Sebastian Leber hat diesmal einen Artikel bei der Sächsischen unterbringen können:
Spoiler
Heike Werding, 60-jährige Anführerin der Gruppe und selbsternannte „Generalbevollmächtigte der Geeinten deutschen Völker und Stämme“.
Von Sebastian Leber
Es sollte endlich ein harter Schlag gegen die Reichsbürgerszene sein. An einem frühen Donnerstagmorgen im März vorigen Jahres durchsuchten 400 Beamte in zehn Bundesländern die Wohnungen von fast zwei Dutzend mutmaßlichen Mitgliedern der Gruppe „Geeinte deutsche Völker und Stämme“.
Sie fanden Schrotflinten, Armbrüste, Macheten und ein japanisches Samuraischwert. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) teilte am selben Tag mit, er habe die betreffende Reichsbürgergruppe nun verboten und aufgelöst. Diese habe „rassistische und antisemitische Schriften verbreitet und damit unsere freiheitliche Gesellschaft systematisch vergiftet“. Ihre Zwecke und Tätigkeiten richteten sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung. Mit dem Durchgreifen gegen die Gruppe sei erstmals eine Reichsbürgervereinigung verboten worden.
14 Monate später sind die „Geeinten deutschen Völker und Stämme“ weiterhin aktiv. Ihre Strukturen sind intakt, es gibt eine offizielle Homepage mit Seminarangeboten für 500 Euro, ihrem Logo und dem Slogan: „Holen wir uns unser Land zurück.“ Die Mitglieder der Gruppe tun so, als ob es das Verbot nie gegeben hätte. Im Gegenteil: Sie verhöhnen die Polizei und gehen davon aus, dass ihre Machtübernahme nun unmittelbar bevorsteht.
Heike Werding, die 60-jährige Anführerin der Gruppe und selbsternannte „Generalbevollmächtigte der Geeinten deutschen Völker und Stämme“, warnt: Jeder, der sich für den Fortbestand der Bundesrepublik einsetze, mache sich strafbar – und habe sich dafür zu gegebener Zeit zu verantworten.
Man muss sich das vorstellen. Eine Reichsbürger-Gruppe wird verboten, und die Reichsbürger machen einfach weiter, ohne dass sie jemand daran hindert. Wie kann das sein? Und ist der Rechtsstaat tatsächlich so hilflos?
Die Gruppe wird von Berlin aus gesteuert
Auf Anfrage des Berliner Tagesspiegel erklärt das Bundesinnenministerium, die Fortsetzung der Aktivitäten sei dem Ministerium bekannt. „Die entsprechenden Informationen“, so ein Sprecher, „wurden und werden mit den für die Strafverfolgung zuständigen Bundesländern geteilt.“
Die Gruppierung „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ agiert bundesweit, wird jedoch aus Berlin gesteuert. Laut Verfassungsschutz glauben ihre Mitglieder, die Bundesrepublik Deutschland sei „kein Staat, sondern eine Art wirtschaftliche Unternehmung“. Deshalb wollten sie ein „eigenes staatliches System errichten und eine eigene gesellschaftliche Ordnung etablieren.“ Weiterhin habe die Gruppe bis zu ihrem Verbot „in großer Regelmäßigkeit gegen geltende Gesetze“ verstoßen.
Bei der Razzia im März 2020 in Berlin-Lichterfelde.
Deutschlandweit zählt der Verfassungsschutz mittlerweile 20 000 Reichsbürger, 1000 mehr als im Jahr zuvor. Rund 670 von ihnen leben in Berlin – von denen wiederum aber nur 150 als rechtsextremistisch eingestuft werden. Bei vielen Gruppen lässt sich schwer einschätzen, ob von ihnen eine reale Gefahr ausgeht.
Einerseits klingen manche Aktivitäten der „Geeinten deutschen Völker und Stämme“ unfreiwillig komisch, weil größenwahnsinnig, etwa das Schreiben an Angela Merkel, in dem die Gruppe ihr ein „Zutritts- und Tätigkeitsverbot in den Gebäuden des Deutschen Bundestags“ erteilt. Oder den Befehl, die Kanzlerin müsse umgehend das „Unternehmen Bundesrepublik mit allen Filial- und Tochterunternehmen“ schließen.
Das könnte man belächeln.
Andererseits sind viele Inhalte offen antisemitisch: Mitglieder der Gruppe behaupten, Deutschland werde seit Ewigkeiten von Juden und deren Helfern unterdrückt. Das 1871 gegründete Deutsche Reich sei ein Staat „von Juden für Juden“ gewesen, die Flagge eine „Judenflagge“. Juden seien eine eigene Rasse mit eigenem Körperbau, Adolf Hitler sei der Enkel des jüdischen Bankiers Nathan Mayer Rothschild gewesen. Angela Merkel halten sie für eine Jüdin. Helmut Kohl, Christoph Kolumbus, Recep Erdogan? Alles Juden.
Wie der Bundesinnenminister vorging
Das Verbot hat Horst Seehofer auf Grundlage des Vereinsrechts verfügt. Danach kann eine Gruppierung aufgelöst werden, sofern sie verfassungsfeindlich handelt. Ähnlich hatte der Innenminister bereits zwei Monate zuvor, im Januar 2020, argumentiert, als er das Neonazi-Netzwerk „Combat 18“ verbot, später im Jahr folgten die rechtsextremen Vereinigungen „Nordadler“ und „Sturmbrigade 44“. Auch mehrere islamistische Gruppen wurden in den vergangenen anderthalb Jahren verboten.
In Sicherheitskreisen gilt das Vereinsverbot als bewährtes, effektives Mittel. Nach Inkrafttreten ist jede weitere Vereinstätigkeit strafbar, denn die Fortführung einer für verfassungswidrig erklärten Vereinigung gilt nach Paragraf 85 des Strafgesetzbuchs als „Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot“. Rädelsführern und Hintermännern droht eine Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, schon der Versuch ist strafbar.
Betroffene Gruppen nehmen ihr Verbot in den allermeisten Fällen ernst. Manche lösen sich komplett auf, zum Beispiel die rockerähnliche Gruppierung „Osmanen Germania“, die Seehofer im Sommer 2018 verbot. Andere existieren klandestin weiter, setzen aber alles daran, öffentlich nicht mehr in Erscheinung zu treten.
Die Gruppe verspottet den Rechtsstaat
Nicht so die „Geeinten deutschen Völker und Stämme“. Da sie den Gerichten der Bundesrepublik sowieso die Legitimation absprechen, bleiben sie gelassen – und verspotten den Rechtsstaat: Wer an einem deutschen Gericht Urteile fälle, sei bloß Söldner einer Firma.
Heike Werding, die Chefin der Gruppe, hat in bester Reichsbürgerlogik ihre ganz eigene Sicht auf Seehofers Verbotsverfügung und die dadurch erfolgten Durchsuchungen. Auf ihrem Telegram-Kanal schreibt sie ihren 6000 Followern, sie sei 2020 „überfallen worden von Mitarbeitern der Firma Bundesministerium des Innern“. Im Grunde seien sie und ihre Mitstreiter „beraubt worden, ohne beteiligt zu sein“.
Werding beschwert sich darüber, dass sie keine Möglichkeit bekam, eine Beschwerde gegen die Maßnahmen einzureichen. Außerdem sei ihre Gruppe überhaupt kein Verein, könne also auch nicht mit Verweis auf das Vereinsgesetz aufgelöst werden.
Dies ist allerdings unwahr. Das Bundesinnenministerium erklärt, das Verbot der Gruppe sei seit April 2020 bestandskräftig: „Die Vereinigung ist damit unanfechtbar verboten.“
Amtsanmaßung an einem Briefkasten der Gruppe
Amtsanmaßung an einem Briefkasten der Gruppe © dpa
Bereits ein halbes Jahr vor Seehofers Verbotsverfügung hatte es eine bundesweite Razzia bei Mitgliedern der Gruppe gegeben. Der Hauptvorwurf lautete damals: Bildung einer kriminellen Vereinigung. Mitgliedern wurden etliche Sachbeschädigungen, versuchte Nötigungen, versuchte Erpressungen und Freiheitsberaubungen angelastet. Zudem hatten einige mutmaßlich versucht, den Brandenburger Justizminister unter Druck zu setzen und so den damals inhaftierten Holocaust-Leugner Horst Mahler aus dem Gefängnis freizupressen.
Heike Werding, die „Generalbevollmächtigte“, gilt als unumstrittener Kopf der Gruppe. Sie zog im November 2016 nach Berlin, lebte zuvor im Landkreis Osnabrück. Im Rathaus ihrer Heimatstadt Melle erinnert man sich noch an die Flut von Briefen, die Werding damals bereits schrieb. In manchen gab sie ihren Namen als „lebendige Heike, Weib aus der Familie Werding“ an.
Immer noch kein Prozess gegen Heike Werding
Obwohl in Berlin seit spätestens 2019 gegen Heike Werding ermittelt wird, gibt es bis heute keinen Prozess. Bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Berlin heißt es auf Tagesspiegel-Anfrage, die Ermittlungen dauerten „noch an, ohne dass eine zeitliche Prognose zum Verfahrensabschluss gegeben werden kann“.
An fehlenden Beweismitteln kann das bisherige Ausbleiben eines Prozesses kaum liegen: Allein im Berliner Stadtteil Lichterfelde trugen Ermittler bei der Razzia im März 2020 kistenweise Dokumente aus einem Haus in guter Wohnlage. Dort lebte ein älteres Ehepaar, das selbst Mitglied der Reichsbürgertruppe war – gleichzeitig befand sich hier der Sitz des selbst ernannten „Höchsten Gerichts“ der Vereinigung. Um die Urteile zu vollstrecken, wurden selbst ernannte „Gerichtsvollzieher“ durch die Stadt geschickt. Sie führten Koffer mit Handschellen bei sich.
Zudem hatte die Gruppe konkrete Pläne entworfen und schriftlich festgehalten, was nach dem angestrebten Systemwechsel geschehen solle: Alle Entscheidungsträger der Bundesrepublik, darunter Politiker, Spitzenbeamte, Richter und Unternehmenschefs, sollten für fünf Jahre inhaftiert werden. Sämtliche Schulen sollten für mindestens ein Jahr geschlossen werden, damit neue Lehrer eingearbeitet und alternative Lehrpläne erstellt werden könnten. Weiter heißt es: „Ausländer, Flüchtlinge, also nicht Heimische, werden in ihre Heimatländer geleitet.“ Gefängnisinsassen sollten künftig nur noch „rohe und unbehandelte Lebensmittel“ erhalten.
Aktuell bietet die Gruppe auf ihrer Homepage ein Tagesseminar namens „Meine Heimat“ an. Gegen eine Teilnehmergebühr von 500 Euro würden dort wichtige Rechtsgrundlagen vermittelt, heißt es.
Angeblich haben sie schon 250 Gemeinden „aktiviert“
Nach eigenen Angaben hat die Gruppe bereits 250 Gemeinden in Deutschland „in das höchste Recht der Menschen erhoben“ – jede Woche kämen, auch nach dem Einschreiten Seehofers, weitere hinzu.
Für den Berliner SPD-Innenexperten Tom Schreiber besteht dringender Handlungsbedarf. Das Bundesinnenministerium müsse unverzüglich aktiv werden. „Das scharfe Schwert eines bundesweiten Vereinsverbots darf nicht stumpf werden“, sagt Schreiber. „Die zuständigen Behörden haben die Aufgabe und Pflicht, solche Entwicklungen proaktiv zu beobachten und rechtsstaatlich einzuschreiten.“ Darüber hinaus existiere eine offene Flanke bei der Präventionsarbeit in Bezug auf die Reichsbürgerszene. „Auch hier gibt es bundesweiten Handlungsbedarf, damit solche Netzwerke nachhaltig gestört werden.“
Aus der Senatsverwaltung für Inneres heißt es, die fortgesetzten Aktivitäten der Gruppe seien dem Staatsschutz des Landeskriminalamts „grundsätzlich bekannt“ und hätten „im Zusammenhang mit Fortführungshandlungen“ bereits zur Einleitung von neun weiteren Ermittlungsverfahren geführt, unter anderem wegen Verstoßes gegen das Vereinigungsverbot, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Amtsanmaßung. Die Verfahren seien mittlerweile an die Staatsanwaltschaft abgegeben worden.
Laut Verfassungsschutz hat die Szene der Reichsbürger im vergangenen Jahr stark von den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen profitiert. Der Anschluss an diese Bewegung habe ihnen „einen erheblichen Schub“ gegeben. Auch die „Geeinten deutschen Völker und Stämme“ haben sich in der Pandemie als Corona-Leugner und Impfgegner hervorgetan. Chefin Heike Werding behauptet, es sei schon in den 1970er Jahren ein Nobelpreis für den Nachweis verliehen worden, dass „Viren und Bakterien keine Krankheiten übertragen“. Bei der Impfung gegen Corona werde den Menschen in Wahrheit Tier-DNA in den Körper gespritzt, um ihre Intelligenz zu mindern.
Auch an der gescheiterten Reichstagsstürmung im August 2020 waren Reichsbürger beteiligt.
Auch an der gescheiterten Reichstagsstürmung im August 2020 waren Reichsbürger beteiligt. © dpa
Auch jenseits von Corona verbreitet Heike Werding auf Telegram bizarre Verschwörungsmythen. Zum Beispiel das unter Rechtsextremen populäre Märchen von Neuschwabenland: Demnach habe Adolf Hitler im Zweiten Weltkrieg drei Millionen arische Kinder und Jugendliche mit U-Booten an eine Küstenregion in der Antarktis – das sogenannte „Neuschwabenland“ – gebracht. Die Nachfahren dieser Menschen bräuchten nun Unterstützung, um nach Deutschland zurückkehren zu können.
Ein Treffen mit den „Landesherren“
Vor ein paar Wochen haben sich die wichtigsten Anführer der „Geeinten deutschen Völker und Stämme“ getroffen, es gibt davon ein Video im Internet. Neben Anführerin Heike Werding waren auch einige selbst ernannte „Landesherren“ anwesend, etwa Johanna R., die „Landesherrin von Sachsen“, sowie Gundula B., die sich als Landesherrin eines Teils von Thüringen sieht. Sie sprachen unter anderem über einen bevorstehenden Systemsturz, in dem die Bundesrepublik Deutschland endlich abgeschafft werde.
Heike Werding behauptet, inzwischen hätten sich auch Rechtsanwälte auf ihre Seite geschlagen. Tatsächlich hat das Fantasiegericht der Gruppe einer Berliner Sozietät mit sechs Anwälten eine „Zulassung“ ausgestellt. Demnach seien die Anwälte der „Sozietät Dr. Wonneberger“ berechtigt, „amtliche Dokumente zu beglaubigen“. Weiterhin könnten sie „Zulassungen für Wachmänner, Vollzugsstellen und Lehreinrichtungen begleiten“. Das Anwaltsteam wirbt auf seiner Homepage damit, es könne auch „Zulassungen für Anwälte, Notare, Ärzte, Hebammen“ ausstellen.
Die Berliner Rechtsanwaltskammer warnt vor den selbst ernannten „Rechtsanwälten“. Diese verfügten über gar keine anwaltliche Zulassung im Bundesgebiet. Selbstverständlich habe die „Sozietät Dr. Wonneberger“ auch kein Recht zur Verleihung von Rechtsanwaltstiteln, entsprechende entgeltliche Angebote stellten einen Betrugsversuch dar.
Den „Geeinten deutschen Völkern und Stämmen“ ist auch dies egal. Aktuell hat die Gruppe die „Anwälte“ aus Berlin damit beauftragt, sämtliche Mitglieder des Bundesrats „privat vollumfänglich zu enteignen“.
Auf Anfrage des Tagesspiegels, ob sich Heike Werding bewusst sei, dass sie mit der Fortführung ihrer Reichsbürger-Aktivitäten eine Straftat begehe und ob sie dafür mit einer Strafe rechne, schickt die 60-Jährige ein zweiseitiges, verwirrendes Antwortschreiben. Werding erklärt darin, der Tagesspiegel habe „von dem Obligationshandel mit Personen/Sachen der Bundesrepublik Deutschland keine Ahnung“. Zudem verweist sie auf „Freimaurer-Organisationen des Osmanischen Herrschaftskomplexes“ sowie einen geheimen Plan böser Mächte, „den IQ auf 90 zu senken und die Weltbevölkerung mit künstlich erzeugten Krankheiten und Biowaffen“ auf ein Minimum zu reduzieren.
Die eigentlichen Fragen beantwortet Heike Werding nicht.