Das "Tillessen Urteil" wird von unserer Klientel ja gerne als Begründung für ihr Geschwurbel und besonderen Rechte (welcher Art auch immer) angeführt.
Die Badische Zeitung hat sich heute mal damit befasst.
Spoiler
Als in Freiburg ein rechtsextremer Mörder freigesprochen wurde
Frank Zimmermann
Von Frank Zimmermann
Sa, 05. Januar 2019 um 15:06 Uhr
Freiburg | 3
BZ-Plus 1946 war das Gericht am Holzmarkt Ort eines Justizskandals: Obwohl er die Tat gestanden hatte, wurde der Rechtsextreme Heinrich Tillessen vom Vorwurf des Mordes am Zentrumspolitiker Matthias Erzberger freigesprochen.
Im Gerichtsgebäude am Holzmarkt fiel am 29. November 1946 ein skandalöses, blamables Urteil, das als "Freiburger Fehlurteil" in die deutsche Rechtsgeschichte einging: 25 Jahre nach der Ermordung des Zentrumspolitikers und ehemaligen Finanzministers Matthias Erzberger, Unterzeichner des Waffenstillstandsvertrags am 11. November 1918, stand einer seiner beiden Mörder, der geständige Heinrich Tillessen, vor Gericht – und kam zunächst frei, weil die Richter eine von den Nazis erlassene Amnestieverordnung für rechtsgültig erklärten.
Acht Schüsse auf Matthias Erzberger
Heinrich Tillessen, 1894 in Köln geboren, war im Ersten Weltkrieg Offizier bei der Kaiserlichen Marine. Gemeinsam mit dem ein Jahr älteren Heinrich Schulz besuchte er nach Kriegsende völkisch-nationale Versammlungen und war Mitglied eines rechten Freikorps seines früheren Flottillenchefs Hermann Ehrhardt. 1921 traten Schulz und Tillessen der geheimbündlerischen "Organisation Consul" und dem Germanenorden bei. Durch den ehemaligen Kapitänleutnant Manfred von Killinger erteilte der Orden den beiden den Befehl, Erzberger zu töten. Der Zentrumspolitiker und frühere Reichsfinanzminister war als Urheber einer Friedensresolution im Juli 1917 und als Unterzeichner des Waffenstillstandsvertrags im November 1918 Ziel rechter Hetze und im Januar 1920 schon einmal bei einem Anschlag verletzt worden.
Der 45-jährige Erzberger, seit 1903 Abgeordneter des Reichstags, 1919/20 Reichsfinanzminister und Vizekanzler, hielt sich im August 1921 zur Erholung mit Frau und Tochter im Schwarzwaldort Bad Griesbach auf. Dort besuchte ihn am 26. August sein Parteifreund, der Konstanzer Abgeordnete Carl Diez. Die beiden gingen auf der Landstraße am Bergrücken Kniebis spazieren, als sie von Tillessen und Schulz abgepasst wurden. Erzberger wurde durch acht Schüsse getötet, Diez überlebte verletzt.
Die Täter flüchteten nach München, später nach Österreich und Ungarn, wo sich ihre Wege trennten. Nur von Killinger wurde 1922 der Prozess am Landgericht Offenburg gemacht, allerdings endete dieser mit einem Freispruch. Erst Ende 1932 kam Tillessen, der unter falschem Namen in Spanien gelebt hatte, nach Deutschland zurück in der Erwartung, dass die Nationalsozialisten die Macht übernehmen würden und ihm dies Straffreiheit sichern werde. Und tatsächlich: Keine zwei Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erließ Reichspräsident Paul von Hindenburg eine Straffreiheitsverordnung für rechtsextreme Straftäter.
Am 3. Mai 1945 nahm die amerikanische Militärpolizei ihn in Heidelberg fest. In seiner Vernehmung gestand er von sich aus, Erzberger 1921 getötet zu haben: "Ich sah ihn als den größten Volksschädling an", der nicht geeignet gewesen sei, eine führende Rolle in Deutschland zu spielen. "Wir sahen in Erzberger den Totengräber Deutschlands".
Proteste von Medien, Juristen und Politikern gegen das Urteil
Im April 1946 übernahm die Staatsanwaltschaft Offenburg, in deren Zuständigkeitsbereich das Erzberger-Attentat lag, das Verfahren – im Einvernehmen mit der französischen Militärregierung, wie es in den Ermittlungsakten heißt. Am 13. Mai wurde Tillessen ins Freiburger Gefängnis überstellt, am 26. August Anklage erhoben. Da das Landgericht Offenburg keine geeigneten Räume zur Verfügung hatte, sollte der Prozess im Landgericht Freiburg stattfinden, das sich am Holzmarkt unter einem Dach mit dem Amts- und Oberlandesgericht (OLG) befand.
Nun kam es zu einem Skandal, der national und international für Gesprächsstoff sorgte. Zwar erhob der Freiburger Generalstaatsanwalt Karl Siegfried Bader Anklage wegen Mordes und versuchten Mordes (an Diez), allerdings lehnte es das Offenburger Gericht mit Verweis auf die Amnestie von 1933 ab, die Hauptverhandlung zu eröffnen. Gegen diesen Beschluss legte die Staatsanwaltschaft beim OLG Beschwerde ein: Die Amnestie sei NS-Unrecht und durch die Gesetze des Alliierten Kontrollrats und der Militärregierungen aufgehoben.
Studierende applaudierten Tillessens Anwalt
So kam es am 25. November 1946 in Saal IV des Landgerichts (des heutigen Amtsgerichts, siehe Foto links unten), doch noch zum Prozess. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel berichtete, dass "wenigstens 50 Studierende" im Publikum immer dann applaudiert hätten, wenn Tillessens Anwalt etwas zugunsten seines Mandanten anführte. Der Allgemeine Studentenausschuss missbilligte in einer Erklärung, die im Staatsarchiv Freiburg aufbewahrt wird, "aufs Schärfste" das "ungebührliche Benehmen" (Trampeln) der Studenten, verwahrte sich aber dagegen, deren Haltung auf die gesamte Studentenschaft zu übertragen und ihr "politische Unreife, Faschismus und Militarismus" vorzuwerfen.
Bader forderte in seinem Plädoyer die Todesstrafe, während Tillessens Anwalt Friedrich Drischel mit Verweis auf die Amnestie für seinen Mandanten einen Freispruch verlangte. Der Angeklagte selbst sagte, dass er die Tat zutiefst bereue. In der Akte seines Anwalts wird er wie folgt zitiert: "Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass ich erst dann wieder zu einer restlosen Aussöhnung mit mir selbst gelange, wenn meine Tat gerichtlich abgeurteilt ist und ihre Sühne erfahren hat." Doch folgte das Gericht der Argumentation des Verteidigers und stellte das Verfahren am 29. November 1946 ein. Die Kritik an dieser Entscheidung war immens, das Badener Tagblatt sprach vom "Schandurteil von Freiburg". Auch die weitaus meisten Juristen in der Besatzungszone bedauerten, dass ein deutsches Gericht diese Maßnahme herausgefordert habe, "indem es einen Mörder aufgrund einer Nazi-Klausel straflos ausgehen ließ", schrieb Der Spiegel am 4. Januar 1947. Die Badische Verfassunggebende und Landesversammlung protestierte in einer Resolution.
"Nun kam es zu einem der aufsehenerregendsten Ereignisse in der badischen Justizgeschichte der Nachkriegszeit", wie der langjährige Baden-Badener Staatsanwalt Reiner Haehling von Lanzenauer in einem 2008 publizierten Vortrag schildert: Die französische Militärregierung intervenierte, indem sie den freigesprochenen Tillessen gleich wieder verhaftete, den Vorsitzenden Richter Rudolf Göring abberief und das Verfahren an das Tribunal Général, das höchste französische Gericht in der Besatzungszone, übergab. Dieses war per Militärgesetz legitimiert, das Verfahren an sich zu ziehen. Das Tribunal hob das Urteil am 6. Januar 1947 auf und verwies das Verfahren zur erneuten Verhandlung an das Landgericht Konstanz, welches Tillessen im Februar 1947 wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit in Tateinheit mit Mord zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilte. Mit dem Urteil habe die junge deutsche Nachkriegsjustiz den politischen Mord als verbrecherisches Kampfmittel gebrandmarkt und ein rechtspolitisches Zeichen gesetzt, so Ankläger Bader.
Schon 1952 kam Tillessen frei
Doch der nächste Skandal folgte: Der Verurteilte kam schon im Mai 1952 frei. Und auch Mittäter Heinrich Schulz, im Juli 1950 wegen Totschlags zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, kam bereits Ende 1952 auf Bewährung frei. Für den amtierenden Präsidenten des Freiburger Amtsgerichts, Thomas Kummle, war der Tillessen-Prozess "ein Knackpunkt, wie man mit Unrecht umgeht", und ein Präzedenzfall. Kummle hat, auch auf Basis der Dissertation "Der Fall des Erzberger-Mörders Heinrich Tillessen" von Cord Gebhardt, recherchiert und plant, dem Tillessen-Prozess im Flur des Amtsgerichts eine Ausstellungsfläche zu widmen.