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Der Name des Familienvaters: David R. Weshalb das hier seine Geschichte ist. Er ist es, von dem das Landgericht Gera festgestellt hat, dass ihm der Staat Unrecht tat. Weshalb das auch die Geschichte der Staatsanwaltschaft Gera , der Kriminalpolizei Erfurt und des Amtsgerichts Gera ist.
Falscher Verdacht gegen jungen Familienvater
Und vor allem die Geschichte jenes Mannes, der seit Tagen bundesweit im Fokus heftiger Kritik steht: Martin Zschächner, jener Staatsanwalt aus Gera , der auch die Ermittlungen zum Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) angestoßen hatte. Er war es auch, der die Durchsuchungen bei R. ausgelöst hatte.
Es ist etwa ein Jahr her, dass Polizisten am frühen Morgen vor der Wohnungstür von R. und seiner Familie in Erfurt stehen, im März 2018 war das. Einige Wochen zuvor hatte ein Facebook-Post die Aufmerksamkeit von Justiz und Polizei erregt. Der zeigt Fotos von Kurden, die in der Landeshauptstadt demonstrieren und dabei eine Flagge zeigen, die als Symbol einer verbotenen kurdischen Organisation gilt. Ist also auf dieser Demonstration Propaganda für deren Sache gemacht und damit eine Straftat begangen worden? Diese Frage, dieser Verdacht führt die Beamten schließlich zu R.
Denn nicht nur, dass dieser Post bei Facebook aufgetaucht ist, erstellt von einem kurdischen Verein. Vom Facebook-Konto des Stadtverbands Erfurt der linken Jugendorganisation „solid“ wurde der Eintrag in dem sozialen Netzwerk auch noch geteilt. Weshalb die Ermittler dem Verdacht nachgehen wollen, „solid“ könnte sich mit dem Verweis auf diesen Post strafbar gemacht haben.
Bloß: Wie kommen die Ermittler darauf, dass R. irgendetwas mit dem ursprünglichen Post oder dem „solid“-Teilen zu tun haben könnte? Es ist genau dieser Teil der Geschichte, der sich zwar erklären, aber besonders für R. nicht verstehen lässt. Dieser Teil der Geschichte ist ein wesentlicher Grund dafür, dass er sagt: „Natürlich ist mein Vertrauen in diese Ermittlungsbehörden total zerstört.“
Tatsächlich ist R. nach eigenen Angaben weder in dem kurdischen Verein noch bei „solid“ organisiert, aktiv, angebunden, eingegliedert. „Ich war das auch nie“, sagt er. Das, sagt er, habe er sowohl an dem Morgen, als die Polizei vor seiner Tür stand, als auch danach, immer wieder betont, beteuert, gesagt.
Fehler geschah bei einer Internetrecherche
Vielmehr arbeitet R. für die Naturfreundejugend Erfurt , eine der SPD nahestehende Jugendorganisation. Gleichzeitig ist er Vorsitzender des Stadtjugendrings in Erfurt . Die Linksjugend „solid“ ist dort ebenso Mitglied wie die der Stadtverband der CDU-nahen Jungen Union. An diesem Morgen vor mehr als einem Jahr interessiert dies die Ermittler jedoch nicht. Sie sind davon überzeugt, dass R. der Chef des „solid“-Stadtverbandes ist.
Wie es dazu kommen konnte, ist nach dem Aktenstudium von R.s Anwalt, Rasmus Kahlen , und nach der Überzeugung des Landgerichts Gera so banal wie unglaublich. Danach ist den Ermittlern ein folgenschwerer, aber doch sehr einfach zu identifizierender Fehler beim Umgang mit Google unterlaufen: Die Ermittler, sagt Kahlen , hätten im Netz offenbar einfach nach „solid“ in Erfurt gegoogelt – und seien auf die Vorstellung von „solid“ auf der Seite des Stadtjugendrings Erfurt gelandet. „Und dann ist der Fehler passiert, dass man nicht gemerkt hat, dass man auf der Seite des Stadtjugendrings ist und nicht auf der Seite von solid“, sagt Kahlen . „Und dann ist man ins Impressum gegangen.“ Als Vorstand der Stadtjugendrings ist der Name von R. dort mehrfach zu finden.
Und so wird R. für die Ermittler zum „solid“-Chef. Wozu das Landgericht Gera in seinem Beschluss festhält, die Aktenlage habe diesen Verdacht „zu keinem Zeitpunkt“ gestützt.
Begangen, so scheint es, hat ein Beamter bei der Kriminalpolizei Erfurt diesen Fehler. Staatsanwalt Zschächner hat ihn offenbar mindestens nicht bemerkt oder ihn nicht korrigiert, als er den Antrag auf einen Durchsuchungsbeschluss für die Wohnung von R. schrieb. Ebenso wenig, so scheint es, wie der Richter des Amtsgerichts Gera , der dem Antrag Zschächners schließlich stattgab. Rechtsanwalt Kahlen hält besonders Letzteres für ein Unding: „Man kann sich schwerlich vorstellen, dass der Richter die Akte richtig gelesen hat“, sagt er. Und das, wo er doch einen massiven Eingriff der Staatsmacht in das allerpersönlichste Umfeld eines Menschen abgesegnet habe.
R. kann lange darüber reden, wie dramatisch der Eingriff war, den er hinnehmen musste, ohne dass es dafür eine saubere Rechtsgrundlage gab. So habe die Polizeiaktion seine Kinder lange beschäftigt, sagt er. „Die sind jetzt nicht traumatisiert“, sagt R. „Aber vor allem die Große hat sich schon die Frage gestellt, ob ihr Papa ein Dieb ist oder so was. Das ploppt immer mal wieder hoch.“
Und doch ist diese Geschichte hier eben nicht zu Ende. So, wie die Polizeiaktion vom März 2018 nicht beendet ist, nachdem die Polizisten etwa drei Stunden lang die Wohnung von R. durchsucht haben, sich schließlich noch den Keller der Familie und das Auto vornehmen. Mit R. zusammen fahren die Beamten im Anschluss zum „RedRoXX“, einem offenen Jugendbüro in der Erfurter Innenstadt. Dort hat der Stadtverband von „solid“ einerseits sein Hauptquartier.
Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Staatsanwalt
Andererseits unterhält dort unter anderem die Linke-Fraktionsvorsitzende im Thüringer Landtag, Susanne Hennig-Wellsow , ihr Abgeordneten-Büro. Von R. fordern die Polizisten Zugang zu den Räumen. Den er ihnen nicht gewähren kann, weil er nichts mit „solid“ zu tun hat. Was folgt, ist das bereits weit über Thüringen hinaus bekannt gewordene Hin und Her zwischen Polizei, Zschächner, Amtsgericht und Abgeordneten über die Frage, ob die Staatsmacht nun Zutritt zu diesen Räumlichkeiten haben darf. Immerhin unterliegen Abgeordnetenbüros einem besonderen Schutz. Am Ende bewegen sich einzelne Polizisten unter den Augen von Linke-Abgeordneten durch die Räume, werden zwei Screenshots von einem „solid“-Rechner gesichert, der im „RedRoXX“ steht. R. steht nach eigenen Angaben neben diesem Treiben und sieht zu. Mehr kann er hier nicht machen. Dann geht er auf Arbeit.
Allerdings ist diese Geschichte auch hier noch nicht zu Ende. Weder mit dem Ende der Durchsuchungen bei R., noch mit der Durchsuchung im „RedRoXX“. Weil beides Beispiele für den Vorwurf sind, der schon in den vergangenen Monaten gegen Zschächner in Thüringen immer wieder erhoben worden ist – und der seit dem Öffentlich-werden der von ihm angestrengten Ermittlungen gegen das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) auch bundesweit wiederholt wird. Die Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk , die eine Kanzlei in Jena hat und unter anderem auf Strafrecht und Versammlungsrecht spezialisiert ist, fasst ihn so zusammen: „Da wird bei mutmaßlichen Bagatelldelikten von Linken immer wieder ein wahnsinnig hoher Verfolgungsdruck aufgebaut“, sagt sie. „Ein ähnliches Verfolgungsinteresse bei Straftaten von Rechtsextremisten nehme ich nicht wahr.“
Pietrzyk hat in den vergangenen zwei Jahren nach eigenen Angaben zahlreiche Mandanten verteidigt, gegen die die Staatsanwaltschaft Gera vorgegangen war. Dabei vorne dran oft: Zschächner.
Pietrzyk hat unter anderem eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Zschächner eingereicht, nachdem der ein Ermittlungsverfahren wegen des Singens des sogenannten U-Bahn-Liedes in Jena eingestellt hatte. Das war begonnen worden, nachdem mehrere Rechte während einer AfD-Demonstration im September 2017 durch die Stadt gezogen waren und gesungen hatten, sie wollten eine U-Bahn von der seit Langem gegen Rechtsextreme arbeitenden Jungen Gemeinde der Stadt nach Auschwitz bauen.
Pietrzyk sagt, sie habe sich nicht beschwert, weil Zschächner das Verfahren eingestellt habe. Sie habe sich über die Begründung dieser Einstellung beschwert. In seiner Einstellungsverfügung, argumentiert sie, habe er Sätze geschrieben, die der Tragweite der Verbrechen von Auschwitz , des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs nicht angemessen seien. Eine solche „tatsächlich politische Begründung“ stehe „einer Staatsanwaltschaft weder zu, noch steht sie ihr gut zu Gesicht“, sagt Pietrzyk . „Aber wenn ein Staatsanwalt schon solche Sätze über Auschwitz schreibt, dann muss er sich daran auch messen lassen.“
Politisch motivierter Verfolgungsdruck
Bezeichnend dafür, wie die Thüringer Justiz bis hinauf zu Landesjustizminister Dieter Lauinger (Grüne) mit dem Aufschrei gegen Zschächner umgeht, ist, dass bis heute unklar ist, was aus dieser Dienstaufsichtsbeschwerde geworden ist. Von der Generalstaatsanwaltschaft hieß es dazu in der Vergangenheit, zu Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Staatsanwälte gebe man grundsätzlich keine Auskünfte.
Zschächner selbst hat die Vorwürfe gegen die Staatsanwaltschaft Gera , dort gebe es einen ausgeprägten politisch motivierten Verfolgungsdruck gegenüber echten oder mutmaßlichen Linken, in der Vergangenheit zurückgewiesen – in seiner Eigenschaft als Sprecher der Behörde; was er bis vor wenigen Tagen auch war. Bis zu dem Zeitpunkt, als der öffentliche Druck auf Lauinger, etwas wegen der Vorwürfe gegen Zschächner im Zusammenhang mit dem Verfahren gegen das ZPS so groß wurde, dass er ihn zumindest vorläufig von seinen Funktionen als Bearbeiter von Staatsschutzsachen und Behördensprecher abberufen ließ. In einer Pressemitteilung dazu klang das wie in solchen Fällen üblich freilich viel freundlicher.
Die Abberufung sei auf Wunsch Zschächners vorgenommen worden, hieß es da. Die Sätze, die Zschächner schrieb, um sich und seine Behörde gegen die Kritik zu verteidigen, formen dieses Argument: Die Staatsanwaltschaft sei nach dem sogenannten Legalitätsprinzip verpflichtet, gegen alle verfolgbaren Straftaten einzuschreiten. Dabei habe man freilich einen gewissen Ermessensspielraum, wie diese Strafverfolgung zu geschehen habe, wobei insbesondere zu prüfen sei, ob es ein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung gebe. „Das kann regelmäßig – wie so oft unter Juristen – verschieden betrachtet werden, wobei nicht selten die Interessenlage strafverteidigender Rechtsanwälte (...) eine andere ist als die der Strafverfolgungsbehörden.“
Wann wird aus Ignorieren von Fehlern ein System des Wegschauens?
Was alles richtig klingt. Aber nichts daran ändert, dass auch jenseits der Durchsuchungen bei R., jenseits des „RedRoxx“-Verfahrens, jenseits der Einstellungsverfügung zum U-Bahn-Lied und sogar jenseits des Verfahrens gegen das ZPS inzwischen so viele von Zschächner betreute Verfahren mit eigenartigem Ausgang bekannt geworden sind, dass sich die Causa längst so sehr ausgewachsen hat, dass sich inzwischen auch seine Vorgesetzten und Lauinger fragen lassen müssen, warum sie von all dem nichts mitbekommen haben – oder ob sie weggesehen haben, obwohl sie von all dem wussten.
Es war auch Zschächner, der vor einigen Monaten Lothar König – Jenas linkem Stadtjugendpfarrer – den Führerschein weggenehmen wollte, was ebenfalls erst das Landgericht Gera als unverhältnismäßig unterband. Und es war auch Zschächner, der kürzlich deutschlandweit bitterböse Lacher provozierte, weil er das Ermittlungsverfahren gegen einen offenkundig rechtsdenkenden Ostthüringer eingestellt hatte, der unter einen Facebook-Post des Studentenrates der Universität Köln geschrieben hatte: „Fickt euch ...!“ Worin Zschächner jedoch keine justiziable Beleidigung der Studenten durch den Ostthüringer – der seinen Post auch noch mit rechtsextremen Kürzeln wie 88 und HH geschmückt hatte – erkennen wollte. Oder konnte.
Es bleiben zwei Fragen, die über einzelne menschliche Irrtümer und Fehleinschätzungen hinausgehen: Wann wird aus Fehlern ein System? Und: Wann wird aus dem Ignorieren von Fehlern ein System des Wegschauens?
Sebastian Haak / 26.04.19