Die machen immer einen Riesenwirbel um das Tillessen-Urteil des Tribunal Général. Dabei steht natürlich nichts von dem im Urteil, was sie da hineinlesen. Zugegeben, die Lektüre ist ein wenig schwierig, aber da müssen die Jungs nun mal durch. (Vielleicht lernen sie dann auch mal, wie man Général schreibt.)
Das Urteil des Tribunal enthält mehrere Irrtümer. Zunächst wird behauptet, dass die Regierung Hitler niemals das Vertrauen des Reichstags erhalten habe. Aber nach der Weimarer Verfassung brauchte eine Regierung keine förmliche Vertrauensabstimmung zu gewinnen. Wenn der Reichspräsident sie ernannt hatte, dann durfte sie regieren. Ein Misstrauensantrag war natürlich jederzeit möglich.
Ob der Reichstag ab dem März 1933 verfassungsgemäß zusammengesetzt war, ist völlig irrelevant. Es geht im Urteil um eine Verordnung des Reichspräsidenten. Dass der verfassungsgemäß ins Amt gelangt war, bezweifelte keiner. Er durfte auch Notverordnungen erlassen (Art. 48 WRV). Welcher Notstand mit der Amnestieverordnung beseitigt werden sollte, ist reichlich unklar. Und dass der Reichspräsident in der Ära der Präsidialkabinette neben dem Reichstag zum Parallel-Gesetzgeber wurde, war sicher auch nicht im Sinne der Verfassung. Aber deswegen wurde die Gültigkeit seiner Verordnungen nicht angezweifelt. Es wird also im Urteil sehr wortreich an der Sache vorbeiargumentiert.
Am Ende wird die Amnestieverordnung für rechtswidrig und unwirksam erklärt und die Sache zur erneuten Verhandlung an ein anderes Gericht verwiesen. Aber dass alle Gesetze und Verordnungen aus der Nazizeit unwirksal gewesen sein sollen, das steht einfach nirgends im Urteil drin. Die Alliierten haben ja bei der alltäglichen Verwaltung Deutschlands selbst reichlich Gebrauch von den alten Reichsgesetzen gemacht, von denen eine ganze Reihe erst nach 1933 entstanden waren (Straßenverkehrsordnung, Energiewirtschaftsgesetz, ...).
Diesen Ausführungen, die sachlich mit dem entsprechenden Abschnitt in "Vorwärts in die Vergangenheit" (Abschnitt 12.3.1) übereinstimmen, kann nicht in allen Punkten zugestimmt werden. Völlig richtig ist aber der erste Absatz. Art. 54 WRV ist hier nicht einschlägig, da eine Vertrauensabstimmung über den Reichskanzler nicht nötig / vorgesehen war. Im Übrigen zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass die Gültigkeit der Verordnung nach Maßgabe von Art. 48 Abs. 2 WRV zu verneinen ist und das Tribunal sich durchaus mit der Gesamtheit von NS-Recht beschäftigt hat. im Einzelnen:
1. Durch Urteil vom 29. November 1946 ist seitens eines deutschen Gerichts, des Landgerichts Offenburg, ein Verfahren gegen H. Tillessen wegen der Ermordung von M. Erzberger eingestellt worden. An der Täterschaft von Tillessen bestand zwar kein Zweifel, das LG Offenburg meinte aber, dieser Fall werde von der Amnestieverordnung vom 21. März 1933 (RGBl. S. 134) erfasst. Die Sache wurde sodann dem (französischen) Tribunal Général in Rastatt vorgelegt. Dabei wurde ausdrücklich beantragt, „dass das zu erlassende Urteil für alle deutschen Gerichts- und Verwaltungsbehörden verbindliche Kraft habe, ... was die tatsächlichen und rechtlichen Entscheidungsgrundsätze anbelangt, über die das Urteil zu befinden haben wird" (Journal Officiel du Commandement en Chef francais 1946, S. 626, vgl. auch ebd., S. 633).
2. Das Verfahren gegen Tillessen war bereits 1933 unter Berufung auf die Amnestieverordnung eingestellt worden. Tillessen lebte daher bis Kriegsende unbehelligt in Deutschland. 1945 wurde er erneut angeklagt. Schon die Verfahrenseröffnung wurde von der Strafkammer aber abgelehnt. Nachdem die nächste Instanz - das OLG - diese erzwungen hatte, erfolgte sodann die (erneute) Einstellung des Verfahrens. Diese setzte zweierlei voraus: Zum einen musste die Amnestieverordnung diesen Fall erfassen, zum anderen musste die Amnestieverordnung gültig sein.
a) Die Amnestieverordnung gewährte Straffreiheit für Straftaten, „die im Kampfe für die nationale Erhebung des deutschen Volkes, zu ihrer Vorbereitung oder im Kampfe für die deutsche Scholle begangen sind“. Bei enger Auslegung ist daher schon zweifelhaft, ob die angeklagte Tat von der Amnestieverordnung überhaupt erfasst wird, da Tillessen zur Zeit der Ermordung von Erzberger (1921) zwar mit rechtsgerichteten und völkischen Kreisen in Verbindung stand, aber offenbar keine (engere) Verbindung zur NSDAP (oder anderen NS-Organisationen) hatte und die Tat daher wohl auch nicht dem Zweck diente, die „nationale Erhebung“ zu befördern; es war wohl eher ein "Racheakt". Das Landgericht ließ gleichwohl ausreichen, dass die Tat der „nationalen Erhebung“ förderlich gewesen sei. Wenn man dies so sieht, ergibt sich allerdings die Konsequenz, dass es sich bei der Amnestie um einen Vorgang handelt, dem es nach dem SHAEF-Gesetz Nummer 1 zur Aufhebung nationalsozialistischen Rechts an der (weiteren) Wirksamkeit fehlen würde.
b) Die vorgelagerte Frage ist indes, ob die Amnestieverordnung überhaupt jemals in Kraft getreten ist.
aa) Das hat zB des Amtsgericht Heidelberg in einem Beschuss vom 18. August 1945 (!) mit dem ebenso schlichten wie zutreffenden Hinweis verneint, dass Reichsamnestien nach Art. 49 WRV eines Gesetzes bedürfen und deshalb nicht als Verordnung erlassen werden konnten. Im Grunde wäre die Falllösung daher ganz einfach gewesen: Die Amnestieverordnung ist nie wirksam geworden, ihr Anwendungsbereich konnte daher auch nicht auf Tillessen durch eine Einzelfallentscheidung ausgedehnt werden.
bb) Nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 (KRG 10) vom 21. Dezember 1945 steht eine vom Nazi-Regime gewährte Immunität, Begnadigung oder Amnestie der Aburteilung oder Bestrafung einer Tat nicht im Wege. Es liegt im Grunde auf der Hand, dass diese Regelung auch die Amnestieverordnung erfasst.
cc) Die dritte Frage betrifft die hier entscheidende Problematik: Ist die Amnestieverordnung auch im Übrigen verfassungsmäßig zustande gekommen? Das Landgericht hatte sich dieser Frage entzogen, indem es meinte, zu einer solchen Prüfung gar nicht berechtigt zu sein. Das spricht für sich, denn das Ergebnis ist eindeutig: In Zusammenhang mit dem Verfahren vor dem Tribunal Général sind Rechtsgutachten mehrerer deutscher Rechtsprofessoren (einschließlich des Altnazis, CSU-Politikers und späteren Kolumnisten der von G. Frey herausgegeben „National-Zeitung“ Theodor Maunz) eingeholt worden, die übereinstimmend zu dem Ergebnis kamen, dass ein derartiges Prüfungsrecht besteht und die Amnestieverordnung unwirksam ist. Insbesondere der Tübinger Hochschullehrer Eduard Kern hat hervorgehoben, dass das Recht zum Erlass von Notverordnungen aus Art. 48 Abs. 2 WRV („Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Artikeln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen“) eine Amnestieverordnung gar nicht trägt, weil derartige Maßnahmen vorübergehender Natur sein müssen (vgl. RGZ 66, 256); auch eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch eine Nichtamnestie von Straftaten lässt sich schwerlich bejahen. Im Übrigen setzen Amnestien nach Art. 49 WRV - wie erwähnt - ein eigenes Reichsgesetz voraus. Auch aus dem sog. „Ermächtigungsgesetz“ lässt sich in diesem Zusammenhang nichts ableiten, weil es erst einige Tage nach der Amnestieverordnung erlassen wurde.
3. Auf dieser Grundlage entschied das Tribunal sich zu Recht nicht nur für eine inhaltliche, sondern auch eine formelle Ungültigkeit der Amnestieverordnung. Bejaht wird ein Verstoß gegen das SHAEF-Gesetz Nr. 1 durch die angegriffene Entscheidung, soweit die Ermordung von Erzberger nach der NS-Rechtspraxis unter die Amnestieverordnung fiel. Ferner bejaht wird die in der Tat völlig unproblematische Einschlägigkeit des KRG 10. Sodann wendet sich das Tribunal dem deutschen Recht zu und stellt fest, dass die Amnestieverordnung unter Verletzung von Art. 48, 49 WRV sowie der Vorschrift über das Gesetzgebungsverfahren in Art. 68 WRV erlassen wurde. Schließlich befasst sich das Tribunal noch mit der Ansicht des Landgerichts, dass eine Illegalität der "Hitlerregierung" frühestens ab Sommer 1933 angenommen werden könne. Das Landgericht habe zu Unrecht behauptet, „daß die Hitlerregierung bis zum 14. Juli 1933 verfassungsmäßig war“. Vielmehr sei die Reichstagswahl unter Umständen zustande gekommen, die eine „offenkundige, von der Regierung begangene Gesetzwidrigkeit und Gewaltanwendung darstellen“, so dass das Parlament eine gesetzwidrige Zusammensetzung hatte.
Das vorangegangene Urteil wurde daher aus den genannten Gründen aufgehoben und ausgesprochen, dass die rechtlichen und tatsächlichen Entscheidungsgründe für alle deutschen Gerichts- und Verwaltungsinstanzen binden seien (ebd., S. 637).
5. Das Gericht befasst sich daher in der Tat mit formellen Aspekten und stellt zunächst eine formelle Verfassungswidrigkeit der Amnestieverordnung sowie außerdem eine verfassungswidrige Zusammensetzung des Reichstages fest, ohne dass es auf letzteren Gesichtspunkt überhaupt ankam, weil die Amnestieverordnung gerade vom Reichspräsidenten (unzulässigerweise) als Notverordnung erlassen worden war. Die in Rede stehenden Ausführungen beziehen sich vielmehr auf das “Ermächtigungsgesetz“, weil aufgrund des Ermächtigungsgesetzes später der Anwendungsbereich der Amnestieverordnung noch um hier nicht interessierende Fallgestaltungen erweitert wurde; erkennbar sollte der Annahme des Landgerichts von der Legalität der „Hitlerregierung“ entgegengetreten werden. Die damit zum Ausdruck gebrachte Illegalität des Ermächtigungsgesetzes entspricht der heutigen Deutung durch die Staatsrechtslehre, der zufolge die „Machtergreifung“ auch nach den Regeln der WRV als „scheinlegal“ anzusehen ist. Daraus lässt sich in der Tat der Schluss ziehen, dass wirksame Gesetzgebung durch den Reichstag oder die Reichsregierung danach im Grunde nicht mehr möglich war. Auch das Ermächtigungsgesetz verstieß gegen die WRV (BVerfGE 6, 132, 198 f.).
6. Bei einer entsprechend weiten Auslegung des Tillessen-Urteils ergibt sich danach, dass das Gericht die Ungültigkeit der ab der Reichstagswahl Anfang 1933 erlassenen Gesetze und Verordnungen postulieren und diese Aussage mit Verbindlichkeit für alle deutschen Gerichts- und Verwaltungsinstanzen ausstatten wollte. Die Verbindlichkeit der Entscheidung für alle deutschen Gerichte und Verwaltungsbehörden sollte gestützt werden auf das SHAEF-Gesetz Nr. 2: Danach waren die Militärgerichte befugt, „im Verwaltungswege alle Entscheidungen deutscher Gerichte ... zu überprüfen“ und ferner „jede Feststellung eines solchen Gerichts, jede Entscheidung über das Strafmaß oder andere gerichtliche Erkenntnisse für nichtig zu erklären, aufzuheben, umzuwandeln oder sonstwie abzuändern“. Die Entscheidung sollte daher nach Auffassung der Ankläger die „Kraft einer Verordnung“ haben (ebd, S. 633).
Soweit danach eine solche "Verordnung" vom Tribunal erlassen worden sein sollte, kommt es aber schon nicht mehr darauf an, ob die gerichtliche Entscheidung - ob nun Verordnung oder nicht - "Irrtümer" enthält. Angesehen davon, dass das eher nicht der Fall ist (Art. 54 WRV wird im Urteil selbst gar nicht erwähnt), wäre die Entscheidung rechtskräftig und verbindlich geworden. Allerdings ist das aus mehreren Gründen nicht sensationell:
a) Die Entscheidung hätte rechtskräftig und allgemeinverbindlich festgestellt, dass NS-Recht tatsächlich NS-Unrecht und deshalb unwirksam ist. So what?
b) Allerdings ist durchaus fraglich, ob das Besatzungsrecht tatsächlich ermöglichte, gerichtliche Entscheidungen mit einer über den Einzelfall hinausgehenden Verbindlichkeit auszustatten; die insoweit genannten Normen geben das im Grunde nicht her, so dass es für diese Rechtsfolge an einer Rechtsgrundlage fehlt.
c) Wie in "Vorwärts in die Vergangenheit" (ebd.) zutreffend festgestellt wird, würde sich eine solche Verbindlichkeit, wenn es sie denn gäbe, nur auf die französische Besatzungszone erstrecken können.
d) Im Übrigen ist das Schicksal von NS-Recht 1949 in Art. 123 GG geregelt worden. Davon unabhängig hätte ein "Verordnung" des Tribunals das Schicksal allen Besatzungsrechts erlitten. Sie würde von den einschlägigen Gesetzen zur Aufhebung von Besatzungsrecht erfasst.