schmerzt" ihn? Ist es die Aufhebung eines amtsrichterlichen Urteils durch ein landgerichtliches, oder ist es die Fehlerhaftigkeit des Ersturteils? Ist es das "Fühlen" des Opfers? Gern hätten wir ein paar Passagen aus den "Briefen eines Opfers" gelesen, um uns ein "Bild der (Bielefelder) Justiz" zu machen. Gern wüsste man auch, wie viele "Briefe von Opfern" der Amtsgerichtsdirektor von Bielefeld eigentlich erhält. Mir selbst wurden in 35 Jahren Strafrechtstätigkeit etwa fünf zugesandt.
Wie auch immer, die Botschaft ist klar: Jens Gnisa, Familienrichter, Amtsgerichtsdirektor, ist nah bei den Menschen und deren Kümmernissen. Ganz anders als etwa der Autor dieser Rezension, dessen ZEIT ONLINE-Kolumne Fischer im Recht Herr Gnisa im Blick hat: Dieser sei, so geißelt Gnisa, "oberlehrerhaft und zynisch", in der Talkshow Maischberger sei der Kolumnist regelrecht "empathielos" gegen das Opfer eines Trickdiebstahls gewesen (von der Moderatorin penetrant als "Raubopfer" bezeichnet). "Dogmatisch" habe der oberlehrerhafte BGH-Richter ("inzwischen in Rente") die "Blumenhändlerin" (!) darüber belehrt, dass ein Trickdiebstahl strafrechtlich etwas anderes sei als ein Raub. Amtsgerichtsdirektor Gnisa hätte an seiner Stelle gewiss das Opfer getröstet und im Namen aller deutschen Richter in die Kameras gesprochen, es sei unerhört, dass der mögliche Trickdiebstahl im Blumenladen nicht als besonders schwerer Raub verfolgt wurde.
Überhaupt der Rezensent: Als BGH-Richter habe er, so Gnisa, "jahrelang keinen Angeklagten und keinen Zeugen mehr vernommen" (meint: sowieso keine Ahnung von der sogenannten Praxis), gleichwohl aber "mit markanten Sprüchen von sich reden gemacht" und "ein Bild der Justiz in der Öffentlichkeit (geprägt), das weit vom Alltag entfernt ist" (S. 116). Gern hätten wir erfahren, was das Markante und das Alltagsferne sei, wie Herr Gnisa die Bebilderung der Justiz korrigieren möchte und welches "Bild der Justiz" wir uns aus seinem Alltag in Bielefeld machen dürfen. Leider fällt ihm dazu nichts ein, außer dass er immer schon gerecht war. OLG-Familienrichter und Amtsgerichtsdirektor Gnisa vernimmt gewiss einen Angeklagten nach dem anderen und hat daher erkannt: "Die Stunde des Juristen beginnt erst, wenn man alles weiß" (S. 116). Das ist natürlich überzeugend. Zwischen einem Oberlehrer vom BGH und einem Amtsgerichtsdirektor, der alles weiß, liegen ein Abgrund der Gerechtigkeit und die gute alte "Front".
Damit wir uns nicht missverstehen: Der Rezensent ist Kummer gewöhnt und schon deshalb kein bisschen beleidigt über seine abermalige lustige Entlarvung, diesmal aus dem ostwestfälischen Forschungszentrum für No-go-Areas und Gerechtigkeit. Herr Gnisa findet "Gäste in Medien" halt grundsätzlich verdächtig und meint, dass "der normale Jurist" (also er selbst) mit so was "Schwierigkeiten" hat. Seit Gnisa aber höchstpersönlich im ZDF bei Hart aber Fair saß, steht er den von ihm geschmähten Medien zu Statements zu seinem sensationellen Auftritt unter dem Titel "Bewährung für die Täter – lebenslang für die Opfer" gern zur Verfügung. Selbstverständlich nur nach innerer Überwindung.
Unterdessen vernimmt er, sofern ihm die Beaufsichtigung der Rechtspfleger und Gerichtsvollzieher des großen Amtsgerichts Zeit lässt, unablässig Zeugen, um mit den Opfern zu fühlen. Richter Gnisa, Spross der Verwaltungsabteilung des OLG Hamm, ist ein Mann von der Front. Sonst könnte es gar nicht sein, dass, wie er gerade dem Spiegel verriet, "gestern erst" wieder ein Straftäter öffentlich zu seiner "Liquidation" aufgerufen haben soll. Diese Straftat möchte Gnisa aber seltsamerweise nicht anzeigen, weil er dies sonst "jeden Tag Dutzende Male" tun müsste. Die Lage am Amtsgericht Bielefeld, so darf man hieraus schließen, ist in einem Ausmaß krisenhaft und lebensgefährlich, dass sich die Justizverwaltung Nordrhein-Westfalen zu unverzüglichem Handeln aufgerufen fühlen muss.
Über alle Maßen erstaunlich auch, dass ein Direktor des Amtsgerichts, zu dessen Ermordung täglich "Dutzende Male" aufgerufen wird, nicht in Erwägung zieht, seinen Kampf für den Rechtsstaat einmal in eigener Sache auszufechten, wobei dies ja nur eines schlichten Briefs an die zuständige Staatsanwaltschaft bedürfte – obgleich er doch zugleich mithilfe des Herder-Verlags 280 Seiten lang das ängstliche Zurückweichen der Justiz vor dem Angriff des Ungeistes geißelt. Wie er sicher weiß, könnte auch jederzeit sein Dienstvorgesetzter, der Präsident des Landgerichts Bielefeld, Strafantrag stellen. Vielleicht sollten sich die beiden einfach mal zusammensetzen.
Am Stammtisch
Was also ist falsch bei der Justiz? Richter sind bescheiden und "spielen sich nicht in die Öffentlichkeit", wie es leider ein gewisser Kolumnist der ZEIT (S. 122) zu tun pflegt, der vom gestrengen Herrn Gnisa deshalb leider immer einmal wieder erwähnt werden muss. Er soll ja seine Kolumne aufgegeben haben. Da könnte doch ein unausgelasteter Amtsgerichtsdirektor… – Nun gut, wir wollen dem Gedanken nicht weiter nachgehen.
Falsch läuft es, so Gnisa, wenn Richter "in die Öffentlichkeit gezerrt" werden und man sich für ihre Person interessiert (S. 123 ff.). Fehlurteile sollen vorkommen, sind aber beileibe nicht Schuld der Justiz. Zum Beispiel der berühmte Fall vom "Bauern Rupp": Eine ganze Familie wurde wegen einer schrecklichen Bluttat verurteilt – die bloß nie stattgefunden hatte. Nur die Ruhe, warnt Richter Gnisa: Nichts Genaues wisse man nicht, "vermutlich" war es halt irgendwie anders, und einer aus der Familie hatte "doch damit zu tun". Wie gesagt: Die Stunde des Juristen ist gekommen, wenn man alles weiß. Und Gerechtigkeit ist Rechtskraft. So lehrt uns der Richter Gnisa. Allerdings muss er an dieser Stelle seiner theoretischen Grundlegung eine Einschränkung machen, für den Fall, dass es vermutlich doch anders war.
Immerhin: Unter 750.000 jährlichen Strafurteilen könnte, wenn es schlecht läuft, möglicherweise doch einmal ein Fehlurteil sein (S. 130). Aber das sei eine Frage der "Dokumentation von Wiederaufnahmeverfahren" (S. 130). Was dieser Unsinn soll und wie er sich das vorstellt, erklärt der DRB-Vorsitzende von der Amtsgerichtsfront nicht einmal in groben Ansätzen.
Kapitel Zweidreiviertel: Ausbildung
Schlechte Richter: "Immer mehr mit der Note ›befriedigend‹" (134). Überlastete Richter (138). Missbrauchte Richter (140). Ökonomisierte Richter (141). Alles irgendwie richtig. Ja, und? Was hat das mit den Giganten der Gerechtigkeit beim Deutschen Richterbund zu tun? Ist es überhaupt möglich, dass es etwas damit zu tun hat? Nachdem er seitenlang die ungerecht schlechte Benotung der Jurastudenten skandalisiert hat, empört sich Gnisa über die Einstellung von Richtern mit der Note "befriedigend". Einen Sinn erkennt man da nicht. Wahrscheinlich hatte Herr Gnisa "voll befriedigend".
Gnisa findet die Ausbildung irgendwie falsch, sagt allerdings nicht, warum. Wie sollte er auch? Irgendwelche Lehr-Erfahrungen oder Kenntnisse des Ausbildungswesens werden ihm nicht nachgesagt. Früher, so weiß er, studierten 9 Prozent der Abiturienten Jura, heute sind es nur noch 7. Furchtbar! Allerdings hat sich – das vergisst er – inzwischen die Zahl der Abiturienten um 50 Prozent erhöht. Die "Exzellenten" gehen nicht zur Justiz, nörgelt Gnisa. Das stimmt allerdings – schon seit 70 Jahren. Warum auch sollte jemand für monatlich 8.000 Euro brutto Amtsgerichtsdirektor in Bielefeld werden, wenn er für monatlich 30.000 Euro Nur-NotarIn in Düsseldorf oder für 100.000 Euro PartnerIn bei Deloitte werden kann? Wahrscheinlich war es aber vor unvordenklichen Zeiten, als Jens Gnisa (1990) selbst in die Justiz ging, in Ostwestfalen anders: Damals gingen nur die wirklich ganz Herausragenden zum Landgericht Paderborn.
Kapitel Zweivierfünftel: Rechtspolitik
Kein Abgesang auf den Rechtsstaat ohne Rechtspolitik-Bashing. Auch Gnisa leidet sehr unter den Verkennungen der Ersten Gewalt: Die "Verrechtlichung" beklagt der Präsident des Richterbundes und hat beispielhaft auch mancherlei Lustiges zur Hand. Der über alle Maßen einflussreiche Rechtspolitiker Matthias Platzeck (SPD) zum Beispiel hat, so müssen wir lesen, etwas Falsches bei Anne Will gesagt. Gut, dass Herr Gnisa ein Buch schreibt, in dem klargestellt wird, dass es "genau anders herum" ist (S. 143)!
Die "Missstände im Strafrecht (sind) besonders groß". Unerträglich ist dem Autor Gnisa, was da alles strafbar ist, etwa "das Ausleihen von Mofas vom Nachbarn, selbst wenn man es wieder zurückbringt". Die einschlägige Vorschrift heißt übrigens Paragraf 248b StGB und steht seit 1932 im Strafgesetz. Interessant wäre die Frage, was Herr Gnisa wohl sagte, wenn sich sein libanesischer Nachbar einmal spontan und ungefragt seinen E-Klasse-Diesel ausleiht und nach drei Tagen ein bisschen zerkratzt zurückbringt. Egal.
Lebensmittel-Strafrecht ist "überflüssig", Regeln sind "unwichtig", vor allem die, mit denen Herr Gnisa einmal Schwierigkeiten hatte. Noch ein "Böhmermann" hinterher und ein Schwarzfahrer und ein Feminismus und ein amtsgerichtlicher Strafbefehl gegen irgendeinen gutwilligen Lehrer oder einen netten Bienenfreund oder einen praktisch unschuldigen Rotlichtsünder oder was auch immer. Da geht dem am Rechtssystem verzweifelnden Richterbundchef das Schwert der Gerechtigkeit in der Tasche auf.
Der Leser aber denkt bei sich: Was soll’s? Was erfahren wir, was wir nicht schon wüssten, schon hundertmal gelesen und gehört haben? Was könnte wohl der Unterschied sein zwischen diesem niveau-armen Breitband-Gemäkel und all dem "Populismus", den der Autor aus der lichten Höhe seiner fehlerfreien Gerechtigkeit kritisiert? "An die 3.300 Menschen starben 2016 einen Verkehrstod. Es muss also etwas getan werden" (S. 148). Aber was? "Was schlagen Sie vor?", fragte der Spiegel den Herrn Gnisa. Seine Antwort: "Die Zahl von Bußgeldverfahren (wegen Geschwindigkeitsübertretungen) deutlich zu reduzieren." Das kann man vorschlagen, muss es aber nicht. Um die Theorie zu hören, der Staat müsse aufhören, Autofahrer zu schikanieren, braucht man keinen Richterbund, sondern bloß einen Stammtisch.
Kapitel 3: Abhilfe
Wie also retten wir das "kranke System" (S. 151)? Wie schützen wir "Otto Normalverbraucher" (wir dürfen uns hier vorstellen: die dem Autor offenbar bekannte 18-jährige Tochter eines Kfz-Meisters "in Partykleid und Pumps", bedauerlicherweise leicht angesoffen; S. 155) vor der Verfolgung durch eine überbordende Ordnungswidrigkeiten-Justiz und zugleich das deutsche Volk vor dem sozialbetrügerischen Nordafrikaner aus dem Libanon?
Hier muss das Stichwort fallen, wir hatten es schon vermisst: Strafverteidigung. Auch hier wird alles immer schlimmer. 2001 war bei Richter Gnisa "kollegiale" Absprache noch üblich, heutzutage "undenkbar" (S. 158). Überhaupt! Zeugen aus dem Ausland! "Durchleuchtung" internationaler Zusammenhänge im Wirtschaftsrecht! "Deals" sind pure Notwehr. Auschwitz-Prozess, Stammheim-Prozess, NSU-Prozess – lauter traumatische Ereignisse im Leben des Amtsgerichts Bielefeld. Da graut es dem 54-jährigen Direktor, und beim Nachdenken findet er, dass "heute alles schwieriger" geworden sei. Vor allem, weil von Strafverteidigern die "Revision als Druckmittel" (S. 161) eingesetzt wird, statt sich "kollegial" aufs Unvermeidliche zu einigen wie einst.
Höhepunkt der Rechtsdurchdringung: "Das Revisionsrecht führt zu einer strukturellen Unterlegenheit der Gerichte" (S. 162). Dies schreibt Ihnen, verehrte Leser und Leserinnen, allen Ernstes der Vorsitzende des Deutschen Richterbunds in dem Buch, mit dem er "erstmals die Ursachen und Strukturen … darstellt". Beim Lesen denkt der Rezensent bei sich: Gut, dass ich aus diesem Bund vor ein paar Jahren ausgetreten bin.
Verwirrung
Das Buch nähert sich inzwischen (wir sind jetzt auf Seite 200) dem Ende des "Abhilfe"-Kapitels. Wir haben bisher noch nichts gelesen, was den Namen Vorschlag" ansatzweise verdient. Außer dass alle, die nicht Herrn Gnisas Weltsicht teilen, damit gefälligst aufhören sollen und dass Geschwindigkeitsüberschreitungen nicht mehr verfolgt werden sollten. Spannung pur: Was kommt noch?
Selbstverständlich! Wir wären nicht der Deutsche Richterbund, wenn wir nicht noch ein paar tolle Ideen im Ärmel hätten, die der Deutsche Richterbund seit ungefähr fünf Jahrzehnten mit der ihm eigenen Konsequenz vertritt: Selbstverwaltung! Schluss mit politischer Ämterpatronage durch die falsche Partei! Niemals würde das Präsidium des DRB sich zu so etwas hergeben.
Daher hat Gnisa auch gleich ein abschreckendes Beispiel für politische Einflussnahme bei der Hand: "Die Affäre Range" (S. 181 ff.). Ein gewisser Justizminister (SPD) und eine gewisse Staatssekretärin (SPD) sollen hier ein ganz übles Ding gedreht haben. Nun gut: "Ob es tatsächlich so war, ist streitig" (S. 181). Wir hatten gelernt: Der normale Jurist beginnt erst zu denken, wenn er alles weiß. Herr Gnisa weiß in diesem Fall nun ausdrücklich gerade nicht alles. Dennoch drängt es ihn, uns zu sagen: Wenn es so gewesen wäre, wie ich nicht weiß, wäre das eine Strafvereitelung durch einen "Justizminister (SPD)".
Und gleich noch einen hinterher: "Viele Bundesanwälte", so Gnisa, "halten das Vorgehen des Ministeriums für rechtswidrig" (S. 182). Woher weiß das der Direktor des AG Bielefeld? Haben viele Bundesanwälte ihm das erzählt? Und wenn ja: warum, mit welcher Kenntnis des Verfahrens und mit welcher Berechtigung? Es wird doch nicht etwa ein Abgrund des Verrats von Dienstgeheimnissen bis nach Ostwestfalen geschwappt sein? Und wie ist es eigentlich zu erklären, dass die vielen Bundesanwälte den Justizminister (SPD) nicht wegen Strafvereitelung im Amt verfolgen?
Mühselig quält sich der Text gegen das Ende hin. Von Abhilfe noch keine Rede. Dann aber: Zu wenig Geld, zu wenig Amtsgerichte, zu wenig (richtige) Kommentare, zu wenig Schreibkräfte, zu wenig Parkplätze (S. 185 ff.); zu viel Einfluss von Politikern. Kaum hat man das Ohr auf diesen Klagegesang eingestellt, geht es schon wieder los mit lauter "Missständen": Zu viele Diebstähle (S. 188). Zu wenig Anklagen (S. 189). Kein Geld, keine Planstellen. Dann schon wieder kein Geld und zu wenig Planstellen. Gewalttäter, die freigelassen werden "müssen", weil kein Geld und zu wenig Planstellen. Alles schrecklich wegen der Politiker (SPD). In Bayern hat sich dagegen "Ministerpräsident Seehofer selbst der Sache angenommen" (198). Daher ist es dort vermutlich besser: Mehr Geld, mehr Planstellen, an jeder Ecke ein renoviertes Amtsgericht und praktisch keine Parteipolitik in der Justizverwaltung. Auch in Österreich soll es besser sein (202) – warum, erfährt man leider nicht. Die übrige internationale Komponente der Justizzustandsvergleichung ist aber wohl einem zweiten Band vorbehalten.
Nun geht es noch einmal von vorne los: Der Ankauf von Steuer-CDs durch Politiker (SPD) ist bedenklich. Noch bedenklicher ist "die Kanzlerin": Sie verwendet erstens den Begriff "Volk" falsch, hat zweitens juristische Fehler bei der Definition des "Staatsvolks" begangen, sich drittens der "Sprachverwaschung" schuldig gemacht und viertens das Asylrecht gebrochen (in dieser Reihenfolge; S. 203 ff.). Der Leser ist verwirrt: Sind wir gerade am Anfang oder am Ende des Bielefelder Grundlagenwerks? Geht es jetzt wieder von vorne los? Hat Herr Gauland endgültig die Gesamtredaktion übernommen?
Fazit: Ende oder Anfang?
Das war’s dann. Im Ernst! Im allerletzten Teil erfolgt ein 50 Seiten langer sogenannter "Faktencheck", der das zuvor Gesagte wiederholt. Mal graut es Herrn Gnisa, warum auch immer, beim nächtlichen Schreiben (S. 215), mal weiß er alles, mal nörgelt er ein bisschen an der Statistik herum (219). Ab S. 250 dann der Abspann: Ja, geht doch irgendwie, man kann es so sehen oder so; wir Richter sind doch eure Freunde, Leute, und man soll es mit der Kritik auch nicht übertreiben. Es sollte allerdings mal ein paar mehr Planstellen geben, eine Fassadenrenovierung für das Landgericht Bielefeld und viel weniger Ausländer. Vielen Dank, Herr Direktor, für diese innovative Strukturanalyse!
Und das Fazit? Es ist ja beileibe nicht so, dass das, was Gnisa kritisiert, nicht vorhanden wäre: Selbstverständlich ist die Justiz insgesamt "überlastet", selbstverständlich wird sie als eine Art von Watschenmann für täglich wechselnde und fast beliebige angebliche oder tatsächliche soziale "Missstände" missbraucht; selbstverständlich hat sich die "Partei-Politik" in vielen Jahrzehnten der Justiz, ihres Personals und ihrer Selbstbeschreibung in einem Maße bemächtigt, das deprimieren kann. Wenn aber der Vorsitzende des Richterbunds sich anschickt, "Strukturen und Ursachen" zu analysieren, wie es angeblich "noch nie" geleistet wurde, darf man eine Arbeit verlangen, die nicht in populistischer Weise den verwerflichen Populismus der jeweils Andersmeinenden ausbreitet, sondern Vorurteile abbaut, statt sie zu bestärken; die eine Justiz präsentiert, die selbstkritisch, theoretisch fundiert, politisch und sozial umfassend informiert ist oder sein will und sich nicht in peinlicher Bestätigung von Selbstgerechtigkeiten und spießiger Kleinkariertheit gefällt.
Da geht es dem Leser des Gnisa gelegentlich wie dem Leser sogenannter "Analysen" der AfD und der Bild-Zeitung: Es ist ja wahr und gar nicht zu bestreiten, dass das Wetter meistens schlecht und die Rente oft zu niedrig ist und dass Gewalttäter schon aufgrund dieser Berufsbezeichnung gewalttätig sind. Aber die hundertmal wiederholten Behauptungen, man habe das schon immer gewusst und es müsse jetzt endlich mal irgendwohin durchgegriffen werden, bringt einen selbst und "uns alle" bekanntlich keinen Zentimeter weiter. Dazu müsste man sich auf die Kompliziertheit der Welt und die eigenen (!) Fehler einlassen, statt in alberner Weise die ganze Beschränktheit der Allwissenheit zur Grundbedingung des eigenen Berufs zu erklären.
Ausklang: Herr Gnisa entschuldigt oder (?) bedankt sich am Ende (S. 288) dafür, dass seine Familie viele Abende "auf ihn verzichten musste", auf dass sein Werk vollendet werde. Bescheidene Unersetzlichkeit – ein Kennzeichen von Amtsgerichtsdirektoren. Immerhin hat es ja noch knapp vor der Bundestagswahl geklappt. Im Übrigen ist das Vermissen von – der Enthüllung von nie zuvor Gesagtem verschriebenen – Giganten menschlich berührend, aber, wie ich aus eigener Erfahrung berichten kann, Schicksal aller Familien aller Gerechten. Die Familie des Rezensenten etwa musste auf diesen verzichten, solange er den vorliegenden Text schrieb. Sie war darüber aber, wie mir berichtet wurde, gar nicht unfroh.