Reichsbürger in Russland: Die neuen Sowjetbürger
Auch in Russland gibt es sogenannte Reichsbürger. Sie erkennen den russischen Staat nicht an und sind überzeugt, dass die Sowjetunion fortbesteht. Manche dieser "Sowjetbürger" haben sogar einen "Obersten Sowjet" gegründet und "sowjetische Ministerien". Rund 30 Jahre nach ihrem Ende gibt es noch immer eine weitverbreitete Sehnsucht nach der Sowjetunion in Russland.
Zu kräftigen Fanfarenklängen weht die rote Fahne wieder über dem Kreml, zumindest im Youtube-Video, in dem sich Walentina Reunowa zu Wort meldet. Die Moskauer Seniorin nennt sich da Vorsitzende des "Obersten Sowjets der UdSSR", auf ihrem Profil bei Vkontakte, dem russischen Facebook, weist sie sich als ausgebildete Bergbauingenieurin aus. Dem Augenschein nach aus ihrem Wohnzimmer, das in sanften Beige- und Erdtönen gehalten ist, begrüßt sie per Webcam ihre etwa 30.000 Follower:
Guten Tag Genossen, Landsleute, Bürger der Union der sowjetischen Sowjetrepubliken.
Walentina Reunowa, Seniorin
"Meine Adresse hat weder Hausnummer noch Straßennamen, meine Adresse, das ist die Sowjetunion", hieß es in einem populären sowjetischen Schlager aus den 1970er Jahren. Für einige Russen scheint dieser Refrain bis heute zu gelten.
Im Osten Moskaus, in einem mehrgeschossigen Gebäude aus der Stalinzeit, befindet sich eine der Vertretungen dieses selbst ernannten "Obersten Sowjets". Das berichtet die kremlkritische Zeitung Nowaja Gazeta. Wladimir Kladinow, ein hagerer ehemaliger Unternehmer, leitet diese Vertretung – und ist zugleich Vizevorsitzender des "Obersten Sowjets" der neuen "Sowjetunion". Vor gut einem Jahr habe man sich zusammengetan, erzählt der Mann den russischen Reportern. Man wolle "Räte von Volksdeputierten" in der "Russischen Sowjetrepublik" wählen lassen. 70 Prozent der Russen würden dies unterstützen, sagt Kladinow.
"Offiziell" findet man die "neue Sowjetunion" im Internet unter der Adresse "
http://ussr.tech". Gleich neben dem Staatswappen der Sowjetunion heißt es dort, der "Oberste Sowjet" der UdSSR habe seine Arbeit wieder aufgenommen. Es findet sich eine Liste von Stellen, bei denen man wieder einen "sowjetischen Pass" beantragen kann. Aufgeführt sind Ansprechpartner beinahe in ganz Russland, von Kaliningrad im Westen über den Ural bis nach Sibirien. Immer mehr Bürger würden einen sowjetischen Pass beantragen, sagt Kladinow, der "Vize" des "Obersten Sowjets". Die russischen Ausweise seien doch bloß ein "Fetzen Papier", nicht mehr wert als das, was die Nazis in den okkupierten Gebieten seinerzeit ausgestellt hätten.
Auf der Homepage stellt sich außerdem ein "Ministerrat" vor. Das Amt des "Kulturministers der Sowjetunion" beansprucht eine Mittsechzigerin für sich, klassische Sängerin in Pensa, einer Provinzstadt mehr als 500 Kilometer südöstlich von Moskau. Sie nennt Russland eine "Handelsorganisation" und seine Staatslenker "Geschäftsführer". In einem Youtube-Video erklärt eine selbst ernannte "Finanzministerin der UdSSR", alle "Sowjetbürger" seien von Steuern oder Abgaben an die "Firma Russische Föderation" befreit und gibt Tipps, wie man "seine Rechte durchsetzen" soll.
Sogar ein "Kriegstribunal" hat diese "Sowjetunion" – und das hat bereits Urteile gefällt. Eine Todesstrafe wurde zum Beispiel gegen den Präsidenten der "nicht legitimen Ukraine", Petro Poroschenko, in Abwesenheit verhängt. Poroschenko sei verantwortlich für den Umsturz, Krieg und Völkermord in der Ukraine.
Ein Dutzend Organisationen in ganz Russland
In ganz Russland gebe es ein Dutzend solcher Organisationen und Verbände, die die Sowjetunion wiederbeleben wollen, schreibt die Zeitung Nowaja Gazeta. Sie nennen sich "Volksversammlung", "Gewerkschaft der UdSSR" oder "Union der slawischen Kräfte Russlands". Schon 2010 hatte sich der Zahnarzt Sergej Taraskin, der in der Weltfinanzkrise mit der Eröffnung einer eigenen Klinik bei Moskau gescheitert sein soll, zum "Interims-Präsidenten der UdSSR" ernannt. Seine Argumentation: Die Vereinbarung mit der die Präsidenten Russlands, Weißrusslands (amtlich 'Belarus', Anmerkung der Redaktion) und der Ukraine im Dezember 1991 die Auflösung der Sowjetunion beschlossen hätten, sei nicht rechtens und Gorbatschow ein "Deserteur". Er selbst bekleide deshalb vorübergehend das "vakante" Amt des sowjetischen Präsidenten. Im vergangenen Sommer eröffnete der russische Inlandsgeheimdienst FSB ein Strafverfahren in dieser Sache: Wegen des öffentlichen Aufrufens zu extremistischen Handlungen. Taraskins Wohnung wurde durchsucht, berichteten verschiedene russische Medien. Auf YouTube "fungiert" Taraskin dennoch weiter als "Interims-Sowjetpräsident".
Große Sehnsucht der Russen nach der UdSSR
Insgesamt scheint die Sehnsucht der Russen nach der Sowjetunion groß. Rund 30 Jahre nach der Auflösung des kommunistischen Imperiums sagen 66 Prozent, sie bedauerten den Zerfall der UdSSR. Das hat das angesehene Moskauer Meinungsforschungsinstitut Levada-Zentrum Ende vergangenen Jahres in Umfragen festgestellt. So hoch wie jetzt war dieser Wert in den vergangenen zehn Jahren nicht mehr. Die Soziologen des Levda-Zentrums beobachten eine gewisse Sowjet-Nostalgie verstärkt seit 2014, als im Zuge des Ukraine-Konflikts gewohnte sowjetische, antiwestliche Klischees wiederbelebt wurden. Die Sehnsucht nach einer vergangenen, ideologisch klaren und vermeintlich starken Macht sei aber auch Ausdruck einer gesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Krise, in der Russland heute stecke, glauben andere Beobachter.
Revolution und Sowjetunion 2.0?
Die selbsternannten "Sowjetbürger" vom "Obersten Sowjet" um Walentina Reunowa und Wladimir Kladinow wollen die Sowjetunion gemäß der letzten gültigen Verfassung von 1977 wieder auferstehen lassen. Denn die, so argumentieren sie, habe nie jemand außer Kraft gesetzt. Blutvergießen wollen sie dabei vermeiden. Die "Sowjetunion" werde die Leute auch so in Massen anziehen, erzählt der "Oberste Sowjet" den Reportern der Nowaja Gazeta.