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DEUTSCHLAND ERINNERUNGSKULTUR
Von AfD-Politikern behaupteter „Schuldkult“ nicht belegbar
Von Sabine Menkens | Stand: 19:16 Uhr | Lesedauer: 4 Minuten
Eine Umfrage zeigt: Die Deutschen empfinden eine moralische Verantwortung für ihre Geschichte und sind zugleich stolz auf ihr Land. Die Untersuchung weist aber auch auf trügerische Erinnerungen an die Nazizeit hin.
Es gehört zu den wichtigsten Behauptungen von AfD-Rechtsauslegern wie Jens Maier oder Björn Höcke, mit dem „Schuldkult“ um die NS-Vergangenheit Deutschlands und der „dämlichen Bewältigungspolitik“ müsse jetzt endlich mal Schluss sein. Doch gibt es wirklich so etwas? Fühlen sich die Deutschen tatsächlich bevormundet von einer staatlich verordneten Erinnerungskultur an den Holocaust?
Daran sind nach einer neuen Studie der Universität Bielefeld im Auftrag der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) deutliche Zweifel angebracht. Nur rund jeder Zehnte gab bei der repräsentativen Umfrage an, sich persönlich schuldig zu fühlen für die Gräuel des Holocausts, gut drei Viertel der Befragten lehnten dies ab. Das Gerede von einem Schuldkult sei deshalb schlicht „Nonsens“, sagte EVZ-Vorstandschef Andreas Eberhardt. „Die Menschen fühlen sich verantwortlich, aber nicht schuldig für den Umgang mit ihrer Geschichte.“
Für diese These spricht, dass in der Umfrage rund 68 Prozent der insgesamt 1016 Befragten der Aussage zustimmten, dass Deutschland wegen der Zeit des Nationalsozialismus eine besondere moralische Verantwortung hat. 64 Prozent betrachten die Nazizeit als „Teil der deutschen Identität“.
Dies führt aber offenbar nicht dazu, dass der Stolz auf das eigene Land geschmälert wird. Für 63 Prozent ist das Deutschsein ein „wichtiger Teil meiner Identität“, 53 Prozent fordern ein, „endlich wieder stolz sein“ zu dürfen, deutsch zu sein. Einen Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit lehnt eine Mehrheit von 54 Prozent ab, immerhin 24 Prozent sprachen sich allerdings dafür aus.
Insgesamt zeigten die Befragten durchweg Interesse an der Geschichte des eigenen Landes. 32,5 Prozent interessieren sich stark dafür, 27,7 Prozent sogar sehr stark. Das wichtigste Ereignis des 20. Jahrhundert ist für die meisten die Wiedervereinigung (39 Prozent) und der Zweite Weltkrieg (37 Prozent).
Vor allem den Schulen messen die Deutschen eine hohe Verantwortung bei der Vermittlung historischer Inhalte zu. Im Geschichtsunterricht könne man lernen, welchen Schaden Rassismus anrichten kann (sehr wichtig: 78,9 Prozent) und wie zu verhindern ist, dass der Nationalsozialismus zurückkommt (84,3 Prozent). Die Sorge darum ist durchaus vorhanden: Knapp die Hälfte (47,2 Prozent) der Bevölkerung ist besorgt beziehungsweise sehr besorgt, dass sich so etwas wie der Holocaust wiederholen könnte.
Neben der Schule nimmt dabei das Internet der Untersuchung zufolge eine immer größere Bedeutung als Informationsquelle ein. Allerdings wird die Online-Recherche gleichzeitig als wenig nachhaltig empfunden. Am prägendsten sind für die meisten Deutschen Besuche von Mahnmalen und Gedenkstätten und vor allem Gespräche mit Zeitzeugen – eine Informationsquelle, die für die junge Generation allerdings langsam versiegt.
Zunehmend verklärter Blick auf die eigene Familie
Entsprechend verklärt sich über die Jahre auch der Blick auf die Vergangenheit der eigenen Familie. So berichten zwar 54 Prozent, die eigenen Vorfahren seien unter den Opfern des Zweiten Weltkriegs gewesen. Aber nur 18 Prozent gaben an, dass in der eigenen Familie auch Täter gewesen seien. Genauso viele zeigten sich vielmehr überzeugt, dass die eigenen Vorfahren während der Nazizeit potenziellen Opfern geholfen haben – zum Beispiel Juden versteckt. Eine Zahl, die historischen Erkenntnissen deutlich zuwiderläuft.
Je jünger die Befragten waren, desto unsicherer waren sie zudem über die Rolle der eigenen Familie, der Anteil der „Weiß nicht“-Angaben stieg entsprechend an. In 37,4 Prozent der Familie wird nur selten, in weiteren 33,3 Prozent nur „gelegentlich“ über den Zweiten Weltkrieg gesprochen. „Die Erinnerungskultur verliert langsam ihre Zuverlässigkeit und Vertrauenswürdigkeit. Sie wird trügerischer“, bilanzierte Andreas Zick, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld.
Die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft will diesem Trend entgegenwirken und eine „lebendige Erinnerungskultur“ mit innovativen Formen und frischen Ansätzen entwickeln, wie Vorstandsmitglied Andreas Eberhardt versprach. Für ihn sei der spannendste Aspekt der Studie der Wandel der Perspektive, sagte er: „In der Wahrnehmung der Menschen werden wir langsam vom Volk der Täter zu einem Volk der Helfer und Opfer.“
Auch deshalb präsentierte die Stiftung die Umfrage am 13. Februar, dem Jahrestag der Zerstörung Dresdens, der seit Jahrzehnten ideologisch genutzt wird – erst von der DDR-Propaganda, dann von Neonazis. „Weder sind alle Dresdner Täter gewesen. Noch waren es alles Unschuldige, die in unserer Stadt gelebt haben“, sagte Oberbürgermeister Dirk Hilpert (FDP) am Dienstag bei einer Kranzniederlegung an der Gedenkstätte für die Opfer der Bombardierungen auf dem Alten Annenfriedhof. Hilpert fügte hinzu: „Auch diesen Zwiespalt muss die Stadt im Gedenken thematisieren.“
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