In einem "Nanny-Staat" die "grösstmögliche Freiheit" anzustreben, kann ich sogar noch verstehen.
Die Skandinavier sind halt so. Auch, wenn es überhaupt nichts bringt, wenn die Schweden z.B. Alkoholkonsum durch Steuern massiv verteuern, so daß Alk unattraktiv wird.
Auch deren Besteuerung des Einkommens von bis zu 125% hat sich ja nicht so lange gehalten
Auch Norwegen wird sich die Etablierung einer eigenen Währung wohl eher nicht gefallen lassen ...
Spoiler
Rudolf Hermann
19.7.2019, 10:00 Uhr
«Sie wissen aber, dass Sie das hier drinnen trinken müssen?», sagt die junge Frau hinter der Theke des Bistrowagens der Norwegischen Bahnen freundlich, aber bestimmt zum Fahrgast. Dieser war gerade im Begriff, mit einer leichten Mahlzeit und einer Dose Bier an seinen Sitzplatz im Wagen nebenan zu gehen. «Unsere Ausschanklizenz gilt nur für das Bistroabteil.» Mit dem etwas ungläubigen Blick des sanft zurechtgewiesenen Ausländers konfrontiert, liefert sie gleich die Erklärung nach: Das Trinken alkoholischer Getränke sei im öffentlichen Raum in Norwegen nicht erlaubt, und ein Sitzplatz im Zug gelte als öffentlicher Raum.
Der nordische Nanny-Staat macht sich wieder einmal bemerkbar. Ihm vertrauen die Bürger vieles an – nicht zuletzt die Aufgabe, sie beim Alkoholkonsum vor sich selber zu schützen.
Ab in die Freiheit!
Am Ziel der Reise, in einem Vorort der Provinzstadt Kristiansand ganz im Süden des Landes, erwartet Kenneth Tolas seinen Besucher vor der Türe seines Heims: eines Wohnmobils. Es ist eine vorübergehende Behausung für die Zeit, in der er sein typisch norwegisches Holzhäuschen renoviert. Nicht, dass der Mittdreissiger dann dort einziehen wird, wenn es so weit ist; das Häuschen ist für die Vermietung über Airbnb gedacht. Wohnen will Tolas dereinst ein paar Dutzend Kilometer entfernt, auf dem Areal des ehemaligen Bauernhofs Tjelland Gard. Dort nämlich soll Liberstad entstehen, Norwegens erste «private Stadt». Eine Stadt, deren Bewohner «wirklich frei sein» und nicht ständig an der Hand eines überfürsorglichen Staats geführt werden wollen.
Tolas gehörte zu den Ersten, die auf dem Areal ein Stück Land gekauft haben. In einem System, das ihm auf Schritt und Tritt vorschreibe, was er tun und vor allem nicht tun könne, wolle er nicht leben, sagt er. «Das nordische Wohlfahrtsmodell zwingt einen, so viel Steuern zu zahlen, dass einem kaum etwas übrig bleibt», sagt er. «Der Staat ist so ausufernd, dass man allen möglichen Menschen alle möglichen Leistungen mitfinanzieren muss.» Man könne nicht mitreden, wie dieses Geld ausgegeben werde. Profiteure seien staatsnahe Betriebe mit guten Kontakten in die Politik. Nach Liberstad will er ziehen, weil er «zu dieser seltsamen Art Mensch» gehöre, die für sich selber Verantwortung übernehmen wolle.
In Liberstad, hofft Kenneth Tolas, werde alles besser. Die «Privatstadt» wird genau so organisiert sein, wie seiner Meinung nach jeder Staat organisiert sein sollte: Die gemeinsamen Institutionen sollen Leben, Freiheit und Eigentum der Bewohner schützen, die für diesen Service eine jährliche Gebühr entrichten. Alles andere soll der Markt richten. Denn ein freier Markt, ist Tolas überzeugt, könne das Serviceangebot für die Bedürfnisse des täglichen Lebens viel günstiger erbringen als ein Staat, der diesen Markt verzerre.
Noch ist von Liberstad allerdings nicht viel mehr zu sehen als eine Lichtung mit ein paar Wirtschaftsgebäuden tief im südnorwegischen Wald, rund eine Autostunde nordwestlich von Kristiansand. Doch im Kopf von IT-Entwickler Sondre Bjellas, einem der Gründer des Projekts, hat die Stadt bereits Konturen angenommen. Eine Schule werde sie haben, erzählt er beim Gespräch in der hübschen historischen Innenstadt von Kristiansand, ein Gesundheitszentrum, eine Feuerwehr, einen Supermarkt, ein Altersheim und ein Badehaus – und nicht zuletzt mehrere Lokalitäten für Konzerte, im Endausbau vielleicht sogar eine Arena für 4000 Menschen. Eine eigene Währung, den City-Coin auf Blockchainbasis, hat sie sogar schon.
Bjellas klingt schwärmerisch. Und im Gegensatz zu Kenneth Tolas will er das Projekt auch nicht primär als Protest gegen den norwegischen Wohlfahrtsstaat verstanden wissen – dieser funktioniere ja eigentlich gut. Was ihm vielmehr vorschwebt, ist die Formierung einer Gemeinschaft, die zusammen dem Hamsterrad der gestressten Gesellschaft entflieht.
Aussteigen, aber anders
Man könnte es auch eine Aussteigervision nennen. «Stimmt», sagt Bjellas, «aber auf eine anarcho-kapitalistische Art.» Die Linksanarchisten der sechziger Jahre hätten nach dem Grundsatz gelebt, dass jeder leiste, was er könne, und jeder nehme, was er brauche. In Liberstad hingegen seien die Basisprinzipien Freiwilligkeit beim gesellschaftlichen Austausch und Freiheit in der Lebensgestaltung.
Die Idee einer «freien Stadt» treibt Sondre Bjellas schon seit Jahren um. Einst stand er kurz davor, nach Chile auszuwandern, wo ein solcher Ort im Aufbau war. Doch noch bevor er das Flugzeug besteigen konnte, brach das Projekt zusammen. «Wegen Narzissmus und Machtmissbrauchs», sagt er.
Damit müsste er eigentlich gewarnt sein. Doch er ist zuversichtlich, da sein eigenes Vorhaben schon ziemlich Zugkraft entwickelt hat. Alle der über hundert Parzellen von mindestens tausend Quadratmetern Grösse, die zum Kauf angeboten waren, sind bereits weg. Eine potenzielle Bevölkerung Gleichgesinnter hat Liberstad damit also schon.
Obwohl das Projekt interessant klingt, sind die Risiken unübersehbar. Bjellas weiss, dass ein einziger fauler Apfel in der Führung alles zugrunde richten kann. Ein anderer Konflikt liegt auf gesellschaftsphilosophischer Ebene: Wie lange verträgt sich der anarcho-egalitäre Ansatz mit dem Gedanken des freiwilligen Engagements für das gemeinsame Gute? Bjellas hält dieses für entscheidend.
Ein zweiter Konflikt ist praktischer Natur: Die «Stadtwerke», die die verschiedenen Dienstleistungen wie Schule, Gesundheitsversorgung oder Sicherheit bereitstellen sollen, sind monopolistisch organisiert, da die Nachfrage zu klein ist für mehrere konkurrierende Anbieter. Wo bleibt dann aber der freie Markt, der für Effizienz und gute Preise sorgen soll?
Abgesehen von diesen eher betriebstechnischen Problemen stellt sich zudem eine grundsätzliche Frage: Kann sich eine libertäre Parallelgesellschaft dem Staat überhaupt auf eine Art entziehen, wie sich das Kenneth Tolas, der neue Landbesitzer, von Liberstad erhofft?
Projektmitbegründer Sondre Bjellas holt weit aus, um mit einem «verbreiteten Missverständnis» aufzuräumen: Es gehe ja gar nicht darum, sich ausserhalb des norwegischen Rechts zu bewegen. «Als ich mich mit Anarchismus zu beschäftigen begann», sagt er, «tat ich das zwar sehr wohl aus Rebellion gegenüber dem Staat und seinem System.» Inzwischen interessiere ihn das aber nicht mehr. Er wolle einfach eine Welt schaffen, innerhalb deren grösstmögliche Freiheit bestehe.
Ohne Staat – geht das?
Bjellas schwebt vor, mit der politischen Gemeinde, auf deren Territorium Liberstad liegt und der man deshalb Steuern zahlen muss, eine Art Pauschalbesteuerung auszuhandeln. Der Deal soll reflektieren, was man alles an öffentlichen Dienstleistungen nicht beansprucht, weil man die Leistungen selber erbringt. Je mehr man selber mache, desto weniger Steuern wolle man einer Gemeinde abliefern, von der man ja eigentlich nichts wolle.
Lars Peder Nordbakken hat seine Zweifel, dass das Konzept funktioniert. Er arbeitet im fernen Oslo als Analytiker bei der liberal orientierten Denkfabrik Civita. Er sieht in den Visionären Trittbrettfahrer, die das staatliche Gemeinwesen ablehnen, von dem sie eigentlich profitieren. Deren Pläne seien nur möglich, wenn das Gemeinwesen gut funktioniere, sagt er. Gebe es intern Streit, klopfe man wohl recht schnell bei den staatlichen Gerichten an.
Als Liberaler stört sich Nordbakken jedoch nicht an einer geschlossenen gemeinschaftlichen Parallelstruktur, solange diese unter sich bleibe und sich gleichzeitig an die Regeln der «grösseren Gesellschaft» halte. Sei diese Bedingung erfüllt, könne ein Vorhaben wie Liberstad durchaus als Laboratorium für neue Organisationsformen einer lokalen Gemeinschaft fungieren. «Gelingt das Projekt, kann es eine Veränderung auch in der grösseren Gesellschaft bewirken.»
Für überzogen hält Nordbakken hingegen die Hoffnungen der Libertären, dass ein «völlig freier Markt» zur Selbstregulierung fähig ist. In der heutigen wirtschaftlich hochintegrierten Welt seien auch für einen freien Markt Institutionen und Standards notwendig. Spreche man aber von Institutionen, sei man wieder beim modernen Staat und der Demokratie angelangt. «Vielleicht sind libertäre Experimente einfach ein Ausdruck von Demokratie-Pessimismus.»
Sein Verdacht könnte zutreffen. «Gehen Sie wählen?», hatte im Verlauf des Gesprächs in Kristiansand der Liberstad-Initiator Sondre Bjellas sein Gegenüber gefragt und angefügt: «Ich sicher nicht. Da mache ich lieber etwas Sinnvolles. Zum Beispiel fischen.»