Irgendwann kommt der Moment des Irrtums ...
Spoiler
Lichtmans System heisst «13 Keys to the White House» – 13 Schlüssel zum Weissen Haus. Dabei bewertet er die Kandidaten nach 13 Punkten. Wer 7 oder mehr holt, wird die Wahl gewinnen, so die einfache Formel. Umfrageergebnisse, in denen Trump gegenüber Biden gerade aufholt, spielen dabei keine Rolle, Lichtman verachtet diese als irrelevant. Der Historiker stützte sich bei der Erstellung seines Modells vielmehr auf Beobachtungen aus vergangenen Wahlkämpfen – von 1860 bis 1980.
Lichtman hat sein System mit dem russischen Mathematiker und Geophysiker Wladimir Keilis-Borok entwickelt. 1981 begannen sie ihre Zusammenarbeit, damals war der Russe bereits berühmt für seine Voraussagen von Erdbeben. Für die Präsidentschaftswahlen kam eine Analogie dazu zur Anwendung. Entweder kann die regierende Partei den Schlüssel zum Weissen Haus halten, und die Machtverteilung bleibt stabil, oder es gibt ein politisches Beben, und die andere Partei zieht in die US-Machtzentrale ein.
Lichtmans «13 Schlüssel» wankten nur einmal: Im Jahr 2000 sagte er zwar korrekt voraus, dass Al Gore eine Mehrheit der Stimmen holen werde, ins Weisse Haus zog aber George W. Bush, der sich dank der Elektorenmehrheit durchsetzte. Lichtman prognostizierte zwar richtig, aber mit dem falschen Ziel vor Augen, weil es zuletzt 1888 passierte, dass der Kandidat mit mehr Stimmen die Wahl nicht gewann. Seither gibt der Wissenschaftler nur noch eine Prognose dazu ab, wer letztlich auch tatsächlich die Präsidentschaft erringen wird.
Trump erhält 6 Punkte, Biden 7
Sein Modell verwendet 11 Faktoren der aktuellen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage. Wegen der Punkte 12 und 13 wird es von Statistikern und Beobachtern aber gern als subjektiv und nicht wissenschaftlich verschrien, denn diese drehen sich um das schwer zu fassende Charisma der Kandidaten. Der bekennende Demokrat Lichtman betont in der «New York Times» denn auch, dass es für ihn wichtig ist, seine Präferenzen und politische Prägung nicht in die Bewertung einfliessen zu lassen. Zumindest 2016 scheint ihm das gelungen zu sein, als er Trump wohl nur widerwillig als Sieger prognostizierte.
Für dieses Jahr sagt Lichtman ein enges Rennen voraus: Trump gibt er 6 Schlüssel, seinem Herausforderer Biden aber 7 – der Demokrat sollte die Wahl demnach schaffen. In einem Videobeitrag der «New York Times» erklärt er, wie er alle 13 Schlüssel verteilt hat und wieso. Bei den Punkten geht es meist nur darum, ob gewisse Voraussetzungen zutreffen, die er in den Dutzenden Wahlen zuvor beobachtet hat. Ist die Ausgangslage korrekt, ist dies bereits ein Punkt für den amtierenden Präsidenten, der somit mit einen Vorteil hat, wie die Auswertung zeigt:
Resultat der Midterm-Wahlen: Die Republikaner haben diese krachend verloren. 1 Punkt für Joe Biden. 0:1
Kein Herausforderer aus der eigenen Partei: Donald Trump ist der alleinige Kandidat der Republikaner. 1 Punkt für Trump. Es steht 1:1
Der Präsident bewirbt sich für eine zweite Amtszeit: Das ist der Fall. 1 Punkt für Trump. 2:1
Kein Herausforderer einer dritten Partei: Lichtman nimmt die Kandidatur von Kanye West nicht ernst. 1 Punkt für Trump. 3:1, Trump zieht davon.
Kurzfristige Wirtschaftsentwicklung: Die Corona-Pandemie hat die USA in eine Rezession gestürzt. Punkt für Biden. 3:2
Langfristige Wirtschaftsentwicklung: Corona habe die letzten drei guten Jahre ausradiert, sagt Lichtman und gibt Biden den Punkt zum 3:3.
Grosse politische Veränderungen: Trumps Steuerreduktionen und die Auslöschung von Obamas Gesetzen mit präsidialen Erlassen bringen dem amtierenden Präsidenten einen Punkt. 4:3
Politische Unruhen: Schon vor 2020 gab es viele Demonstrationen gegen Trump und Rassismus. 1 Punkt für Biden. 4:4
Keine Skandale: Trump wurde vom Repräsentantenhaus impeached, ein klarer Punkt für Biden. 4:5
Fehler in der Aussenpolitik oder beim Militär: Bis anhin sei Trump gerade noch heil rausgekommen, befindet Lichtman und gibt ihm den Punkt. 5:5
Aussenpolitische/militärische Erfolge: Der Wissenschaftler sieht nichts Herausragendes. Der Punkt geht an Biden. 5:6
Der Präsident hat Charisma: Für einige mag das stimmen, sagt Lichtman, für das breite Volk aber nicht. Biden erhält den 7. Punkt.
Der Herausforderer hat kein Charisma: Biden sei anständig, aber weder inspirierend noch charismatisch, sagt Lichtman. Trump erhält den letzten Punkt, der ihm nichts mehr nützt. Es steht aus seiner Sicht 6:7.
Mit Lichtmans Formel würde es im November also zum Beben kommen, bei dem die Demokraten das Weisse Haus übernehmen. Die subjektive Einschätzung des Charismas hat dabei keine Rolle gespielt: Beide Kandidaten können dabei nicht überzeugen und müssen den Punkt an den Gegner abgeben. Doch das Rennen ist äusserst knapp, und Lichtman hat seine Prognose bereits Anfang August abgeschlossen.
Die Republikaner werden sich fragen, ob die zwischenzeitliche politische Annäherung von Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten nun noch als aussenpolitischer Erfolg zählen und damit das Zünglein an Lichtmans Waage spielen könnte. Ihre Gegner dürften hingegen mehr als nur kleine Schnitzer der Trump-Regierung in der Aussenpolitik finden und den 10. Punkt eher Biden zusprechen, womit dann ohnehin wieder der Demokrat gewinnen sollte.
Mächte ausserhalb der Schlüssel
Der Historiker warnt aber gleich selbst, nicht zu sehr auf sein Modell zu vertrauen. Es seien dieses Jahr Mächte im Spiel, die ausserhalb seiner 13 Schlüssel spielten. Es gebe Bemühungen, die Stimmen von gewissen Wählerinnen und Wählern nicht zuzulassen (lesen Sie hier mehr über Trumps zweifelhafte Mittel, um die drohende Niederlage zu verhindern) oder eine erneute russische Einmischung. Man soll deshalb unbedingt wählen gehen, egal was die Modelle voraussagen.
Lichtman schliesst seine Prognose mit einem Spruch, der häufig dem 16. US-Präsidenten Abraham Lincoln zugeschrieben wird: «Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie selbst zu gestalten.»