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Es gab eine Zeit, in der Grossbritannien die EU nicht verteufelte, sondern sie formte. Nun will sich die Regierung in London jener marktwirtschaftlichen Errungenschaften entledigen, die ihre Vorgänger zum Wohl der Union durchgesetzt hatten. Einer der Vorkämpfer war Leon Brittan, der ab 1989 für nicht weniger als zehn Jahre Teil der EU-Kommission war und dort dem grossen französischen Kommissionspräsidenten Jacques Delors Paroli bot. Brittan war ein überzeugter Anhänger der EU, was der konservativen Premierministerin Margaret Thatcher, die ihn entsandt hatte, etwas spät auffiel. Inhaltlich handelte er aber ganz im Sinne der «eisernen Lady».
Der neue Bulldozer heisst Johnson
Brittans Spitzname war «Bulldozer». Zuerst als Kommissar für Wettbewerb, später für Handel, zwang er dem Sozialisten Delors ein Korsett für die Vergabe staatlicher Beihilfen auf – also für die Frage, wann eine Regierung den Unternehmen gezielt Subventionen oder Steuererleichterungen gewähren darf. Brittan drängte den Interventionismus der Kontinentaleuropäer zurück. Jetzt ist es die konservative Regierung von Boris Johnson, der selbst gelegentlich wie ein Bulldozer auftritt, die sich nicht binden will. Sie riskiert, dafür ein Freihandelsabkommen mit der EU scheitern zu lassen.
«Grossbritannien steht davor, sich selbst ins Gesicht zu schlagen, um die Freiheit zu erlangen, sich in den Fuss zu schiessen», formuliert es Matthew Lesh, Forschungsleiter des Adam Smith Institute. Aus seiner Sicht birgt die Freiheit, leichter Zuschüsse an Firmen zu verteilen, mehr Risiken als Chancen. Den Verlust eines Handelsvertrags mit dem wichtigsten Handelspartner sei diese Freiheit nicht wert. Ohnehin passt ein Kampf für grosszügigere Beihilfen besser zur linken Labour-Opposition als zur konservativen Tory-Partei – und die Wähler haben eine radikale Labour-Agenda bei der Unterhauswahl im Dezember 2019 klar verworfen.
Die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit der EU sind in ihrer Endphase. In dieser Woche findet die letzte offizielle Gesprächsrunde statt. Ein Vertrag müsste ab dem Jahreswechsel greifen. Der Streit um ähnliche Wettbewerbsregeln, das «level playing field» zwischen der EU und der britischen Insel, ist der grösste Konflikt – und Beihilfe ein entscheidender Teil davon. Zudem treibt Johnsons Regierung einen Gesetzesentwurf durch das Parlament, der durch einen Bruch des EU-Austritts-Vertrags begrenzen soll, wie stark sich EU-Beihilferegeln in Grossbritannien auswirken. Die Botschaft: Beihilfe ist uns heilig.
Johnsons Wirtschaftspolitik ist geprägt von den Vorstellungen seines technologieaffinen Chefberaters Dominic Cummings. Dem schwebt ein flexibles Vergabesystem vor, um Tech-Firmen im internationalen Wettbewerb Vorteile zu verschaffen. Cummings orientiert sich an der amerikanischen Advanced Research Projects Agency (Arpa). Sie wurde im Kalten Krieg von Präsident Eisenhower geschaffen, um Forschungsgelder im Wettlauf mit der Sowjetunion zu verteilen. Aus der britischen Tech-Branche selbst mehren sich derweil Stimmen, die einen gesicherten Zugang zur EU für weitaus wichtiger halten.
Sind Bürokraten gute Investoren?
Die EU fordert strenge Beihilferegeln, weil sie verhindern möchte, dass britische Firmen Vergünstigungen erhalten, die sie beim Export in den Binnenmarkt bevorteilen. Ziel der EU sei es, dem Staat die Auswahl von «Gewinnern» in der Firmenlandschaft zu verunmöglichen, hält die London School of Economics in einer Einordnung fest. Matthew Lesh vom Adam Smith Institute argumentiert, Bürokraten fehle das Wissen, um lohnende Investitionen auszuwählen. Ein Beispiel liefert die britische Regierung selbst, die im Frühjahr mit 400 Mio. £ (470 Mio. Fr.) bei dem insolventen Satellitenhersteller One Web eingestiegen ist. London wollte ein eigenes Satellitennavigationssystem entwickeln, weil es wegen des Brexits das EU-System Galileo verlassen muss.
Nicht ohne Grund musste der Wirtschaftsminister Alok Sharma beruhigen, als er Anfang September die Vision des neuen Beihilfesystems umriss. Grossbritannien plane keine Rückkehr zum Ansatz der 1970er Jahre, versicherte er. Damals hatten wechselnde Labour- und Tory-Regierungen versucht, marode Industrien durch Subventionen vor dem Untergang zu bewahren. Das Ergebnis war eine Verschleppung des Strukturwandels, die England den Ruf als «kranker Mann Europas» einbrachte. Es war Margaret Thatcher, die das Land von diesem Irrweg abbrachte und schliesslich zum Streiter für Wettbewerb und Marktwirtschaft in der EU machte.
Johnsons Politikwechsel wäre auch deshalb auffällig, weil Grossbritannien in der EU gar nicht an die Grenzen des Erlaubten stösst – im Gegenteil: Im Jahr 2018 vergab die Insel nach EU-Angaben Staatsbeihilfen im Umfang von knapp 0,4% der eigenen Wirtschaftsleistung. Im Durchschnitt der EU-28 und in Frankreich waren es fast 0,8%, in Deutschland 1,5%. Auch in den vorausgegangenen zehn Jahren war der Anteil Grossbritanniens deutlich niedriger als der EU-Durchschnitt, wie der wissenschaftliche Dienst des Unterhauses schreibt.
Diese Zahlen illustrieren, dass die EU-Regeln Beihilfen nicht verbieten. Sie lassen sie in kleinerem Umfang ohne Genehmigung zu und ebenso für spezielle Felder, auch für Forschung oder regionale Entwicklung. Sie verunmöglichen nicht wesentliche Punkte von Johnsons Wahlprogramm, etwa die Förderung abgehängter Landesteile im Norden Englands. Erst im grösseren Stil braucht die Unterstützung das Plazet der Kommission – und die kann flexibel sein: Für die umfangreichen Finanzhilfen zur Bekämpfung der Corona-Rezession hat sie die Beihilferegeln gelockert.
Grossbritannien hat jedoch erklärt, sich nach dem Jahreswechsel auf die Beihilferegeln der Welthandelsorganisation (WTO) zu stützen. Darauf fällt die Insel als WTO-Mitglied ohnehin zurück, wenn keine Anschlusslösung mit Brüssel gefunden wird. Auf diesem Fundament will London später sein eigenes System entwickeln. Obwohl die Definition von Staatsbeihilfe bei der WTO ähnlich ist wie bei der EU, erleichtert der Wechsel eine interventionistische Politik.
Zusammenprall zweier Systeme
Bei der EU ist Beihilfe im Grundsatz verboten, nur in Ausnahmen erlaubt und muss gegebenenfalls vor der Vergabe autorisiert werden. Bei der WTO ist sie grundsätzlich erlaubt und kann nur im Nachhinein von anderen Ländern angefochten werden, wenn diese Länder ihre Firmen benachteiligt sehen. Daraus können zwar langwierige Konflikte erwachsen, wie der Streit zwischen der EU und den USA um Airbus-Subventionen zeigt – aber wo kein Kläger, da kein Prozess. Und während bei der WTO Strafzölle verhängt werden, verlangt die EU die Rückzahlung illegaler Staatshilfen.
Grundsätzlich sollten Beihilfen die Marktkräfte und den Wettbewerb nicht stören, Marktversagen ausgleichen und so wirken, dass der Nutzen die Kosten überwiegt. Die Denkfabrik Institute for Government schlägt vor, dass London eine legal bindende Subventionskontrolle errichtet, welche nicht nur innerhalb des Vereinigten Königreichs Sicherheit schafft, sondern auch Brüssel zufriedenstellt. Johnsons Vorgängerin Theresa May wollte dafür die Kompetenzen der Marktaufsichtsbehörde CMA ausweiten. Doch Boris Johnson habe die Idee eines unabhängigen Regulierers bereits über Bord geworfen, heisst es.
Nie ein Brexit-Argument
Eigentlich hätten Tory-Politiker Staatsbeihilfe traditionell als Verschwendung von Steuergeldern betrachtet, sagt der ehemalige konservative Abgeordnete David Gauke. Auch sei sie nie ein Argument für den EU-Austritt gewesen. Er könne sich an viele Diskussionen der Euroskeptiker über störende EU-Bürokratie oder die Machtkonzentration in Brüssel erinnern, so Gauke in einem Blog-Beitrag – aber nicht über lästige Einschränkungen, strauchelnde Privatunternehmen zu retten.
Leon Brittan drückte es vor einigen Jahren in einer Podiumsdiskussion über einen (damals hypothetischen) Brexit so aus: «Solange wir unsere Partner überzeugen können, und das können wir, einer liberalen und offenen Politik zu folgen, sind wir unendlich stärker, wenn wir dies als Teil der EU tun als individuell und auf uns allein gestellt.» Gegenwärtig wird in Brüssel der französische Ruf nach weicheren Beihilferegeln wieder lauter – jetzt, wo die Gegensteuer der Briten fehlt.