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Torsten Voß will keine Zeit verlieren, so viel ist klar. Er stützt beide Hände auf dem Pult ab und legt sofort los – so, als ahnte er, dass das hier sonst ausufern könnte. Der Leiter des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz ist gekommen, um über die "Sozialisation von Extremisten" zu referieren.
Der Hörsaal im ersten Stock der Hochschule für Angewandte Wissenschaften ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Knapp 100 Studierende besuchen für gewöhnlich die Vorlesungsreihe im Studienfach "Soziale Arbeit". Diesmal aber sind an die 500 Leute einem Protestaufruf des Asta und des Fachschaftsrates gefolgt: Der Auftritt von Voß an der Hochschule sei "problematisch", ein "kritischer Besuch" der Veranstaltung daher angebracht, heißt es darin. Auch die Antifa hatte für den Protest geworben.
Dass die Stimmung nicht gerade herzlich sein würde, wenn der Leiter des Verfassungsschutzes und Studierende einer eher linken Fakultät aufeinandertreffen, war zu erwarten. Zumal die Begegnung in eine aufgeheizte Zeit fällt. Aus Sicht der Studierenden ist der Behörde einiges vorzuwerfen: Sie sei auf dem "rechten Auge blind", sehe bei rechtsextremen Bedrohungslagen also weg und verorte Gefahren generell eher links. Gerade der Hamburger Landesbehörde hafteten "nicht wenige Skandale" an, auf einem Flugblatt werden sie aufgelistet: Linke Journalisten seien ausspioniert, Handygespräche illegal abgehört, verdeckte Ermittler in das Kulturzentrum Rote Flora eingeschleust worden.
Anfangs wird es laut
Voß wiederum hatte im Interview mit der ZEIT vor einer neuen Militanz des Linksextremismus gewarnt, dieser stehe "kurz vor der Schwelle zum Linksterrorismus". Mitte Dezember gab es einen Anschlag auf Hamburgs Innensenator Andy Grote, zu dem sich später mutmaßlich Linksextreme auf dem Nachrichtenportal Indymedia bekannten. In ihrem Bekennerschreiben nahmen sie Bezug auf die "drei von der Parkbank": zwei Männer und eine Frau, die Brandanschläge auf eine Senatorin und zwei Immobilienfirmen geplant haben sollen. Vor wenigen Tagen begann der Prozess gegen sie, begleitet von Protesten und unter hohen Sicherheitsvorkehrungen.
Und dann wäre da noch die Debatte um Auftritte umstrittener Referenten an Hochschulen, nachdem eine Vorlesung des AfD-Mitgründers Bernd Lucke in Tumulten untergegangen war. Nein, es ist nicht gerade die Zeit für einen netten Plausch.
Anfangs ist es laut. Hinten an der Wand stellen sich etwa 30 Studierende auf und entrollen ein Transparent, sie rufen "Hau ab, hau ab", viele der Sitzenden stimmen mit ein. Sprechchöre, Pfiffe, rhythmisches Klatschen. Ein paar Minuten lang geht das so. Dann, wie abgesprochen, verstummen die Protestierenden und hocken sich auf den Boden. Torsten Voß startet nun seine Präsentation, er spricht mit fester Stimme, zeigt keine Regung. Sonderlich angespannt wirkt er nicht. Ganz störungsfrei verläuft die Vorlesung dann allerdings auch nicht.
Die Studierenden hinterfragen jede These
Voß beginnt damit, den Unterschied zwischen Radikalismus und Extremismus zu erklären (in kurz: Extremisten zweifeln den demokratischen Verfassungsstaat und seine Prinzipien an, Radikale eher nicht, meint Voß). Gerade junge Extremisten hätten oftmals krasse Brüche in ihrem Leben erlebt, die Arbeit oder den Ausbildungsplatz verloren. Lautes Gelächter im Saal, und wieder Pfiffe, Buhrufe.
"Nach linken Anschlägen kursieren auf Indymedia oft Bekennerschreiben", sagt Voß.
"Ja, da kann man echt interessante Sachen lesen. Zum Beispiel, dass der Verfassungsschutz NSU-Akten schreddert", ruft ein Student.
Voß überhört den Einwurf und fährt fort. "Kommen wir jetzt also zum Linksextremismus", sagt er. Jubel brandet auf. "Ach, wusste ich doch, dass ich hier Beifall bekomme."
"Warnt ihr denn auch vor euch selbst?"
Eine Grafik an der Wand zeigt an, wie die Zahl gewaltbereiter Linksextremer laut Verfassungsschutz seit dem Jahr 2010 gewachsen ist: von 570 auf 940 Menschen, bundesweit. Der halbe Saal applaudiert, das Gelächter lässt ahnen, dass die meisten Zuhörer die Zahlen schlicht nicht ernst nehmen. Voß blickt starr geradeaus. Von nun an wird der Behördenleiter immer wieder unterbrochen, sichtbar aufgebrachte junge Leute schleudern ihm ihre Kritik entgegen. Von den Deutungsmustern der Behörde halten viele offenkundig wenig, sie hinterfragen jede These. Voß solle einzelne Begriffe wie "Gewalt" bitte genau definieren, die Diskussion wird zur Grundsatzdebatte.
"Wie sehen Sie die Rolle des Westens bei der Entstehung des 'Islamischen Staates'?", fragt eine Studentin.
"Ich weiß schon, worauf Sie hinauswollen, ich bin da ganz bei Ihnen. Aber wir als Landesbehörde befassen uns mit den Folgen des IS hier vor Ort, nicht mit den Ursachen", sagt Voß.
Immer wieder wird es laut, doch ein Tumult deutet sich nicht an. Die meisten der hier versammelten Studierenden wollen diskutieren, reihum stellen sie ihre Fragen. Alle verharren auf ihren Plätzen, in den vorderen Reihen hören viele konzentriert zu, schreiben mit. Und immer wieder ergeben sich kurze Dialoge, bei denen beide Seiten nicht zueinander finden.
Voß spricht über die Aufgabenbereiche seiner Behörde. "Wir warnen davor, dass auch in Deutschland junge Menschen in die Fänge von Islamisten geraten können", sagt er.
"Warnt ihr denn auch vor euch selbst?", ruft ein Student.
"Wir als Verfassungsschutz haben die Möglichkeit, sicherheitsrelevante Infos herauszugeben, zum Beispiel an Behörden …", sagt Voß.
"… oder an Nazis …", raunt eine Stimme.
"Ist man schon Extremist, wenn man sich für wichtige Themen einsetzt?"
Voß geht auf jede Frage ein, einige will er allerdings partout nicht beantworten. "Das ist eine politisch-ideologische Frage, das fällt nicht in unsere Zuständigkeit", diesen Satz sagt er heute noch sehr oft. Er erklärt am Beispiel Hamburgs, welche verschiedenen Gruppierungen es in der linken wie rechten Szene gebe. Beschreibt, wie Salafisten via Facebook rekrutiert werden. Die flapsigen Bemerkungen, die er dabei gelegentlich einstreut, kommen nicht gut an. Zumal nicht immer so ganz klar wird, wie ernst diese gemeint sind.
"Natürlich gibt es ganz unterschiedliche Gruppierungen in der linken Szene. Nehmen wir zum Beispiel die Autonomen: Die werden geboren und sind schon dagegen."
Als es dann noch einmal um Rechtsextreme gehen soll, ruft ein Student: "Wie viele von denen arbeiten jetzt eigentlich für euch?"
"Darf ich leider nicht sagen", sagt Voß – und in diesem Moment können sich kurioserweise wenige ein Schmunzeln verkneifen, weder der Mann von der Behörde noch die Studierenden.
"Es geht nicht um Themen, sondern um die Mittel"
Emotional wird es dann, als Voß das Stichwort "Entgrenzung" aufgreift. Es ist ein Thema, über das er derzeit oft spricht: Links- wie Rechtsextreme würden populäre Themen aufgreifen, um so Anschluss an die Mitte der Gesellschaft zu finden. Laut Voß sei es "den Linksextremen in Hamburg ja zum Glück nicht gelungen, die Fridays-for-Future-Bewegung zu unterwandern" – was der Saal wiederum mit Gelächter quittiert.
"Ist man denn schon Extremist, wenn man sich für wichtige Themen, für eine sozialere Welt einsetzt? Wie können Sie so etwas nur sagen?", fragt eine junge Frau.
"Nein, es geht nicht um die Themen. Es geht darum, mit wem und mit welchen Mitteln die Themen umgesetzt werden", sagt Voß.
Offenbar keine zufriedenstellende Antwort. Viele schütteln den Kopf, "Nazi", grummelt ein junger Mann. Ganz zum Schluss, nach der Diskussion, tritt noch einmal Jens Weidner ans Pult. Der Professor für Kriminologie hatte Voß als Gastredner an die Uni geladen. An die Studierenden gerichtet sagt er: "Vielen Dank dafür, dass Sie diese Veranstaltung nicht zerlegt haben – obwohl Sie ja wirklich jede Möglichkeit dazu gehabt hätten."
Er habe sich vorher mit dem Asta intensiv darüber ausgetauscht, wie die Vorlesung und der Protest ablaufen könne, sagt Weidner. Die Studierenden hätten ihm garantiert, den Vortrag des Gastredners nicht zu verhindern, Sicherheitsbedenken habe es daher nicht gegeben. Die meisten Fragen der Studierenden in der Debatte seien "gut und naheliegend" gewesen.
Torsten Voß macht nach dem Vortrag noch immer einen entspannten, wenn auch etwas müden Eindruck. "Ich bin zufrieden", sagt er.