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Die EG - Modell und Wirklichkeit / Oktober 1992
Die Gurkennorm und ihre Hintermänner
Anmerkungen zur Brüsseler Bürokratie.
Von Ulrich Kremer
Das Wort vom europäischen Bürokratiemoloch ist in aller Munde. Kaum ein Politiker, der nicht vor der Gefahr eines «Brüsseler Einheitsbreis» warnt: Wir wollen, tönt es, ein Europa der Demokraten und nicht der Bürokraten. Man lamentiert, dass die EG-Kommission mit ihren Verordnungen und Richtlinien Europa wie eine Grippewelle überziehe. Ein deutscher Europaparlamentarier hat ausrechnen lassen, dass man allein im vergangenen Jahr 425 Millionen Seiten Papier verbraucht habe, um die Arbeitsdokumente, Broschüren und sonstige Veröffentlichungen der EG nur unter das deutschsprachige Volk zu bringen und dass über zwei Drittel der abgelieferten Dokumentenberge ungelesen in den Papierkorb gewandert seien.
Die Kritik an der europäischen Bürokratie ist nicht neu. Schon für den früheren deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt war Europa Brüssel, Bürokratie, Sinnbild des Verwaltungsschwachsinns, der selbstredend überzahlten, menschenfeindlichen Technokraten. Und Margaret Thatcher sagt heute, das dänische Volk habe mit seinem Maastricht-Veto für die vielen anderen in der Gemeinschaft gesprochen, die keine Gelegenheit gehabt hätten, ihre Ansichten mit dem Wahlzettel kundzutun. Die Dänen hätten damit einen grossen Dienst geleistet, für die Demokratie und gegen die Bürokratie.
«Es gibt keine Eurokratie», verteidigt sich einer, der als Eurokrat zu bezeichnen wäre, hätte diese Bezeichnung nicht den geschilderten Beigeschmack. Zwar habe die Kommission der Europäischen Gemeinschaft nach den Römer Verträgen das ausschliessliche Vorschlagsrecht für Verordnungen und Richtlinien, die in der Form nationalen Gesetzen entsprechen, räumt er ein. Aber ohne die Zustimmung des Rates, also der zuständigen Minister der nationalen Regierungen, gehe überhaupt nichts. Die Minister wiederum stehen am Ende eines meist langwierigen Prozesses.
Ein banales Beispiel: Die deutschen Nordsee-Küstenfischer blockieren mitten in der Ferienzeit alle wichtigen Fahrrinnen zu den Ostfriesischen Inseln. Damit protestieren sie gegen die geltenden Fischfangquoten für Seezungen, die zu knapp bemessen seien, als dass sie ihnen auch nur die Existenz sichern könnten. Der Fall kommt im Bonner Kabinett zur Sprache. Die Beamten des zuständigen Ministeriums erhalten den Auftrag, sich um das Anliegen zu kümmern. Sie erachten die Befürchtungen, jedenfalls grundsätzlich, als begründet und werden nun in der Brüsseler EG-Kommission vorstellig. Auch hier beginnen die Mühlen zu mahlen: Wie konnte man nur die Seezungenfischer in Ostfriesland vergessen, als man die allgemeinen Fischfangquoten festgelegt hatte? - Man ist bereit, nachzubessern, arbeitet einen Verordnungsentwurf aus. Dieser wird in einer zuständigen Arbeitsgruppe mit dem Ministerrat abgesegnet, passiert auch den Botschafterrat der Mitgliedstaaten und landet schliesslich im Rat der zuständigen Fachminister, um entweder nochmals zur Diskussion gestellt oder gleich verabschiedet zu werden.
Der Vorgang ist im politischen Alltag natürlich noch um einiges komplizierter, zeigt aber schon in dieser verkürzten Darstellung, worauf es ankommt: So gut wie immer kommen die Vorschläge der EG-Kommission nicht aus dem hohlen Bauch eines Beamten, sondern werden in den Mitgliedstaaten angeregt, wo Interessengruppen und Direktbetroffene aktiv sind: die Fischer an der Nordseeküste, die Whiskyhersteller aus Grossbritannien, die deutschen Bierbrauer, die französischen Winzer, die luxemburgischen Banken, die italienischen Spaghettifabrikanten oder die spanischen Sherrybarone. Und jedermann weiss, wie wichtig die Wählerstimmen und wie mächtig die Lobbyisten geworden sind.
So wäre auch kein Europabeamter auf die abstruse Idee gekommen, den Krümmungsgrad der Gurke per Richtlinie festzulegen. Tatsächlich steckt hinter der «Gurken-Richtlinie» der Einzel- und Grosshandel. Nur diesem war nämlich daran gelegen, dass die Gurken kostensparend in Kartons verpackt, verschickt und verkauft werden. Weil Zeit Geld ist, musste man weiter auch wissen, was man da kauft, ohne die Kartons vorher öffnen zu müssen. Und das funktioniert eben nur - der vermeintliche Unsinn bekommt langsam Sinn -, wenn die Krümmung der Gurke normiert und auf rechtlich verbindliche Weise vorgeschrieben wird. Und noch ein letztes Beispiel dieser Kategorie: die Norm für Kondome, über die sich seit Monaten Italiener und Franzosen im sogenannten EG-Normierungsausschuss in den Haaren liegen. Die Italiener plädieren für ein Kondomfassungsvermögen von vier Litern, derweil die Franzosen auf stattlichen fünf Litern beharren; einig sind sich alle Beteiligten lediglich darin, dass die Farb- und Strukturgestaltung der Gummis jedem freigestellt werden solle. Der Ausgang des Streites um den «Gummi-Paragraphen» ist derzeit noch völlig offen, fest steht allein: Auch hier sind es in erster Linie die Produzenten, die sich gegen den unlauteren Wettbewerb der «Billiganbieter» aus Drittländern schützen wollen. Der Anstoss zur Norm kam von aussen und nicht aus der unergründlichen Tiefe eines unterbeschäftigten Eurokratenhirns.
Erstaunlich ist eigentlich bloss, dass sich die Behörde nicht vehementer zur Wehr setzt, wenn sie für derartigen Bürokratismus verantwortlich gemacht wird. An Argumenten nämlich würde es den Beamten nicht fehlen. Denn in der EG der Gegenwart gilt längst das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung: Jeder kann nach seiner Façon - sprich: Norm - glücklich werden, betreffe es nun die Steckdose oder das Kondom. Die Vorlieben dürfen lediglich nicht den freien Handel hemmen. Auf der anderen Seite werden die «Eurokraten» von den nationalen Regierungen und, nicht zu vergessen, den mächtigen Interessenvertretern zu weiteren Normierungsexzessen geradezu gezwungen.
«Brüssel steht oft unter dem Zwang, nationalen Regelungsperfektionismus noch weiter zu perfektionieren und so gemeinschaftsweit kompatibel zu machen», sagt Reinhard Büscher aus dem Kabinett des deutschen Kommissars Martin Bangemann und verweist damit auf den Wettstreit zwischen den nationalen und den EG-Behörden, der so alt ist wie die Gemeinschaft selbst. Beispiel dafür ist etwa der «Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über hinter dem Führersitz montierte Umsturzvorrichtungen mit zwei Pfosten für Schmalspurzugmaschinen mit Luftbereifung» - zu deutsch: die Vorschrift für Sturzbügel an Kleintraktoren. Über 100 Seiten zählt diese Richtlinie, und sie dient vornehmlich dem Zweck, einen gemeinsamen rechtlichen Rahmen für den Wettbewerb zu schaffen. «So gut wie immer geht es darum, Handelshindernisse abzubauen, die auf nationaler Ebene von massiven Wirtschaftsinteressen im Laufe der Jahre ganz grob bis höchst feinsinnig aufgerichtet worden sind», erklärt ein hoher Kommissionsbeamter. Dass sich freilich auch in nationalen Regelungen bürokratische Kleinodien zuhauf aufspüren lassen, sei hier denn auch nur am Rande bemerkt.
Die Euro-Bürokratie, kein Zweifel, wird von den allein verantwortlichen Politikern der einzelnen Nationalstaaten immer dann als unmenschlicher Moloch vorgeschoben, wenn das eigene Handeln oder Nichthandeln entschuldigt werden soll. «Wir würden ja gerne mehr für den Umweltschutz tun, aber Brüssel blockiert da.» Oder ein anderes, ebenso hinterhältiges, weil nur umständlich richtigzustellendes Beispiel: «Wir wollen keine steuerlichen Mehrbelastungen für den Bürger. Aber Brüssel schreibt mit der Einführung des Binnenmarktes 1993 einen Mehrwertsteuer-Mindestsatz von 15 Prozent vor.»
Die Superbürokratie in Brüssel erweist sich so zu einem wesentlichen Teil als Phantom. Das bestätigen auch die Zahlen und Strukturen der europäischen Verwaltung: Die EG-Kommission beschäftigt rund 17 500 Beamte und Bedienstete auf Zeit. Davon sind rund 10 000 mit Verwaltungsaufgaben und Referententätigkeiten beschäftigt. 3200 arbeiten in der wissenschaftlichen Forschung. Und 2700 werden als Dolmetscher oder Übersetzer beschäftigt. Damit hat die Kommission aber nur ungefähr dieselbe Grösse wie das britische Justizministerium. Es werden also für die grosse Europäische Gemeinschaft weniger Mitarbeiter beschäftigt als beispielsweise für die Städte Amsterdam, Düsseldorf oder Madrid. Die Gesamtausgaben der Kommission für Personal und Verwaltung machen nicht mehr als rund drei Prozent des gesamten EG-Haushalts von rund 110 Milliarden Franken aus. Und ausserdem sind alle Stellen und Planstellen auf die Vertreter von 12 Mitgliedstaaten mit insgesamt 9 Amtssprachen verteilt - einfach deshalb, weil grosse und kleine Völker auch sprachlich gleichberechtigt sein sollen. Die 9 Amtssprachen ergeben in den Sitzungen 72 mögliche Sprachenkombinationen. Jährlich werden allein in der Kommission rund eine Million Seiten übersetzt. Peinlichst wird darauf geachtet, dass alle Gesetze während des gesamten Rechtsetzungsverfahrens in allen 9 Amtssprachen vorliegen und zeitgleich im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft veröffentlicht werden.
Bürokratie? Einheitsbrei? Wohl eher ist die EG ein bisher einzigartiger - und schwieriger - Versuch mit 12 Verwaltungstraditionen, 12 unterschiedlichen Denkschulen vor dem Hintergrund von 345 Millionen Menschen mit eigener Geschichte und Traditionen, die sie alle behalten möchten. Zweifellos wäre es wünschenswert, wenn auch der noch überschaubare Beamtenapparat auf demokratische Weise, durch Parlament und Wähler, viel stärker als bisher kontrolliert werden könnte.
Doch das haben bisher eben nicht die Bürokraten, sondern ausschliesslich die Politiker verhindert. An deren Spitze früher übrigens Margaret Thatcher aus Grossbritannien stand und heute ihr Nachfolger John Major figuriert.
Ulrich Kremer ist Brüsseler EG- und Nato-Korrespondent verschiedener deutscher Rundfunkanstalten.