Heute fand ich diese Meldung zum aktuellen Stand der Brexit-Debatte:
KEYSTONE/EPA UK PARLIAMENT/JESSICA TAYLOR / UK PARLIAMENT / HANDOUT
(sda-ats)
Das britische Parlament hat der Regierung die Kontrolle über den Brexit-Prozess abgerungen. Es wird gegen den Willen der Regierung an diesem Mittwoch über Alternativen zum Brexit-Abkommen abstimmen.
Ein entsprechender Antrag wurde am späten Montagabend mit einer Mehrheit von 329 zu 302 Stimmen im Unterhaus angenommen. Am Mittwoch soll über Alternativen zu Mays ausgehandelten, aber bereits zwei Mal vom Unterhaus abgelehnten EU-Austrittsvertrag abgestimmt werden. Damit ist weiter völlig offen, wann, wie oder gar ob es überhaupt zum Brexit kommt.
Die Abstimmung zeigte, wie sehr May selbst in den eigenen Reihen an Autorität eingebüsst hat. So erklärten drei Staatssekretäre aus Protest gegen die Haltung de Regierung ihren Rücktritt. May hat erklärt, dass es sich am Mittwoch lediglich um Probeabstimmungen handle, an deren Ergebnis sie nicht gebunden sei. Nichtsdestotrotz würden die Abstimmungen erhebliches politisches Gewicht haben und den Druck auf die Premierministerin erhöhen.
Theresa May hatte zuvor eingestanden, dass sich noch immer keine Mehrheit für ihr Brexit-Abkommen abzeichnet. Daher wolle sie vorerst nicht erneut über das Vertragspaket zum EU-Austritt abstimmen lassen, sagte sie am Nachmittag vor dem Unterhaus.
May will drittes Votum über Abkommen
Die automatische Folge einer Ablehnung ihres Deals sei immer noch ein Austritt ohne Abkommen. Zugleich beschwichtigte sie aber: "Ein No Deal wird nicht passieren, solange das Unterhaus dem nicht zustimmt." Es dürfe aber auch keine Abkehr vom Brexit geben, sagte May. Sie warnte zudem vor einem "langsamen" EU-Austritt mit einer Verlängerung der Frist über den 22. Mai hinaus, womit eine Teilnahme an der Europawahl notwendig wäre, die vom 23. bis 26. Mai stattfindet.
Spekulationen über Mays Zukunft kochten zuletzt wiederholt hoch. Die Zeitung "The Sun" berichtete in der Nacht zum Dienstag, May habe führenden Euroskeptikern aus ihrer Partei am Sonntag in Aussicht gestellt, im Gegenzug für eine Zustimmung zu ihrem Brexit-Vertrag könnte sie einen Rücktritt in Betracht ziehen. Der konservative Abgeordnete Andrew Bridgen sagte dem Sender Sky News, er halte es für wahrscheinlich, dass im Sommer Neuwahlen angesetzt würden.
Die Abstimmung über den Antrag des Abgeordneten Oliver Letwin, mit dem sich das Unterhaus die Kontrolle über das weitere Vorgehen verschaffte, war angesetzt worden, nachdem May eingeräumt hatte, dass ihr Brexit-Vertrag wohl auch bei einem dritten Anlauf derzeit am Widerstand im Parlament scheitern würde. Gleichzeitig betonte sie, weiterhin um Unterstützung für ihren Vertrag zu werben, um doch noch ein drittes Votum zu ermöglichen. Im Gespräch dafür ist der kommenden Donnerstag.
Reihe von Testabstimmungen
Zuerst können nun aber eine ganze Reihe von Testabstimmungen am Mittwoch angesetzt werden. Mit ihnen soll ausgelotet werden, welcher alternative Plan eine Mehrheit im Unterhaus finden könnte. Als denkbar gilt etwa eine Variante, die eine engere Anbindungen an die EU anstrebt. Aber auch eine wegen potenziell schwerwiegender wirtschaftlicher Folgen von vielen besonders befürchteten Scheidung ohne Abkommen ist nicht vom Tisch.
Ein Sprecher des für den Brexit zuständigen Ministeriums nannte es enttäuschend, dass der Antrag auf mehr Kontrolle für das Parlament angenommen wurde. Im Namen der Regierung rief er die Abgeordneten dazu auf "Realismus" walten zu lassen. Jede Option müsse auch in den Verhandlungen mit der EU darstellbar sein. Ausserdem müsse beachtet werden, wie lange Verhandlungen dauern könnten und dass ein eventuell längerer Brexit-Aufschub eine Teilnahme an der Europawahl Ende Mai bedeuten würde.
EU stimmte Verschiebung zu
Eigentlich war der Brexit für diesen Freitag vorgesehen. Da Mays mit der EU ausgehandelter Vertrag aber beim Unterhaus durchfiel, räumte die EU eine Verschiebung ein, um einen harten Brexit zu verhindern. Sollte weiterhin keine Einigung auf einen Vertrag gelingen, muss Grossbritannien nunmehr am 12. April die EU verlassen. Mit einem Abkommen gilt eine Frist bis zum 22. Mai.
Die EU-Kommission wollte sich am Abend nicht zu Mays Ankündigungen äussern. Eine Sprecherin verwies lediglich darauf, dass nur noch bis Freitag Zeit sei, die Abstimmung zu organisieren. Wenn dies nicht geschehe, müsse Grossbritannien bis zum 12. April eine überzeugende Alternative präsentieren - oder dann ohne Abkommen aus der EU austreten.
Die Regierung in London will sich noch diese Woche vom Parlament den Segen für eine Rechtsverordnung geben lassen, mit der das bisherige Austrittsdatum 29. März auch nach nationalen Recht verschoben werden soll. Sollte die Verordnung nicht gebilligt werden, entstehe zwar Verwirrung und schädigende Unsicherheit, an der Verschiebung des Brexit-Datums ändere sich aber nichts, sagte May.
Spekulationen um Revolte
Britische Medien hatten am Wochenende berichtet, May könnte von ihrem Kabinett zu einem baldigen Rücktritt gezwungen werden. Am Montagmorgen traf sich die Premierministerin mit ihrem Kabinett zu einer Sondersitzung.
Unterstützung erhielt May vor der Sondersitzung von Handelsminister Liam Fox. Die Premierministerin geniesse den Respekt der Bevölkerung, die es überrasche, wie May mit all dem Druck umgehe, sagte Fox am Morgen dem Radiosender BBC Radio 4. Die Aussicht auf eine Beteiligung an der Europawahl im Fall eines längeren Brexit-Aufschubs könnte vermutlich viele Abgeordnete davon überzeugen, das Austrittsabkommen doch noch zu unterstützen, so Fox.
Die EU treibt unterdessen die Vorbereitungen auf einen chaotischen Brexit weiter voran. Die EU-Kommission veröffentlichte am Montag dazu neues Informationsmaterial für Bürger. Darin ist beispielsweise beschrieben, was im Fall der Fälle bei Reisen ins Vereinigte Königreich beachtet werden muss. Es werde immer wahrscheinlicher, dass es zu einem Brexit ohne Austrittsabkommen komme, sagte eine hohe EU-Beamtin am Montag zu den Vorbereitungen.
Hinweise für Reisende
Für Grossbritannien-Reisen wird in dem Informationsmaterial darauf hingewiesen, dass die Europäische Krankenversicherungskarte nicht mehr gelten würde und dass wieder Zusatzkosten für die Handynutzung anfallen könnten. Zudem müssten EU-Bürger bei der Rückreise mit Zollkontrollen rechnen. Ein Visum soll jedoch nach derzeitigem Stand nur für Aufenthalte nötig werden, die länger als drei Monate dauern.
Sollte Grossbritannien tatsächlich ohne Austrittsvertrag aus der EU ausscheiden, wird mit dramatischen Folgen für die Wirtschaft und viele andere Lebensbereiche gerechnet. Millionen EU-Bürger in Grossbritannien und Briten in der EU würden in grosse Unsicherheit gestürzt.
Was den Verbleib Mays im Amt angeht, so erinnere ich daran, dass es nur drei Möglichkeiten gibt, wie britische Premierminister(innen) ausgetauscht werden können:
- durch parteiinternes Misstrauensvotum
- durch ein Mehrheitsvotum des Unterhauses
- durch Rücktritt
Ad 1: Diese Möglichkeit ist verbraucht. Ein parteiinternes Misstrauensvotum wurde ja schon gegen Ende 2018 durchgeführt, aber May erhielt eine Mehrheit für sich. Nach den Parteiregeln kann ein Misstrauensvotum erst nach Ablauf eines Jahres wieder durchgeführt werden. Ihre Partei kann also May nicht absetzen.
Ad 2: Eine Mehrheit des Unterhauses könnte May das Misstrauen aussprechen. Das setzt aber voraus, dass genügend Abgeordnete ihrer Partei und des Bündnispartners DUP mit der Opposition stimmen. Sodann müsste binnen vierzehn Tagen eine neue Regierung gebildet werden, der das Unterhaus ausdrücklich das Vertrauen ausspricht, andernfalls müsste eine Neuwahl des Unterhauses angeordnet werden. Dieses Verfahren ist neu und wurde bisher m. W. noch nie angewandt. Durch ein Misstrauensvotum würde sich zudem wohl auch die Frage der Zusammenarbeit zwischen Conservatives und DUP neu stellen. Dass die die Regierung tragenden Parteien an einem solchen Abenteuer kaum interessiert sein dürften, liegt wohl auf der Hand. Zudem droht im Falle eines Scheiterns der Regierungsbildung eine Neuwahl, die wohl im Augenblick kurz vor dem EU-Austritt kaum wünschbar erscheint, denn Wahlkampf, Wahl und Neukonstituierung von Unterhaus und Regierung fielen dann genau in die Zeit, während der dringende Entscheide zu fällen sein werden. Zwar könnte die Mehrheit immer noch durch ausdrückliches Vertrauensvotum die Neuwahl abwenden, damit bliebe aber May samt Kabinett weiter im Amt, man hätte sich nur öffentlich gänzlich lächerlich gemacht.
Ad 3: May könnte jederzeit von sich aus zurücktreten. Die Frage ist aber unbeantwortet, wer ihr dann nachfolgen sollte und wie sich dies auf die Zusammenarbeit der die Regierung tragenden Parteien auswirken würde.
Rein theoretisch gibt es noch eine vierte Möglichkeit: Die Queen könnte May absetzen und eine andere Person ernennen. Formal wird der Premierminister ohnehin allein von der Königin eingesetzt. Nur widerspricht ein solches Vorgehen jeglicher politischen Tradition und wäre heute ggf. in einem Fall denkbar, wenn ein Premierminister z. B. in Gefangenschaft geraten wäre o. dgl.
Ohnehin frage ich mich, ob ein personeller Wechsel derzeit etwas brächte. Die politische Zersplitterung in der Brexit-Frage ist ja nicht von einzelnen Personen abhängig, sondern geht quer durch Parteien und Gesellschaft.