Von der Sache mit den durch Armbruste getöteten Menschen wurde ja in den vergangenen Tagen öfter berichtet.
Scheint eine ganz üble Sache zu sein.
Was willst Du machen, wenn das Kind einen starken Willen hat und nur weg will von zu Hause?
Jetzt kann man natürlich viel spekulieren. Eltern als Physiker "zu" rational, Kind sucht das Irrationale etc.
Eigentlich gäbe es ja "traditionelle Formen" um den Wunsch nach Spiritualität auszuleben, aber die sind ja "langweilig".
Spoiler
Ein blau-weißes kleines Haus in einer beschaulichen Straße im Westerwald. Ein ländliches Idyll. Wer eintritt in dieses Haus, trifft Olaf und Julia U., zwei promovierte Physiker. Bis vor wenigen Tagen sagten sie, dass sie drei Kinder haben. Dann standen die Polizisten vor ihrer Tür. Seitdem müssen sie sagen: Wir hatten drei Kinder.
Ihre 19-jährige Tochter Carina wurde mit einer Frau namens Gertrud C. tot in einer Wohnung in Niedersachsen aufgefunden. Die Polizisten entdeckten sie, nachdem drei andere Menschen in einer Pension in Passau gefunden worden waren, getötet von Armbrust-Pfeilen. Ein mysteriöser Fall, der bundesweit Schlagzeilen machte.
Die Eltern ahnen früh: Es ist eine Sekte
Unter den Toten von Passau war ein Mann namens Torsten W., Carina hatte ihn in einem Sportklub kennengelernt. Drei Jahre lang haben die Eltern danach versucht, ihre Tochter vor Torsten W. zu beschützen. Sie haben alarmiert, gewarnt, um Hilfe gebeten. Bereits 2016 haben sie Strafanzeige gegen Torsten W. erstattet. Schon früh formulierten sie das Wort: "Sekte".
Auch deshalb haben sich Carinas Eltern zu diesem Gespräch bereit erklärt. Sie sitzen am Tisch vor einem prall gefüllten Aktenordner. Der Ordner dokumentiert alles, was sie nun berichten wollen. Immer wieder werden sie einzelne Schriftstücke herausnehmen, als müssten sie jedes ihrer Worte beweisen.
MUTTER: Die letzten Jahre waren für uns ein Spießrutenlauf. Seit Carina dem Einfluss von Torsten W. erlegen ist und erwirkt hat, dass sie mit 16 von zu Hause ausziehen durfte, seit sie den Kontakt mit uns und ihrer kompletten Familie abgebrochen hat, ist kein Tag vergangen, an dem wir nicht für unsere Tochter gekämpft haben - und versucht haben, sie zurückzuholen.
VATER: Carina ist mit 19 gestorben, aber genommen hat man sie uns schon mit 16.
Was für ein Mensch war Carina, ehe sie Torsten W. begegnete?
MUTTER: Sie war nie ein lautes Mädchen, eher introvertiert. Aber sie war nicht auffällig oder sozial isoliert. Sie hatte eine beste Freundin und einen ersten festen Freund. Sie war vielseitig interessiert, mochte Geschichte, Griechisch und Altlatein und hat viel gelesen, auch täglich die Zeitung. Sie hat Klavier gespielt, war gut in der Schule, ihr Notendurchschnitt auf dem Gymnasium lag bei 1,3. Sie hat sich auch für Politik interessiert. Als mein Mann und ich uns überlegten, für die Kommunalwahlen anzutreten, hat sie mit uns am Abendbrottisch gesessen, und wir haben zusammen leidenschaftlich Wahlkampfstrategien diskutiert. Das alles änderte sich vor drei Jahren, nachdem Carina in den Sportverein eingetreten war.
Wie kam sie zum Kampfsportklub "Scorpion MMA & Muay Thai, boran" im benachbarten Hachenburg?
MUTTER: Ende 2015 gab es ein Probetraining dieses Klubs bei einem Wandertag ihres Gymnasiums. Es wurde organisiert von ihrem Latein- und Verbindungslehrer und einem ehemaligen Schüler. Auch Carina nahm daran teil.
VATER: Sie machte danach noch ein Probetraining im Klub selbst. Später sagte sie uns dann, sie würde gerne Mitglied werden.
MUTTER: Meine erste Wahl wäre Kampfsport jetzt nicht gewesen, aber wir dachten uns: Gerade für ein junges Mädchen ist Selbstverteidigung bestimmt eine sinnvolle Sache. Also meldeten wir sie Anfang des Jahres 2016 an. Und die ersten drei Monate schien auch alles gut.
Wann wuchs in Ihnen das Gefühl, dass der Klub einen negativen Einfluss auf Ihre Tochter hat?
MUTTER: Es fing langsam an. Sie erzählte immer öfter seltsame Sachen, zum Beispiel, dass Torsten W. blaue Flecken wegmassieren könne. Sie sprach über Aura-Fotografie, das hatte sie auch von Torsten W. Ich fragte sie: Was soll Aura-Fotografie denn bitte sein? Carina erklärte mir, dass man, wenn man einen Menschen nach seinem Tod fotografiere, an einem Lichtschein erkennen könne, woran er gestorben sei. Ich habe meine Tochter nur fassungslos angeguckt. Ich meine, mein Mann und ich, wir sind beide Physiker. Diese Theorie entbehrt jeglicher naturwissenschaftlichen Basis. Ich habe deshalb sarkastisch zu ihr gesagt: Na klasse, dann kann man die komplette Gerichtsmedizin ja abschaffen.
VATER: Carina war immer ein intelligentes Kind. Dass sie solchen Quatsch glaubte, hat uns irritiert. Und dazu kam die Verwandlung ihres Wesens. Sie trug plötzlich ungewöhnlichen Schmuck. Anfangs dachten wir noch: Pubertät. Und vielleicht ein bisschen Fantasykram.
MUTTER: Sie schwärmte von den Leuten im Sportklub, die alle Spitznamen hatten - weshalb wir eine Weile brauchten, um zu durchschauen, wer wer war. Obwohl wir Carina natürlich zum Training brachten und abholten. Beim Training selbst waren wir nicht dabei, das macht man ja nicht bei einer 16-Jährigen, und das hätte sie auch nicht gewollt.
VATER: Heute denke ich mir: Wäre ich doch mit reingegangen.
MUTTER: Der Trainer nannte sich jedenfalls "Klitschko", Torsten W. war "der Psychologe". Carina erzählte immer häufiger von ihnen, man merkte, dass sie von den Leuten fasziniert war.
Worauf fußte diese Faszination?
VATER: Zuerst dachten wir, sie hätte sich vielleicht im Sportklub verliebt. Vor allem, nachdem sie sich ganz plötzlich von ihrem Freund getrennt hatte.
MUTTER: Aber das war es nicht. Heute wissen wir: Torsten W. war ein guter Zuhörer und Manipulator.
Wie kam es dann zur Eskalation?
MUTTER: Nach einer Weile wollte Carina öfter als zweimal die Woche zu dem Klub gehen, was wir nicht erlaubten. Sie hörte dann auf, mit uns und ihren beiden Brüdern zu sprechen, zog sich direkt, wenn sie nach Hause kam, in ihr Zimmer zurück und schloss sich ein. Sie aß nicht mehr mit uns zu Abend und verweigerte sich dem Familienleben. Sie fand alles im Klub toll und alles zu Hause schlecht. Als sie dann krank wurde und trotz Fieber zum Training gehen wollte, haben wir ihr das verboten. Es kam zum Streit.
VATER: Wir hatten aber auch bemerkt, dass sie plötzlich ein teures Handy besaß, das sie nicht von uns hatte. Als wir sie fragten, woher es sei, bekamen wir keine Antwort.
Wie reagierten Sie?
MUTTER: Es gibt bei uns eigentlich eine Familienregel, die besagt, dass man die Privatsphäre der anderen respektiert. Niemand von uns wühlt in den Sachen unserer Kinder - und umgekehrt. Aber damals wussten wir uns nicht mehr anders zu helfen: Ich bat meinen Mann, in Carinas Zimmer zu gehen und nachzugucken.
VATER: Ich fand dort das Ladegerät für das neue Handy. Und ganz viele verschiedene Visitenkarten von Torsten W. Mit unseriösen Aufschriften wie "Camelot" und "Psychologe". Spätestens da war uns klar: Irgendjemand nimmt über den Sportklub negativ Einfluss auf unsere Tochter. Meine Frau und ich beschlossen: Jetzt reicht es.
MUTTER: Wir wandten uns an die Schule.
Weil Carina über ihren Latein-Lehrer in den Klub geraten war?
MUTTER: Ja. Ein Deutschlehrer hatte unsere Tochter außerdem auf einem Tagesausflug angesprochen, weil sie seltsam auf ihn gewirkt hatte. Während alle anderen in Grüppchen unterwegs waren, hatte er Carina immer nur ganz alleine beobachtet. Wir sprachen mit dem Deutschlehrer über ihre Wesensveränderung. Wir sagten auch, dass wir den Klub, in den sie der Lateinlehrer gebracht hatte, zweifelhaft fanden.
Der Lateinlehrer begeht Suizid
Wie war Carinas Reaktion?
MUTTER: Sie fand es furchtbar, dass der Deutschlehrer sich eingemischt hatte, und war sauer, dass wir in ihrem Zimmer waren. Sie sagte: "Was geht euch mein Leben an?" Von ihrem Lateinlehrer bekam sie dann den Tipp, sich ans Jugendamt zu wenden. Die Freundin des Lateinlehrers, die auch Lehrerin an dem Gymnasium war, fuhr sie zu einer Jugendhilfeeinrichtung.
Waren Ihre Streitigkeiten so schlimm?
MUTTER: Nein. Und natürlich wollten wir nicht, dass Carina auszieht. Um Gottes willen! Als uns die Jugendeinrichtung anrief und sagte, Carina sei bei ihnen und wolle nicht mehr bei uns wohnen, waren wir schockiert. Die Betreuerin sagte aber, dass es manchmal helfen könne, wenn Kinder räumlich von ihren Eltern getrennt werden. Und so kam es nach einigem Hin und Her tatsächlich so weit, dass Carina auszog. Allerdings wurde nichts besser. Sie sagte ihren Betreuern, sie wolle nichts mehr mit uns zu tun haben. Wir würden sie kontrollieren und zu Drogentests zwingen.
VATER: Kurz danach, im Juli 2016, brachte sich der Lateinlehrer um. In einem Abschiedsbrief, den er an verschiedene Medien schickte, behauptete er, unsere Anschuldigungen gegen ihn seien mit ein Grund für seinen Suizid. Angeblich hätten wir ihn des sexuellen Missbrauchs bezichtigt.
MUTTER: Was wir nie getan haben.
VATER: Trotzdem gerieten wir ins Kreuzfeuer. Der Sportklub, über den wir uns an der Schule beschwert hatten, veröffentlichte den Abschiedsbrief auf seiner Facebook-Seite. Bis heute liegen am Todestag des Lehrers Zettel vor unserer Tür, auf denen man uns die Schuld gibt. Wir beschlossen, Anzeige zu erstatten gegen Torsten W., und gingen auch juristisch gegen die Verleumdung im Netz vor. Der Sportklub durfte die Anschuldigungen nicht mehr verbreiten - aber da kannte sie ja eh schon das ganze Dorf.
Wie ging Carina damit um?
VATER: Das wissen wir nicht. Wir hätten ihr das alles gerne erklärt. Aber sie weigerte sich, mit uns zu sprechen.
Sie hatten überhaupt keinen Kontakt mehr?
MUTTER: Nein. Seit Juni war sie von zu Hause weg. Im August erstattete sie dann auch eine Strafanzeige - und zwar gegen uns. Wegen häuslicher Gewalt. Als wir die Anzeige sahen, waren wir fassungslos, wir haben Carina nie geschlagen. Der Fall landete vor dem Familiengericht.
VATER: Wir erklärten es uns so, dass sie von irgendjemandem manipuliert wurde. Sie hatte ja dieses Handy, und wir vermuten, dass sie darüber die ganze Zeit über mit Torsten W. in Kontakt war. Wenn Sie mich fragen, hat er unsere Tochter bewusst von uns separiert und gegen uns aufgehetzt.
MUTTER: Am 24. August 2016 hat dann eine gewisse Farina C. gemeinsam mit Carina versucht, uns die elterliche Fürsorge zu entziehen. Und diese per Eilverfahren auf sich selbst übertragen zu lassen. Frau C. hat unsere Tochter dafür zum Amtsgericht nach Westerburg gefahren.
Farina C. gehörte ebenfalls zur Gruppe um Torsten W.; sie ist eine der Toten aus Passau.
MUTTER: Ja. Und nicht nur das: Sie war verheiratet mit Gertrud C., die wiederum die Ex-Frau des Lateinlehrers ist, der sich umgebracht hatte. Uns wurde klar: Die hängen alle miteinander zusammen.
Haben Sie das Jugendamt darüber aufgeklärt?
VATER: Ja. Wir haben eigentlich alle immer wieder über alles aufgeklärt. Wir baten sie, darauf zu achten, dass Carina keinen Kontakt zu Mitgliedern der Sekte und des Sportklubs hat. Aber man sagte uns, man könne ein 16-jähriges Mädchen nicht einsperren.
VATER: Wir hatten keine Möglichkeit mehr, sie zu erreichen. Schauen Sie, hier schreibt uns ihre Betreuerin: eine Mail aus dem Jahr 2017, also ein Jahr später: "Sehr geehrter Herr U., Ihren Wunsch, ein Gespräch mit Carina zu führen, kenne ich und kann ihn auch gut verstehen. Leider lehnt Carina nach wie vor jeden Kontakt zu einem Mitglied der Familie und zu ihrem alten Bekanntenkreis ab." Wir haben immer wieder in ihrer Einrichtung angerufen, an ihrem Geburtstag, zu Weihnachten. Immer wieder hieß es: "Tut uns leid, Ihre Tochter möchte nicht mit Ihnen sprechen." Auch unser Sohn, also ihr Bruder, versuchte es, Carina lehnte ab.
MUTTER: Es war ein Horror. In unserer Verzweiflung und nachdem uns die Polizei mitgeteilt hatte, dass sie nicht gegen Torsten W. ermitteln wird, engagierten wir den Detektiv Rolf Will. Wir baten ihn, für uns zu recherchieren, mit wem Carina in Kontakt stand.
Was fand er heraus?
MUTTER: Carina ging nicht mehr zur Schule. In der Jugendeinrichtung soll sie vor allem Zeit auf ihrem Einzelzimmer verbracht haben, aber wir wissen ja, dass sie das Handy hatte. An ihrem 18. Geburtstag ließ sich Carina von einer Betreuerin zum Bahnhof fahren, dort stieg sie in einen schwarzen Audi A6. Am Steuer saß Torsten W. Sie fuhren bis kurz vor Hamburg, dann verlor Will die beiden. Monatelang gab es keine Spur von ihr. Dann beschattete er das Haus von Torsten W. im Westerwald und machte Fotos. Es dauerte ewig, bis Carina irgendwann gesehen wurde. Mit einem Kehrblech in der Hand säuberte sie den Rinnstein. Ihre schwarzen langen Haare hingen ihr im Gesicht, es war gruselig.
Wann gewannen Sie den Eindruck, dass sich Ihre Tochter in einer Art Sekte befindet?
VATER: Das haben wir bereits 2016 der Polizei, dem Jugendamt und auch der Schule gesagt.
Wissen Sie, welche Rolle Carina in der Gruppe spielte?
MUTTER: Nein. Wir hatten keine Einblicke in das Haus und wissen nicht, was dort geschah. Offenbar lebten Gertrud, Farina und noch eine andere Frau dort mit Torsten W. Sie besaßen wohl zwei Pferde und zwischendurch auch Hunde. Torsten W. verließ das Haus und ging Kaffeetrinken. Carina nicht.
Glauben Sie, dass es eine sexuelle Verbindung zwischen den Frauen und Torsten W. gab?
VATER: Auch das wissen wir nicht. Es sah so aus, als sei es in der Konstellation mehr um Macht und Manipulation gegangen als um Sex. Aber auch einen gewissen Hang zu SM-Praktiken kann man nicht ganz ausschließen. Was wir wissen, ist, dass Torsten W. die Frauen offenbar alles für sich machen ließ. Sie kauften für ihn ein, misteten die Ställe seiner Pferde aus, putzten.
Wie sind Sie damit zurechtgekommen - zu erfahren, dass Ihre Tochter abgeschottet in diesem Haus lebte?
MUTTER: Das war natürlich schrecklich. Aber so seltsam das für jemanden klingen mag, der nicht in unserer Situation war: Jeder Beweis dafür, dass unsere Tochter lebte, machte uns auch glücklich. Selbst wenn es befremdliche Videos waren, in denen Carina ein Schwert schwingt.
Von den Toten in Passau erfahren sie aus der Zeitung
VATER: Kennen Sie eigentlich das Video?
Welches Video?
Olaf U. steht auf und holt seinen Laptop. Er möchte ein Video zeigen, das auf einer Facebookseite aufgetaucht war. Mittlerweile ist es gelöscht, aber die Eltern haben es abgespeichert. Der Vater drückt auf "Start". Es erscheint der Name eines Ladens für Mittelalter-Fans, der zuletzt in den Räumlichkeiten des Sportklubs betrieben wurde, und der Begriff "Team Hawk". Der Laden ist eingetragen auf einen ehemaligen Schüler von Carinas Gymnasium, der dort die Jugendlichen trainierte. Team Hawk nannte sich die Gruppe, die sich um Torsten W. formiert hatte. Denn neben "der Psychologe" hatte W. noch einen weiteren Spitznamen: "Hawk" - der Falke. Das Video selbst ist ein Zusammenschnitt verschiedener Schwarz-Weiß-Fotos. Zu sehen sind vier junge Frauen, unter ihnen auch Carina. Alle tragen schwarze Kutten. Es wird mit Pfeilen gezielt und mit Schwertern gekämpft. Torsten W. ist auch zu sehen, er reitet mit schwarzer Kutte auf einem Friesenhengst.
Obwohl Sie keinen Kontakt mehr zu Carina hatten, gaben Sie nicht auf. Vor wenigen Wochen versuchten Sie noch, den Sportklub schließen zu lassen. Sie nahmen deswegen zunächst Kontakt mit dem Bundesverband des "MMA & Muay Thai" auf und hatten schließlich einen Gesprächstermin beim zuständigen Landesverband. Sie forderten, dass dem Klub die Lizenz aberkannt wird.
VATER: Das ist korrekt. Die Folge war, dass uns zunächst die Reifen zerstochen wurden. Übrigens genau an dem Tag, an dem wir zu dem Landesverband fahren wollten.
MUTTER: Aber wir fuhren trotzdem - mit unserem anderen Wagen.
VATER: Am Gründonnerstag saßen wir dann hier abends auf der Couch und guckten einen "Tatort" aus der Mediathek, als wir draußen ein Geräusch hörten. Ich lief raus und sah Feuer. Jemand hatte versucht, drei Molotowcocktails unter unseren Wagen zu werfen. Ich schaffte es aber, sie auszutreten.
MUTTER: Wir gehen davon aus, dass es jemand aus der Sekte war. Jemand, der wollte, dass wir nicht weiter gegen sie vorgehen.
Was passierte nach den Anschlägen?
MUTTER: Wir informierten die Polizei, die dann auch kam, und erstatteten Anzeige. Aber ein Täter konnte nicht ermittelt werden.
Rund einen Monat später wurden die Toten in Passau gefunden. Wie erfuhren Sie davon, und wann zogen Sie eine Verbindung zu Carina?
VATER: Ich las davon zuerst morgens in der Zeitung. Dort hieß es, der Mann unter den Toten komme aus Rheinland-Pfalz, das Geburtsjahr passte zu Torsten W. Ich sagte zu meiner Frau: Das ist er.
MUTTER: Erst dachte ich, mein Mann spinnt. Vielleicht war das auch Selbstschutz. Als es weitere Informationen gab, wurde mir dann klar, dass er recht hatte. Zum Glück passte das Alter der toten Frauen nicht zu unserer Tochter. Aber wir riefen sofort die Polizei an.
VATER: Es hätte ja sein können, dass Carina irgendwo eingesperrt war. Wir nannten der Polizei die Adresse des Hauses von Torsten W. hier in Borod. Und auch die Adresse im niedersächsischen Wittingen, die wir durch unseren Detektiv kannten. Dann wurde bekannt, dass zwei weitere tote Frauen gefunden worden waren. In Wittingen.
MUTTER: Ich betete: Bitte, bitte, lass es nicht Carina sein.
VATER: Am Montag, meinem Geburtstag, kam die Polizei zu uns und bat um DNA-Proben, damit sie abgleichen konnten, ob es sich bei einer der Toten in Wittingen um Carina handelte.
MUTTER: Einen Tag später riefen sie uns an und sagten, es tue ihnen leid, aber es sei Carina. Da bin ich erst mal zusammengeklappt. Aber wissen Sie, was ich hoffe? Und was mich tröstet, obwohl es eigentlich keinen Trost gibt? Meine einzige Hoffnung ist, dass es Carina da, wo sie jetzt ist, besser geht als in diesem Horrorhaus.
Sie haben Ihre Tochter verloren, Sie haben sie bislang noch nicht einmal beerdigen können. Woher nehmen Sie die Kraft für dieses Gespräch?
Das Treffen mit den Eltern dauert bereits mehrere Stunden. Beide waren bislang gefasst. Aber bei dieser Frage nehmen sich die Eltern bei den Händen. Nach den Antworten, die sie nun geben, haben beide feuchte Augen.
MUTTER: In den vergangenen Jahren haben wir immer wieder gehört, es gebe Dinge, die eben so seien und die nicht aufgeklärt werden könnten. Wir sollten uns damit abfinden. Aber wir haben uns nicht abgefunden. Wir wollten wissen, warum unser Kind nicht mehr bei uns war. Mein Mann und ich, wir haben daraufhin selbst recherchiert und versucht, die Strukturen um Torsten W. ermitteln zu lassen - leider ohne die Hilfe der Polizei. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass es sektenähnliche Strukturen um den Mann herum gibt, und wir haben versucht, unterschiedliche Institutionen zu alarmieren - ohne Erfolg. Am Ende wurden wir von manchen für paranoide Verschwörungstheoretiker gehalten.
VATER: Ich bin auch fest davon überzeugt, dass der Tod unserer Tochter hätte verhindert werden können, dass Carina nicht hätte sterben müssen, wenn man uns ernst genommen hätte. Wenn sich irgendjemand mal in die richtige Richtung bewegt hätte. Wissen Sie, unsere Tochter ist nicht mehr zu retten, aber vielleicht gibt es da draußen ja noch andere 16-jährige Jungen und Mädchen, die in ähnliche Zirkel geraten und die noch zu retten sind.
Sie haben das Kinderzimmer von Carina bis heute nicht ausgeräumt. Hofften Sie, Carina würde irgendwann wieder nach Hause kommen?
MUTTER: Ich habe alles so gelassen, wie es war, als sie gegangen ist. Selbst den Schreibtisch habe ich nicht aufgeräumt. Ich habe die Wäsche auch nicht gewaschen, sondern vakuumdicht eingepackt, damit man Suchhunden etwas zum Schnüffeln geben kann, falls sie irgendwo tot im Wald liegt.
VATER: Ach Julia, was sagst du da? Gesteh dir doch ein, wie es ist.
MUTTER: Du hast ja recht. Ich habe natürlich gehofft, dass sie wiederkommt. Jeden Tag habe ich das.
Die Mutter steht jetzt auf und zeigt das Zimmer von Carina. Ein großer heller Raum im Dachgeschoss mit Blick ins Grüne. Das Bett ist mit Blümchenwäsche bezogen. Im Bücherregal stehen Romane von Tolkien, daneben "Tschick" von Wolfgang Herrndorf. Am Schrank hängen gebügelte Blusen in hellen Farben.
MUTTER: Der Bestatter sagte vorgestern, ich solle Kleidung heraussuchen, in der Carina beerdigt werden kann. Ich werde eine dieser Blusen wählen. Bevor Carina Torsten W. kennenlernte, hat sie eigentlich nie Schwarz getragen. Einmal hatten wir einen Trauerfall in der Familie, da hat Carina zu mir gesagt: Mama, ich finde es schlimm, dass bei Beerdigungen immer alle Schwarz tragen.
Während die Eltern die Bestattung ihrer Tochter vorbereiten, arbeitet der Detektiv, den sie engagiert hatten, weiter an dem Fall. Rolf Will war einer der wenigen außerhalb der Gruppe, die Carina in den vergangenen Monaten lebend gesehen haben. In manchen Nächten habe er von ihr geträumt. Im Nachhinein fragt er sich, ob man radikaler hätte handeln sollen, ob er Carina einfach hätte packen und rausholen sollen aus diesem unheimlichen Haus. Aber das wäre gegen das Gesetz gewesen. Und was, wenn sie am nächsten Tag einfach wieder zu Torsten W. zurückgelaufen wäre?
Olaf und Julia U. sind froh, dass neben Rolf Will endlich auch die Kriminalpolizei ermittelt. Und doch kommt die Erkenntnis, dass sie recht hatten mit ihren Warnungen, für sie und ihre Familie zu spät. Oder wie sie es selbst formulieren: "Dass uns die Menschen jetzt erst ernst nehmen, hat unsere Tochter das Leben gekostet."