Man könnte sagen: Corona und Brexit...das läuft perfekt für Boris und er hat die volle Kontrolle.....NICHT.
Spoiler
Covid-19 in England: Die Krise wird zu teuer
Mehr als zwei Millionen Jobs sind verloren gegangen, die Nachfrage bei den Tafeln ist so hoch wie nie. Auch deshalb muss Boris Johnson die Corona-Beschränkungen lockern.
Eine Analyse von Bettina Schulz, London
13. Juni 2020, 14:21 Uhr 563 Kommentare
Die Covid-19-Fälle in England steigen wieder. Während die Corona-Pandemie in fast allen Regionen des Vereinigten Königreiches abflaut, meldeten die Behörden für England nach einer Analyse von TotalAnalysis 6,9 Prozent mehr Infektionsfälle in der vergangenen Woche. Auch in London breitet sich der Virus wieder stärker aus. Noch immer sind im gesamten Land mehr als 50.000 Personen an Covid-19 erkrankt. In Deutschland sind es nach den letzten Meldungen der Website Worldometer mal gerade etwas mehr als 6.000 Fälle.
"Wir sind nicht so weit unten, wie ich es gerne hätte", räumte Premierminister Boris Johnson am Donnerstag ein, verkündete aber gleichzeitig eine weitere Lockerung der nur noch unwillig eingehaltenen Ausgangssperren. Einzelpersonen, die die Einsamkeit der Isolierung nicht mehr aushalten, dürfen sich jetzt miteinander in einer Art "Support-Bubble" treffen. Insgesamt sind die Vorgaben in Großbritannien kompliziert: Barbecue ja, die Großeltern treffen nein, Busfahren ja – aber mit Maske erst ab 15. Juni. Ins Ausland fliegen ja, aber wenn man wiederkommt 14 Tage Quarantäne, was aber nicht wirklich nachgeprüft wird.
Es sind die Klimmzüge einer Regierung, die die Wirtschaft wieder hochfahren muss, weil die Corona-Pandemie zu teuer wird, egal wie es um die Infektionswelle steht. Die Wissenschaftler würden gern noch warten. Doch Johnson kann sich das nicht leisten.
Im Vergleich zu anderen Ländern ist das staatliche Unterstützungsprogramm der Briten in Höhe von fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes bescheiden. Deutschland schnürte – ohne die Aktionen der Zentralbanken berücksichtigt – Hilfspakete in Höhe von 10,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, folgt man einer Berechnung des Wirtschaftswissenschaftlers Ceyhun Elgin der Columbia University. Aber das Vereinigte Königreich ist ohnehin schon stark verschuldet und kann daher die gewaltige Belastung des Staatshaushaltes nur schwer stemmen. Die Staatsverschuldung wird nach Angaben der OECD in diesem Jahr von 85,4 auf 97,9 Prozent des Bruttoinlandsproduktes steigen, in Deutschland hingegen nur von 59,7 auf 74,7 Prozent. Bei einer zweiten Infektionswelle im Winter sähe es noch schlechter aus. Der Druck auf Johnson und seinen Schatzkanzler Rishi Sunak, die Verschuldung nicht weiter steigen zu lassen und die Wirtschaft wieder hochzufahren, ist daher groß.
Johnson weiß, dass er von einer anderen Wählerschicht abhängig ist als seine Vorgänger. Seine Wähler kamen bei seiner Parlamentswahl im Dezember 2019 zum Großteil auch aus einkommensschwächeren Schichten, aus den ärmeren Städten Nordenglands, früher Hochburgen der Labour-Partei. Gerade dieser Teil der Bevölkerung ist hart getroffen, nicht nur von Covid-19, sondern auch von einem staatlichen Gesundheitssystem, das zwar mit der Pandemie gerade so noch fertig wird, aber ansonsten auf Sparflamme fährt. Die Zahl der Personen, die in England auf Behandlung warten, wird Ende des Jahres voraussichtlich auf zehn Millionen steigen. Dieser Teil der Bevölkerung hängt auch von einem staatlichen Schulsystem ab, das es vor September nicht schafft, vollumfassenden Unterricht zu erteilen. Mehr als zwei Millionen Personen hatten sich im April bereits arbeitslos gemeldet. Die Nachfrage nach Essen bei den "Foodbanks" ist so hoch wie nie. Da muss die Regierung diese Menschen finanziell unterstützen, auch, um dem neuen Labour-Vorsitzenden Keir Starmer keine Angriffsfläche zu geben.
So schnürte Schatzkanzler Rishi Sunak im Handumdrehen mehrere Sozialpakete, die man einer konservativen Regierung nie zugetraut hätte: Nach einer Aufstellung des Office for Budget Responsability (OBR) zahlt der Staat netto 54 Milliarden Pfund für 80 Prozent der Löhne von Personal, das Unternehmen seit Anfang März freigestellt haben. Ab 1. Juli dürfen sie dieses Personal wieder in Form von Kurzarbeit beschäftigen. Der Staat stockt den Lohn entsprechend auf. Das Programm läuft dann langsam Ende Oktober aus.
"Die Widerstandskraft ist ziemlich am Ende"
Die Unternehmen nutzen das Programm für insgesamt knapp neun Millionen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, vor allem für Personal mit niedrigen Löhnen. Die Billigarbeitsplätze gibt es vor allem in der Gastronomie, im Hotelgewerbe und im Einzelhandel, wo jetzt schon klar ist, dass viele Restaurants, Shops und Hotels komplett aufgeben müssen. Fast jeden Tag gibt es Meldungen von großen Unternehmen im Einzelhandel, dass Geschäfte endgültig geschlossen und Personal entlassen wird – wie Victoria's Secret, Laura Ashley, Cath Kidston, Monsoon Accessorize oder die Restaurant Group. Daher fürchtet die Regierung, dass auch zahlreiche Kurzarbeiter spätestens im Oktober entlassen werden und die Welle der Arbeitslosigkeit nur hinausgeschoben wurde.
Wohl auch deshalb zahlt der Staat die britische Sozialhilfe (Universal Credit) großzügiger aus als bisher. Für sie haben sich schlagartig 2,8 Millionen Briten angemeldet, insgesamt Kosten für den Staat von acht Milliarden Pfund. Die britische Regierung hat ihr Hilfsprogramm breit gestreut: Etwa drei Millionen Selbstständigen werden Zuschüsse von insgesamt 15 Milliarden Pfund gezahlt, um über die Runden zu kommen. Der Mittelstand erhält Zuschüsse von 15 Milliarden Pfund und Steuervergünstigungen von 13 Milliarden Pfund. Das sind nur die größten Posten. Das Regierungsprogramm beläuft sich insgesamt auf 132,5 Milliarden Pfund, eine Summe, die bei der Haushaltsvorlage der Regierung im März noch unvorstellbar gewesen wäre.
Die Hoffnung, dass sich die Wirtschaft nach der Pandemie im Handumdrehen wieder erholen würde, ist schon lange aufgegeben worden. Die Wirtschaft wird im Vereinigten Königreich in diesem Jahr nach Angaben der OECD wegen der Pandemie um 11,5 Prozent – und bei einer zweiten Infektionswelle um 14 Prozent – schrumpfen. Deutschland kommt da mit einem Minus von 6,6 Prozent – oder 8,6 Prozent – noch relativ glimpflich davon.
Das aber erklärt, warum Premierminister Boris Johnson zu Beginn der Pandemie zögerte, Großbritannien in den Lockdown zu schicken und warum er jetzt die Zügel lockert, obwohl das Land mit der Bekämpfung von Covid-19 hinterherklappert. "Hätte Großbritannien die Ausgangssperre nur eine Woche früher verkündet, hätte Großbritannien nahezu die Hälfte der Toten vermeiden können", warnte dieser Tage Professor Neil Ferguson, ehemaliges Mitglied des Krisenstabes der Regierung (SAGE). Aber damals – wie jetzt – lag das Augenmerk der Regierung darauf, den wirtschaftlichen Schaden zu begrenzen. Johnson weiß genau, dass die Erholung der britischen Wirtschaft nach der jetzigen Infektionswelle holprig verlaufen wird. Am 1. Januar – möglicherweise mitten in der zweiten Corona-Welle – kommen noch die ökonomischen Folgen des Brexits hinzu. Dann ist die schonende Übergangsphase vorbei, gehen Großbritannien und der EU-Binnenmarkt wirtschaftlich auf Distanz.
Die britische Regierung hatte sich gedacht, dass die Unternehmen dieses Risiko hätten eingehen können. Sie hatten sich ja bereits im Jahr 2019 aus Sorge vor einem No-Deal-Brexit vorbereitet, hatten die Lagervorräte aufgestockt, ihre Lieferketten umgestellt. Dann aber kam Covid-19. "Jeder Penny, den Unternehmen gespart haben, alle Lagervorräte, die aufgebaut wurden, sind wegen Corona aufgebraucht", warnt die Vorsitzende des britischen Industrieverbandes CBI Carolyn Fairbairn. "Die Widerstandskraft der britischen Unternehmen ist ziemlich am Ende." Die des britischen Staates eigentlich auch.