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Sie sind Bestandteil Dutzender von Klagen, die alleine die amerikanischen Gliedstaaten gegen die Administration Trump angestrengt haben. Denn wenn Gesetze, Entscheide oder Verordnungen auf nationaler Ebene in die Belange eines Gliedstaates eingreifen, kann sich dieser wehren: Der Generalstaatsanwalt des Gliedstaates klagt dann gegen die Bestimmung.
Der Politikwissenschafter Paul Nolette von der Marquette University in Milwaukee hat sich auf dieses Thema spezialisiert und seit den achtziger Jahren alle Daten zu Prozessen der Gliedstaaten zusammengetragen.
Die gliedstaatlichen Generalstaatsanwälte (Attorney General), die gleichzeitig den Ermittlungsbehörden und der Justizdirektion vorstehen, sind selbst in den USA wenig bekannt. Doch ihre Bedeutung ist gross. Gerade in den umstrittensten Fällen amerikanischer Gesetzgebung mischten sie mit: Ob es um Segregation in Schulen oder Tabak ging, Opioide oder Einwanderung, sie bezogen und beziehen Stellung und formen so die Rechtsauslegung auch auf nationaler Ebene.
Zuletzt machte beispielsweise eine abenteuerlichen Klage des Gliedstaates Texas, die die Annullation der Präsidentschaftswahlen in einigen entscheidenden «Swing States» forderte, weil das Wahlprozedere verfassungswidrig gewesen sei, landesweit Schlagzeilen. Der republikanische Generalstaatsanwalt und Trump-Loyalist Ken Paxton hatte die Klage, die selbst in Justizkreisen belächelt wurde, eingereicht und zog damit bis vor den Obersten Gerichtshof. Dieser wies sie jedoch ab. Texas habe nicht nachweisen können, warum es ein Interesse am Wahlprozedere anderer Gliedstaaten habe, so die knappe Begründung.
Generalstaatsanwälte sind mächtige Scharniere
Der Fall zeigt auf, was ein Generalstaatsanwalt eines Gliedstaates im amerikanischen Rechtssystem tun kann – und was nicht. Denn die Generalstaatsanwälte bewegen sich als mächtige Scharniere im vielschichtigen Geflecht aus gliedstaatlichen und bundesstaatlichen Kompetenzen. Sie fungieren als höchster Anwalt, oberster Gesetzeshüter und «Top Cop» der Gliedstaaten in einem und sind mit nicht weniger als dem Schutz der Verfassung betraut – dies auf gliedstaatlicher und bundesstaatlicher Ebene.
Das bedeutet, dass sie für die Durchsetzung aller gliedstaatlichen und einiger Bundesgesetze verantwortlich sind. Dabei kontrollieren sie lokale, gliedstaatliche und bundesstaatliche Institutionen, die möglicherweise ihre Aufgaben nicht erfüllen oder ihre Grenzen überschreiten – und dies in allen Rechtsbereichen.
Die Auswertung von Paul Nolettes Daten zeigt: Noch nie zuvor haben Gliedstaaten so oft gegen das Vorgehen der Regierung geklagt wie in der Amtszeit Trumps. Weil die Administration in Washington ihre bundesstaatlichen Kompetenzen überschritt – oder die Entscheide den Gliedstaaten politisch nicht passten? Es fällt nicht immer leicht, das scharf zu trennen. Fakt ist: Die Rolle der Generalstaatsanwälte ist politischer denn je.
Sie bestimmen auch, wie viel Geld, Zeit und Personal der Justizbehörde wofür verwendet wird. Und sie sind durch das Amt oberste Rechtsberater ihrer Regierungen. Damit bestimmen sie auch den Fokus künftiger Rechtssetzung mit.
Weil die Macht eines Generalstaatsanwalts also beträchtlich ist, werden diese in fast allen Gliedstaaten direkt vom Volk gewählt und damit direktdemokratisch legitimiert. In acht Gliedstaaten werden sie von demokratisch gewählten Gremien ernannt. Einzig in Tennessee bestimmt der Oberste Gerichtshof des Gliedstaates den Generalstaatsanwalt.
Wer ernennt die Generalstaatsanwälte?
Um die Gunst der Wähler zu gewinnen, touren die Aspiranten auf das Amt des Generalstaatsanwalts deshalb regelmässig durch ihre Gliedstaaten, führen Wahlkampagnen und propagieren dabei Schwerpunkte und Präferenzen. Dies nähert sie zuweilen mehr der politischen als der juristischen Sphäre an.
Eine Klage gegen die Regierung bringt nationale Bekanntheit
So ist schon manche Karriere eines Spitzenpolitikers in der gliedstaatlichen Justizdirektion lanciert worden. Das prominenteste aktuelle Beispiel ist die künftige Vizepräsidentin Kamala Harris. Sie profilierte sich im Wahlkampf damit, einst als Attorney General von Kalifornien, wie sie sagte, «nicht nur schöne Reden gehalten oder in einem Parlament gesessen, sondern tatsächlich Entscheidungen getroffen zu haben».
Die künftige Vizepräsidentin Kamala Harris profilierte sich vor ihrer Wahl zur Senatorin als Justizdirektorin Kaliforniens.
Ihr Nachfolger in diesem Amt, Xavier Beccera, ist als Gesundheitsminister ebenfalls für das Kabinett Biden vorgesehen.
Auch anderen Justizdirektoren wie dem Texaner Ken Paxton oder der New Yorkerin Letitia James werden politische Ambitionen nachgesagt.
Die Demokratin James zog 2019 mit der klaren Ansage in den Wahlkampf, gegen den «illegitimen Präsidenten Trump» vorgehen zu wollen. Nachdem sie gewonnen hatte, strengte James innert Jahresfrist 35 Klagen gegen die Trump-Administration an und erlangte so nationale Bekanntheit. Oft klagte James dabei zusammen mit anderen Gliedstaaten in sogenannten «multistate lawsuits». Damit beanstanden mehrere Gliedstaaten vor den amerikanischen Bundesgerichten jeweils Kompetenzüberschreitungen der Bundesregierung.
Die Daten zeigen, dass das Instrument der «multistate lawsuits» seit der Amtszeit Ronald Reagans immer öfter angewandt wird.
Seit 1982 klagen die Gliedstaaten immer öfter gegen die Regierung
Anzahl Prozesse mehrerer Gliedstaaten gegen die Regierung pro Jahr
Seit 1982 klagen die Gliedstaaten immer öfter gegen die Regierung - Anzahl Prozesse mehrerer Gliedstaaten gegen die Regierung pro Jahr
Stand: 1. 12. 2020
Quelle: attorneysgeneralNZZ / jok.
Im Gespräch mit der «Washington Post» erklärte der Politikwissenschafter Nolette diese Entwicklung damit, dass die Gräben zwischen Demokraten und Republikanern in den letzten Jahren tiefer geworden sind und die Präsidenten öfters durch direkte exekutive Entscheide und behördliche Verordnungen Recht setzen.
Als Korrektiv wirkt dann nicht der oft blockierte Kongress, sondern die Klage eines gliedstaatlichen Generalstaatsanwalts. Denn diese ist weniger aufwendig und gleichzeitig erfolgversprechender, als im Kongress mühsam um Mehrheiten für ein solides Gesetz zu ringen. Dies sei ein Indikator dafür, wie sich der Parteienstreit zunehmend vom Kongress in die Gerichte verlagere, so Nolette gegenüber der «Washington Post».
Tatsächlich zeigen die Daten, dass die meisten Klagen in den letzten zwölf Jahren von Generalstaatsanwälten der gegnerischen Partei kamen – 0b unter Präsident Barack Obama oder unter Trump. In der Obama-Ära war der Generalstaatsanwalt in Texas besonders umtriebig. In der Trump-Ära sind es dagegen die Generalstaatsanwälte der demokratisch geprägten Gliedstaaten New York und Kalifornien.
Die Parteien klagen hin und her
Anzahl Prozesse einzelner Gliedstaaten gegen die Regierung
* Hier kam es während der Präsidentschaft zu Wechseln bei den Generalstaatsanwälten, die aus verschiedenen Parteien stammten. Stand: 1. 12. 2020
NZZ / jok.
Der starke Anstieg an Klagen gegen die Regierung Trump ist nicht alleine der wachsenden Politisierung der gliedstaatlichen Justizdirektoren oder der zunehmenden Blockadehaltung zwischen den Parteien geschuldet. Vielmehr ist er ein Indiz dafür, dass die Aussicht, Klagen gegen Verordnungen Trumps zu gewinnen und damit sowohl juristische als auch politische Erfolge zu feiern, stark gestiegen ist.
Viele Prozesse gegen die Trump-Regierung waren erfolgreich
Status von 137 Prozessen gegen Trump
Erfolgreich
Gemischte Ergebnisse
Gescheitert
Weder erfolgreich noch gescheitert
Offen
0
50
100
Status: 1. 12. 2020
Quelle: attorneysgeneralNZZ / jok.
Status von 78 Prozessen gegen Obama
Erfolgreich
Gemischte Ergebnisse
Gescheitert
Weder erfolgreich noch gescheitert
Offen
0
20
40
60
80
Status: 1. 12. 2020
Quelle: attorneysgeneralNZZ / jok.
Zwar sind viele Fälle gegen die Administration Trump noch offen. Von den bereits entschiedenen haben die klagenden Gliedstaaten allerdings einen Grossteil in erster Instanz gewonnen. Einen Teil davon hat die Administration an die Berufungsgerichte oder gar den Obersten Gerichtshof weitergezogen. Im Gegensatz dazu halten sich bei den Prozessen gegen die Regierung Obamas erfolgreiche und gescheiterte Klagen die Waage. Republikanische Generalstaatsanwälte gewannen 60 Prozent ihrer Fälle gegen Obama. Demokratische Generalstaatsanwälte hingegen gewannen 80 Prozent ihrer Fälle gegen die Regierung Trump.
Eine Aufschlüsselung der behandelten Themen zeigt dabei auch, welche Politikbereiche von den Gliedstaaten besonders oft aufgegriffen wurden, und bildet so ein Spiegelbild der umstrittensten Vorhaben der Präsidenten.
Umwelt und Immigrationsthemen kamen am häufigsten vor Gericht
Anzahl Klagen, die von einem/mehreren Generalstaatsanwalt angestrengt wurden
Umwelt
Immigration
Gesundheitssystem
Bildung
Bürgerrechte
Konsumentenschutz
Wahlrecht
Arbeitsrecht
Kommunikation
Anderes
0
50
100
Trump
Obama
Bush jun.
Clinton
Bush sen.
Reagan
Stand: 1. 12. 2020
Quelle: attorneysgeneral.orgNZZ / jum.
Die Trump-Administration sah sich insbesondere mit Klagen gegen ihre Immigrationspolitik wie beispielsweise die Trennung von Familien an der Grenze konfrontiert. Auch gegen den Abbau der Gesundheitsversorgung «Obamacare» wurde oft geklagt. Die Obama-Administration hingegen wurde für ebendiese Umsetzung der Krankenversicherungspflicht verklagt. Barack Obama wurde nie persönlich verklagt, Donald Trump hingegen schon. Bei diesen Klagen ging es unter anderem um seinen Einfluss auf die Post vor der Wahl, um die Rechte von Transgender-Personen im Militär oder den Bau einer Mauer an der Grenze zu Mexiko.
Blick auf kohlenbetriebene Kraftwerke in Winfield, West Virginia.
Blick auf kohlenbetriebene Kraftwerke in Winfield, West Virginia.
Paul Souders / Imago
Im Kreuzfeuer aller Präsidenten: die Umweltagentur EPA
Auffällig ist jedoch bei allen Präsidenten: Am häufigsten war die Umweltschutzagentur (EPA) Ziel der Klagen der Gliedstaaten – allerdings aus unterschiedlichen Gründen.
Die Umweltschutzagentur (EPA) wurde am meisten beklagt
Anteil der gliedstaatlichen Klagen (in Prozent)
Die Umweltschutzagentur (EPA) wurde am meisten beklagt - Anteil der gliedstaatlichen Klagen (in Prozent)
Stand: 1. 12. 2020
Quelle: attorneysgeneralNZZ / jok.
Die EPA wurde 1970 unter dem Republikaner Richard Nixon gegründet, um landesweit gegen die Verschmutzung von Wasser, Luft und Land vorzugehen und entsprechende Gesetzte umzusetzen. Dies, indem sie Grenzwerte bestimmt oder politische Massnahmen zum Schutz der Umwelt vorschlägt.
Seit ihrer Gründung ist jedoch umstritten, ob die Bundesbehörde die Kompetenz hat, den Gliedstaaten und vor allem deren Wirtschaft Umweltauflagen zu machen. Der Streit entzündete sich neu, als der Supreme Court 2007 urteilte, dass die EPA für Auflagen zur Reduktion von Treibhausgasen zuständig ist – ein rotes Tuch für viele Industrie-Standorte. Insbesondere republikanische Gliedstaaten klagten gegen die Abgasvorschriften der EPA, die in der Obama-Ära entstanden. Sie argumentierten, die Behörde berufe sich auf falsche Gesetze und übertrete ihre Einflusssphäre. Letzteres ist ein Argument, das besonders häufig von republikanischen Präsidenten genutzt wurde, um die EPA in ihrem Handlungsspielraum stark einzuschränken, so auch von Donald Trump.
Dieser setzte einen Mann an die Spitze der EPA, der vorher Klagen gegen diese vorangetrieben hatte: den ehemaligen Generalstaatsanwalt von Oklahoma, Scott Pruitt. Unter dessen Führung lockerte die EPA manche Auflage wieder, die noch unter Obama beschlossen worden war. Gegen diesen Regulierungsabbau klagten wiederum demokratische Gliedstaaten. Ob es um Methan, Asbest oder saubere Energie ging, der Vorwurf lautete jeweils, die EPA würde ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht und vernachlässige den Schutz der Bürger.
Nicht immer kamen die Kläger durch. In vielen Fällen ist das endgültige Urteil noch nicht gefällt. Unter dem Demokraten Joe Biden wird die EPA wohl demnächst wieder aus der anderen politischen Richtung unter Beschuss genommen.