Wenn die Lügenpresse das als VT abtut, ist das doch schon ein erster Beweis für die Richtigkeit!
Natürlich muß alles als Satire getarnt werden, damit das System nicht aufwacht ...
Spoiler
Ja, erzählen kann McEwan. Doch dann ruft die Pflicht, also die Satire.
McEwan muss wirklich verzweifelt sein über das, was in seinem England passiert, und es ist diese Verzweiflung, gepaart mit Fantasie und einer grossen Portion Schreibroutine, die aus zwei Schnapsideen doch noch eine gut lesbare Novelle mit allerlei amüsanten Details gemacht hat, auch wenn sie ihr Ziel verfehlt.
Es beginnt ganz wie bei Kafka, nur andersrum: Aus Gregor Samsa wird Jim Sams, aus einer Kakerlake der englische Premierminister, erwachend in Downing Street Nr. 10 und sich seiner neuen Gestalt und Aufgabe allmählich bewusst werdend. Die ersten Seiten sind besonders hübsch. «Ein Organ, ein glitschiger Fleischlappen, lag plump und feucht in seinem Mund», und er begreift, «dass sein verletzliches Fleisch in einer grotesken Umkehrung aussen am Skelett lag».
Die köstliche Ausdünstung eines Pferdedunghaufens
Kurz erinnert er sich noch daran, wie er, noch als Kakerlake, hierher gekommen ist – hergetippelt von seinem Schlupfwinkel im Palace of Westminster, vorbei an einem köstlichen Pferdedunghaufen, dessen Ausdünstung er sich connaisseurhaft vergegenwärtigt – «unverkennbar das nussige Aroma mit einem Hauch Diesel, einer Spur Bananenschale und Sattelseife. Die Horse Guards!»
Ja, erzählen kann McEwan. Doch dann ruft die Pflicht, also die Satire, und der von einer invasiven Kakerlake gesteuerte Premierminister, bisher als gutmütig und zögerlich bekannt, nimmt die Zügel in die Hand und peitscht sein Kabinett, das Parlament und schliesslich das ganze Land zum Brexit, pardon: zum Reversal.
Das Volk hat in einem Referendum bereits entsprechend abgestimmt, der widerspenstige Aussenminister wird mit gefakten #MeToo-Vorwürfen aus dem Verkehr gezogen. Den entsprechenden Brief der vermeintlich Belästigten schreibt Jim Sams selbst: «Nichts war so befreiend wie ein engmaschiges Lügennetz. Deshalb also wurden Menschen Schriftsteller!»
Als der Brief in der Zeitung erscheint, überzeugt er selbst den Fälscher, dass die Fälschung Wahrheit ist: «So etwas hätte passieren können, ja, es hatte einfach passieren müssen. Es war passiert! Er merkte, wie er sich in Janes Namen empörte. Der Aussenminister war wirklich ein erbärmlicher Schuft.»
Auch Trump darf in einer Brexit-Satire nicht fehlen
Weil es schwierig ist, andere Länder vom Reversalismus zu überzeugen, propagieren die von der extremistischen Konkurrenz «Reversalism in one country», abgekürzt Roc, und singen dazu den Song «Roc around the clock». Ja, auch solche Kalauer verschmäht McEwan nicht. Natürlich darf auch Trump in einer Brexit-Satire nicht fehlen, er heisst hier Archie Tupper, findet den Reversalismus «gut» und Jim Sams «toll» und twittert natürlich, was der Daumen hergibt.
Die EU ist entsetzt, man lädt zu Beratungen gar einen Physiker vom Cern ein, der erklären soll, ob die Umkehrung der Geldflüsse nicht dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik widerspricht (dass die Zeit nur in eine Richtung verläuft).
Den Irrsinn des Brexit mit einer tierischen Verschwörungstheorie übergipfelt: Ian McEwan. Foto: Getty Images
Alles recht lustig das, aber angesichts der Lage nicht von wirklich ätzendem Witz. Klar, um den Irrsinn des Brexit satirisch zu toppen, ist die Absurdität des Reversalismus ein brillanter Fund. Aber der Autor bleibt dann doch zu lange zu nahe im politischen Unterholz hängen, sodass es selbst auf der eher kurzen Strecke zu Längen kommt.
Immerhin gewinnt er der kakerlakischen Spur doch ab und zu ein kleines Glanzlicht ab. Seine Minister, erkennt Jim Sams beim Blick in ihre Augen, sind allesamt verwandelte Artgenossen, ausser dem Aussenminister, bei dem er nur auf die «blinde, unnachgiebige Mauer einer menschlichen Retina» stösst. Und angesichts des Gebarens von Trump/Tupper fragt sich der Premier, ob der nicht auch «einer von uns» ist.
Die Armutsstrategie der Kakerlaken
Wir – das ist eine 300 Millionen Jahre alte Spezies mit einem den Menschen weit überlegenen Verstand, weil er nämlich vom «kollektiven pheromonalen Unterbewussten» zehren kann. Nachteil des Menschen: Seine Wünsche kollidieren mit seiner Intelligenz. Die Kakerlaken sind dagegen «aus einem Guss» und verfolgen konsequent die Interessen ihrer Spezies. Und die lauten: Je schlechter es dem Menschen geht, desto besser den Schaben. Der Reversalismus wird England in Armut und Elend stürzen.
So entpuppt sich McEwans Polit-Satire letztlich als tierische Verschwörungsfantasie. Kafka und der existenzielle Ernst seiner «Verwandlung» sind so weit weg, dass man die Anleihe fast als Anmassung bezeichnen muss. Die unglücklichste Idee der Novelle ist aber wohl die Wahl der Kakerlake als Fabeltier. Denn die hat eine unselige Tradition. Sowjetische und chinesische Funktionäre pflegten ihre Gegner und Opfer als Kakerlaken zu bezeichnen, und die Assoziation «die muss man zerquetschen» liegt heute noch nicht fern.
Sein Ziel verfehlt hat McEwan schliesslich, weil sich der Brexit-Irrsinn zwar satirisch übergipfeln lässt, aber sich mit Sicherheit kein einziger Brexiteer auf dem Umweg über den Reversalismus eines Besseren belehren lässt. Schon gar nicht durch die Erklärung, ihre Hirne seien von Kakerlaken besetzt worden. So legt man dieses kleine Werk eines grossen Autors halb belustigt, halb befremdet zur Seite.
Der Brexit in der Kunst
Das Seilziehen um den Austritt Grossbritanniens aus der EU scheint immerhin die Künstler zu inspirieren. Neben Ian McEwan hat der britische Autor John Lanchester den Brexit zum spekulativen Roman «Die Mauer» verarbeitet: Grossbritannien ist nach dem Austritt von einer Mauer umgeben, die gegen Einwanderer und den steigenden Meeresspiegel schützen soll. Banksy malte «Devolved Parliament»; das Gemälde zeigt die Abgeordneten des Unterhauses als Schimpansen und wurde für rund 12,5 Millionen Franken versteigert. Auch ein BBC-Fernsehdrama gibt es. In «Brexit: The Uncivil War» spielt Benedict Cumberbatch den Strategen der Leave-Kampagne, Dominic Cummings. (blu)