In NRW übt man sich im Zählen.
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23. August 2018 | 22:15 Uhr
Lagebild der Polizei für NRW
Über 50, männlich, Reichsbürger
Der durchschnittliche Reichsbürger wohnt außerhalb von Großstädten und ist zwischen 50 und 60 Jahre alt. Ein Lagebild der Polizei gewährt Einblicke in die Welt von Menschen, die mitten unter uns leben, aber den Staat ablehnen. Von Christian Schwerdtfeger
Sie lehnen die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ab. Und sie gelten als gefährlich. Seit vielen Jahren leben Reichsbürger und Selbstverwalter weitgehend unbehelligt in Deutschland und viele in NRW. Erst seit Ende 2016 werden sie von den Sicherheitsbehörden flächendeckend ins Visier genommen. Unsere Redaktion hat Einsicht in eines der bislang wenigen vertraulichen polizeilichen Lagebilder über die Szene in NRW erhalten.
Hintergrund Wirklich in den Fokus der Sicherheitsbehörden sind Reichsbürger erst im Spätsommer und Herbst 2016 geraten. Zunächst hatte in Reuden (Sachsen-Anhalt) ein ehemaliger Schönheitskönig auf Polizisten geschossen. Diese waren wegen einer Zwangsräumung zum Haus des Ex-„Mr.-Germany“ gekommen. Es stellte sich heraus, dass er Reichsbürger ist. Vier Polizisten wurden dabei verletzt. Und im Oktober 2016 wurde ein Polizist in Georgensmünd von einem Reichsbürger erschossen. Im darauffolgenden November erklärte das Bundesamt für Verfassungsschutz die Gruppierungen zum Sammelbeobachtungsobjekt. „Erst nach diesen Vorfällen haben wir damit begonnen, sie genauer unter die Lupe zu nehmen und unter Druck zu setzen“, erklärt ein Polizist, der sich in der Szene auskennt. Erst seit einem Jahr gibt es bei der Polizei ein Handlungskonzept zur Überprüfung von Hinweisen auf diese Gruppierungen, um diesem Phänomen, wie es in dem Bericht heißt, nachhaltig entgegenzuwirken. Aber bereits seit dem 24. November 2016 müssen Kommunen verdächtige Personen an das Innenministerium melden.
Allgemeine Lage Bundesweit gibt es mehr als 18.000 Reichsbürger, von denen mindestens 950 als rechtsextrem eingestuft werden. Das Landeskriminalamt in NRW führt 2916 Personen, bei denen nicht auszuschließen ist, dass sie Reichsbürger oder Selbstverwalter sind. Davon verfügen 2370 über eine Anschrift oder einen Aufenthaltsort in NRW. Oder sie hatten in NRW ihren letzten bekannten Wohnsitz. Davon sind etwa 100 Rechtsextremisten. Zu Beginn der polizeilichen Analyse vor zwei Jahren zählte man in Nordrhein-Westfalen 300 Reichsbürger. Und seitdem ist immer wieder zu lesen, dass es stetig mehr werden. „Dem ist aber nicht so. Wir entdecken nur mehr, weil die Kommunen uns vermehrt Reichsbürger melden. Sie sind aber zu mindestens 90 Prozent immer schon dagewesen“, erklärt der szenekundige Beamte.
Altersstruktur 75 Prozent aller Reichsbürger und Selbstverwalter sind männlich. 33 Prozent sind zwischen 50 und 60 Jahre alt, 22 Prozent zwischen 40 und 50 und 7,5 Prozent älter als 70. Immerhin zwei Prozent sind Jugendliche.
Polizeibekannt Von rund 26 Prozent der Reichsbürger in NRW liegen der Polizei Erkenntnisse vor – etwa dass sie gewalttätig, bewaffnet oder rechtsmotiviert sind.
Regionale Schwerpunkte Die Szene der Reichsbürger und Selbstverwalter konzentriert sich in NRW vor allem auf drei Regionen, in denen überproportional viele zu finden sind. Laut Polizei sind sie vor allem in suburbanen Gegenden anzutreffen. Eine Ausnahme bildet da die Stadt Köln, wo ein Schwerpunkt der Szene liegt. Zudem sind sie stark vertreten im Oberbergischen Kreis, in Soest, in Löhne, in Herford, in Rinteln und neuerdings auch rund um Euskirchen, wo offenbar eine signifikante Anzahl an Verdachtsfällen im Verhältnis zu den Einwohnern besteht.
Abhören Typisch ist das Aufzeichnen von Gesprächen mit Behördenvertretern und in Gerichtsverhandlungen. Dazu verwenden sie nicht nur Handys oder Kameras, sondern spezielle USB-Sticks, die nicht als Aufzeichnungsgeräte zu erkennen sind. Einige Reichsbürger setzen die Aufnahmen dann ausschnittweise ins Internet, um damit ihre Thesen zu bestätigen.
Malta-Masche Behördenvertreter werden von Reichsbürgern mit einer frei erfundenen Schadensersatzforderung eingeschüchtert, der sogenannten Malta-Masche. Dabei werden gegen die Beamten horrende finanzielle Forderungen geltend gemacht. Die Forderungen werden zunächst im UCC-Register, einem Schuldnerregister in den USA, angemeldet. Dafür bedarf es keinen Nachweis. So eine Forderung wird dann an Inkassounternehmen auf Malta abgetreten, die damit vollstreckbare Titel vor maltesischen Gerichten erwirken, sollte sich der Betroffene nicht vor Ort juristisch wehren. Solche Fälle seien für die Betroffenen sehr belastend, heißt es beim Verfassungsschutz. Dem Auswärtigen Amt ist die Masche bestens bekannt. Das nordrhein-westfälische Innenministerium bietet Hilfestellung für Geschädigte.
Polizeieinsätze 2018 (Auswahl) 1. Die Polizei findet bei einem deutschen Ehepaar in Münster 93 Waffen und rund 200 Kilogramm Munition. Es wird der Reichsbürger-Szene zugeordnet. 2. Bei der Vollstreckung eines Haftbefehls bei einem Reichsbürger in Niederkrüchten leistet dieser Widerstand. Ein Polizist wird leicht verletzt. 3. Bei der Durchsuchung einer Werkstatt eines bekannten Reichsbürgers in Kaarst werden Kurz- und Langwaffen sowie Munition beschlagnahmt. 4. Ein bekannter Reichsbürger verletzt zwei Polizisten in Bottrop.
Gefährdungsbewertung Die Sicherheitsbehörden können eine allgemeingültig ausgehende Gefährlichkeit von Reichsbürgern und Selbstverwaltern nur bedingt bewerten, weil die Szene über eine große Bandbreite an Denk- und Handlungsweisen verfüge. Aber einige Teile der Szene würden sich nicht mehr nur damit begnügen, ihre „mitunter schwer nachvollziehbaren Ideologien für sich auszuleben“, sondern seien längst dazu übergegangen, auch Straftaten zu begehen, einschließlich Tötungsdelikten. Insgesamt werden Selbstverwalter gefährlicher eingeschätzt als Reichsbürger.
Forderung der Polizei Michael Mertens, Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), fordert ein generelles Waffenverbot für alle Reichsbürger und Selbstverwalter. „Wer den deutschen Rechtsstaat ablehnt wie diese Gruppierungen, darf keine Waffe besitzen“, sagt Mertens. „Die Reichsbürger sind alles andere als harmlos. Sie haben teilweise extreme Gedanken – und leben diese auch aus.“ Erich Rettinghaus, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), spricht sich ebenfalls für ein Waffenverbot aus. „Insgesamt sind wir als Polizei aber auf einem guten Weg, die Szene immer mehr in den Griff zu bekommen. Wir wissen durch gezieltes Vorgehen zunehmend mehr über die Gruppierungen.“ Bislang sind der Polizei in Nordrhein-Westfalen 115 Reichsbürger und Selbstverwalter bekannt, die im Verdacht stehen, in Besitz von Waffen zu sein. In 59 Fällen wurde ein Widerrufsverfahren eingeleitet.