Ein wirklich guter Artikel über die Befindlichkeiten der Amerikaner, ihre Gedankenwelt und das Trampeltier.
Ich persönlich habe das ja immer etwas anders (nicht so wohlbegründet und gut formuliert) ausgedrückt: "White trash wählt white Trash". Der Berufslügner- und betrüger sowie Bankrotteur Trump ist in meinen Augen nämlich die übelste Form des "white trash".
Spoiler
Ein doppeltes Erbe hat Amerika gross gemacht. Nun verliert es sich
Puritanismus und Aufklärung – die zwei geistigen Strömungen ergeben ein seltsames Paar. In den Vereinigten Staaten sind sie jedoch eine fruchtbare Verbindung eingegangen – die jetzt zerfällt. Was kommt danach?
Hans-Dieter Gelfert 18 Kommentare
07.08.2020, 05.30 Uh
Unter den grossen Nationen der Welt sind die Vereinigten Staaten die einzige, die sich selbst durch einen bewussten Gründungsakt geboren hat und keine andere Nabelschnur anerkennt. Was diese Geburt noch einzigartiger macht, ist die Tatsache, dass sie zweimal geschah. Die erste wurde am 11. November 1620 (nach heutigem Kalender der 21. November) mit dem «Mayflower Compact» beurkundet, den die Pilgerväter nach ihrer Landung in Massachusetts unterzeichneten. Die zweite Geburtsurkunde ist die Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776.
Das erste Dokument steht für die Prägung durch den Puritanismus, das zweite für den Geist der Aufklärung, aus dem heraus die Verfassung der USA geschrieben wurde. Puritanismus und Aufklärung sind die Wurzeln, aus denen das amerikanische Denken und Fühlen noch heute gespeist wird und zwischen denen das Pendel der amerikanischen Politik hin- und herschwingt.
Erfolg – ein Zeichen Gottes
Schon bevor Donald Trump die politische Bühne betrat und Europa kaum fassen konnte, dass die Nation mit den meisten Nobelpreisträgern und den besten Universitäten einen solchen Präsidenten wählen konnte, hatte es ein ähnlich ungläubiges Staunen bei der Wahl von George W. Bush gegeben. Dieser «wiedergeborene» Christ, der mit puritanisch anmutendem Eifer den Kampf gegen die «Achse des Bösen» aufnahm, erscheint neben Trump im Rückblick fast wie eine Lichtgestalt.
Zu einem Aufatmen kam es in Europa mit der Wahl Obamas. Doch der nächste Schock liess nicht lange auf sich warten, denn schon in dessen erstem Amtsjahr drohte das Kernstück seiner Politik, die Gesundheitsreform, zu scheitern. Weshalb sahen dieselben Amerikaner, die die staatliche Krankenversicherung für alle Bürger über 65, genannt Medicare, als Segnung empfinden, in einer ähnlichen Einrichtung für die 45 Millionen bis dahin Nichtversicherten das Gespenst des Sozialismus?
Das zu verstehen, ist nicht schwer, wenn man die religiöse Überzeugung kennt, die die ersten Siedler mitbrachten und die den ältesten Kern des amerikanischen Wertesystems ausmacht. Die Puritaner waren gemäss der calvinistischen Prädestinationslehre einerseits von der Hoffnung beseelt, zu den von Gott Erwählten zu gehören, während sie andererseits in der Ungewissheit lebten, ob dies auch wirklich der Fall sei; denn sie selber konnten gemäss der Lehre nichts zur Erlangung dieses Gnadenstands beitragen.
So bildete sich früh die Überzeugung heraus, dass irdischer Erfolg ein göttliches Zeichen für Erwähltheit sei; denn weshalb sollte Gott Erfolg an Menschen verschwenden, die er für die Hölle bestimmt hatte? Durch diese Überzeugung wurde der Puritanismus zum Motor der kapitalistischen Marktwirtschaft, deren Wettbewerbscharakter nirgendwo so extrem ausgeprägt ist wie in den USA.
Gleiche Regeln für alle
Ein so universaler, das ganze Leben bestimmender Wettbewerb setzt aber voraus, dass keine menschliche Instanz und schon gar nicht der Staat in ihn eingreift und damit unfaire Bedingungen schafft. Der Staat hat nur darüber zu wachen, dass für alle dieselben Wettbewerbsregeln gelten. Wenn er mit Medicare allen Bürgern über 65 den gleichen Versicherungsschutz gibt, greift er nicht in den Wettbewerb ein, da die Ruheständler nicht mehr daran teilnehmen. Das Gleiche gilt für Kinder, die noch nicht in ihn eingetreten sind. Dort aber, wo Erwachsene miteinander konkurrieren, darf sich der Staat nicht einmischen, sonst wäre irdischer Erfolg ein Ergebnis staatlicher Fürsorge und kein Zeichen der Erwähltheit durch Gott.
Wer diese Argumentation liest, wird denken: Wie soll eine religiöse Überzeugung von vor vierhundert Jahren heute noch eine Gesellschaft definieren, deren Mehrheit inzwischen aus katholischen, lutherischen, orthodoxen, muslimischen und anderen nicht calvinistisch geprägten Einwanderern besteht? Tatsächlich ist der alte Calvinismus weitgehend verschwunden, doch sein individualistisches Wettbewerbsdenken ist längst zur kollektiv verinnerlichten «Zivilreligion» geworden, die jeder Amerikaner mit der Muttermilch aufnimmt.
Mit der puritanischen Prägung erklärt sich noch ein anderes amerikanisches Phänomen, das ausländische Beobachter oft geradezu entsetzt: die Gnadenlosigkeit der Strafjustiz. Während im europäischen Strafrecht die Resozialisierung an erster Stelle steht, spielt diese in den USA kaum eine Rolle. Strafe ist dort zuerst und vor allem die Sühne für ein begangenes Verbrechen. Eine Senkung des Strafmasses wegen mildernder Umstände darf es nur geben, wenn die Schuldfähigkeit beeinträchtigt war. Wenn nach puritanischem Glauben nicht einmal Gott durch gute Taten umgestimmt werden kann, darf auch das menschliche Recht nicht durch Gnade aufgeweicht werden.
Amerikas Geburtstrauma
Das Besondere am ursprünglichen Puritanismus lag darin, dass er wegen des nagenden Zweifels an der eigenen Erwähltheit offenblieb für aufgeklärte Rationalität. Deshalb konnte er im 18. Jahrhundert die für Amerika so charakteristische Symbiose mit der Aufklärung eingehen, von der sich die Väter der Verfassung leiten liessen. Der aufklärerische Wettbewerb mit den Zielen der Selbstverwirklichung und der Weltverbesserung liess sich problemlos mit dem puritanischen Wettbewerb um Erwähltheitsbeweise vereinbaren.
Das Fatale an der heutigen Situation ist, dass der gegenwärtige Evangelikalismus nicht mehr die Intellektualität des ursprünglichen Puritanismus hat, sondern sich im Gegenteil durch eine erschreckende geistige Dürftigkeit auszeichnet. Die Evangelikalen beschwichtigen den Zweifel an der eigenen Erwähltheit durch Identifikation mit der erwählten Nation. Dass die USA sich dafür halten, ist eine so feststehende Tatsache, dass es dafür seit langem das Fachwort «American exceptionalism» gibt.
Exzeptionell ist bereits die obenerwähnte zweifache Geburt, die gewissermassen aus einer vaterlosen Jungfernzeugung hervorging. Der Soziologe Geoffrey Gorer, der 1948 mit seinem Buch «Die Amerikaner» eine empirische Analyse der amerikanischen Mentalität vorlegte, sah in der «Verwerfung des europäischen Vaters» das Geburtstrauma der jungen Nation. Die Ablehnung väterlicher Autorität ist in Amerika allgegenwärtig. In unzähligen Hollywoodfilmen taucht als stereotypes Motiv ein Vater auf, der sich vor seinen Kindern bewähren und rechtfertigen muss. Anders als in europäischen Filmen, wo das Kind als schutzbedürftiges Wesen auftritt, erscheint es in amerikanischen als eine moralische Instanz, die zuletzt immer recht hat.
Seit der Staatsgründung empfindet sich Amerika als das unschuldige Kind, das sich von seinem ungerechten Vater losgesagt hat. Aus dieser Autoritätsfeindlichkeit erklärt sich zum einen das Insistieren auf der Gleichheit aller Bürger und zum andern das tiefe Misstrauen gegenüber dem Staat. Der Grund, weshalb diese Staatsfeindlichkeit früher nie so krass hervortrat wie heute, ist leicht zu erkennen: Auch die Amerikaner brauchten einen starken Staat, solange ihr Land von äusseren Feinden bedroht wurde. Doch als das militärische Widerlager der Sowjetunion zerfiel, geriet auch der amerikanische Riese ins Taumeln.
Verlorener Glaube
Die amerikanische «Zivilreligion» steckt in einer tiefen Krise. 240 Jahre lang sahen sich die Amerikaner zuerst als Vorhut, dann als Vormacht an der Spitze der Welt und glaubten an ihre nationale Erwähltheit. Inzwischen aber zeichnet sich ab, dass sie schon in naher Zukunft von China ökonomisch überholt werden. Ebenso gewiss ist, dass ab der Mitte des Jahrhunderts die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr europäischer Herkunft sein wird, was vor allem weisse Männer als Kränkung empfinden. Amerika befindet sich in einer Art Midlife-Krise.
Die folgenschwerste Veränderung besteht darin, dass durch die intellektuellen Anforderungen des digitalen Zeitalters das Feld des ökonomischen Wettrennens so weit auseinandergezogen wird, dass die Erfolgreichen immer reicher werden und ein wachsender Teil der Bevölkerung für immer abgehängt bleiben wird. In Europa wird dieser Teil von den Sozialsystemen aufgefangen. In Amerika verlieren die Abgehängten das, was bisher die Bevölkerung weitgehend einte: den Glauben an einen Erwähltheitsbeweis.
Auch unter weissen Amerikanern gab es schon immer dauerhaft Abgehängte, die man verächtlich als «white trash» (weissen Müll), bezeichnet. Das 2016 erschienene Buch «White Trash. The 400-Year Untold History of Class in America» von Nancy Isenberg, das rasch zum Bestseller wurde, zeichnet diesen verdrängten Teil der amerikanischen Sozialgeschichte akribisch nach. Der Erfolg des Buches ist ein Symptom dafür, dass jetzt nicht nur verarmte Landarbeiter, sondern grosse Teile des ländlichen Mittelstands und der Arbeiterschaft in veralteten Industrien fürchten müssen, zum «white trash» zu gehören. Es waren vor allem diese Menschen, die in Trump ihren Messias sahen.
Der Übergang von Obama zu Trump musste Europäern wie ein politischer Kulturbruch erscheinen. Da wird ein gebildeter, mit wohlgesetzten Worten an Vernunft und Mitgefühl appellierender Präsident von einem rhetorischen Flegel abgelöst, der nichts als seinen eigenen Erfolg im Auge zu haben scheint. Doch im Land selbst war das Beben, das zu diesem Riss führte, schon lange vorher zu spüren. Obama hatte über die Köpfe der verunsicherten Amerikaner hinweggeredet, während Trump mit dem sicheren Instinkt des Populisten an ihre niedersten Instinkte appellierte: an den irrationalen Nationalismus und den latent immer vorhandenen Rassismus.
Diesen hatte Obamas Präsidentschaft nicht etwa gedämpft, sondern erst richtig an die Oberfläche gebracht. Wenn ein Schwarzer Präsident werden konnte, dann bedeutete das für die Weissen, dass sie selbst sich nicht länger als privilegierte Kaste ansehen konnten. Das war der Todesstoss für das, was latent als angeborener Erwähltheitsbeweis empfunden wurde: die weisse Haut.
Aufklärung – die zweite Chance
Dieser tiefen Kränkung des puritanisch geprägten amerikanischen Egos wird eine zweite folgen, wenn China ökonomisch an den USA vorbeizieht. Da die von Abstiegsängsten verunsicherten Weissen nun im Inland keine Kaste mehr haben, auf die sie herabschauen können, bot Trump ihnen die illegalen Einwanderer als Ersatz an, wodurch er sogar unter den Schwarzen Anhänger gewinnen konnte. Mit dem Slogan «America first» und seiner Anti-China-Politik versucht er sein Land noch einmal als die «shining city on the hill» gegenüber dem Rest der Welt zu präsentieren. Dieses Zitat, mit dem sich Amerika immer wieder selbst idealisierte, geht auf den Puritaner John Winthrop zurück, der 1630 erster Gouverneur von Massachusetts wurde. Es bietet denjenigen, die kaum noch Hoffnung auf einen persönlichen Erwähltheitsbeweis haben, ersatzweise die Identifikation mit einer Nation an, die für sich noch immer Erwähltheit reklamiert.
Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Amerikaner nach solcher Pervertierung ihres puritanischen Erbes auf die zweite Wurzel ihres Wertesystems besinnen, auf die Aufklärung, aus deren Geist die Gründungsväter einst die Verfassung schrieben. Sollte es amerikanischen Wissenschaftern gelingen, als Erste einen wirksamen Impfstoff gegen Covid-19 auf den Markt zu bringen, dann könnten sie die weissen Ritter sein, die das Ruder noch einmal herumreissen und das Pendel wieder in die Richtung schwingen lassen, die sich bisher nach jedem Rückfall zuletzt doch wieder durchgesetzt hat.